Anfragebeantwortung zum Irak: Einrichtungen (privat oder staatlich), die minderjährige Kinder aufnehmen; Versorgungslage von Kindern, die nicht mehr durch ihre Eltern versorgt werden können [a-10573]

25. Mai 2018

Das vorliegende Dokument beruht auf einer zeitlich begrenzten Recherche in öffentlich zugänglichen Dokumenten, die ACCORD derzeit zur Verfügung stehen sowie gegebenenfalls auf Expertenauskünften, und wurde in Übereinstimmung mit den Standards von ACCORD und den Common EU Guidelines for processing Country of Origin Information (COI) erstellt.

Diese Antwort stellt keine Meinung zum Inhalt eines Ansuchens um Asyl oder anderen internationalen Schutz dar. Alle Übersetzungen stellen Arbeitsübersetzungen dar, für die keine Gewähr übernommen werden kann.

Wir empfehlen, die verwendeten Materialien im Original durchzusehen. Originaldokumente, die nicht kostenfrei oder online abrufbar sind, können bei ACCORD eingesehen oder angefordert werden.

 

In dem 2017 erschienenen Sammelband „Parental Care and the best Interests of the Child in Muslim Countries“ zum Thema Obsorge der Eltern in muslimischen Ländern wird im Kapitel zum Irak erklärt, dass laut dem irakischen Personenstandsgesetz die Mutter das primäre Anrecht auf die Obsorge habe, gefolgt vom Vater. Im Falle der Unfähigkeit beider Eltern, die Obsorge zu gewährleisten, könne das Gericht diese auf eine dritte Person übertragen. Wenn es keine Drittperson gebe, werde das Kind in einem vom Staat betriebenen Kinderheim untergebracht:

„One can infer from Article 57 paras 4,5,7 and 8 Personal Status Code the following order of custody: (i) The mother has the priority in keeping the child until the age of ten; (ii) after that age, custody devolves to the father until the age of 15; (iii) maternal custody may, however, be prolonged until 15 years at the latest, if it is in the best interests of the child: (iv) after the age of 15, the child may choose his custodian (father, mother or one of his relatives) until his majority (18 years); and finally (v) at any time, the court may grant custody to a third person in case of incapacity of the parents. In other words, the mother enjoys priority, second is the father, followed by a third person chosen by the court (without preference for the maternal line). […] The judge may award custody of one child or the children to a third person when the situation so warrants. In the absence of a qualified person, the child will be placed in a children’s home run by the state.” (Al-Dabbagh, 2017, S. 91)

Das US-Außenministerium (US Department of State, USDOS) erwähnt in seinem Bericht zur religiösen Freiheit vom August 2017 (Berichtszeitraum: 2016), dass die irakische Verfassung dem Bürger erlaube, sich in Bezug auf Obsorge auszusuchen, ob man vor ein ziviles Gericht oder ein religiöses Gericht ziehe:

„The constitution guarantees citizens the right to choose which court (civil or religious) will adjudicate matters of personal status, including marriage, divorce, child custody, inheritance, endowments, and other personal matters.“ (USDOS, 15. August 2017)

Der UNO-Ausschuss für die Rechte des Kindes veröffentlicht im Jänner 2015 eine Zusammenfassung der Fragen der Experten des Ausschusses an die irakische Delegation sowie deren Antworten zur Lage von Kindern im Land. Die irakische Delegation habe angegeben, dass es vom Staat finanzierte Unterkünfte gebe, in denen Kinder untergebracht würden, die von ihren Eltern getrennt seien, darunter Kinder mit inhaftierten Eltern sowie Kinder unbekannter Eltern. Diese Heime würden Freizeitaktivitäten, Bildung und Gesundheitsversorgung bieten. Solche Einrichtungen gebe es in vielen Teilen des Landes. Ein Delegierter habe erklärt, dass ein 2013 verabschiedetes Gesetz zum sozialen Schutz Kindern bessere soziale Unterstützung und Dienstleistungen zukommen lasse. Kinder seien oft aufgrund von familiären Problemen an Einrichtungen alternativer Fürsorge („alternative care“) verwiesen worden. Sozialarbeiter hätten sich sehr darum bemüht, Kinder wieder in ihre Familien zu integrieren. Einige Kinder seien im Jahr 2014 von Pflegefamilien aufgenommen worden:

„On alternative care, State-sponsored shelters and homes allowed for hosting children separated from their parents, including children with parents in detention and children of unknown parentage. These homes provided children with leisure activities, education and healthcare, and emphasized support to victims and rehabilitation of children and adolescents. These institutions were present in many parts of the territory.” (CRC, 22. Jänner 2015, S. 6)

„On alternative care, a delegate explained that the Law on Social Protection, adopted in 2013, provided for better social welfare and services for children. The admission of children to institutions was often due to family problems. Social workers did their utmost to reintegrate children with their families. Several children were accepted in foster families the year before.“ (CRC, 22. Jänner 2015, S. 8)

Es konnten keine weiteren Informationen speziell zu den oben erwähnten staatlichen Einrichtungen alternativer Fürsorge für Kinder gefunden werden. Die folgenden Artikel berichten jedoch über staatliche Waisenhäuser, die auch Kinder zerrütteter Familien beziehungsweise Kinder aufnehmen würden, die keine elterliche Fürsorge erhalten würden:

 

Die sich selbst als unabhängige Nachrichtenagentur beschreibende irakische Website Yaqein berichtet im März 2018 über die Lage in Waisenhäusern im Irak. Laut Angaben des stellvertretenden Leiters der Abteilung für Personen mit besonderen Bedürfnissen im Ministerium für Arbeit und Soziale Angelegenheiten, Amir al-Musawi, gebe es im Irak nur wenige Waisenhäuser. In diesen staatlichen Einrichtungen seien die Kinder zudem Gewalt ausgesetzt. Im Irak gebe es insgesamt nur 23 Waisenhäuser, davon vier in Bagdad und 19 in den anderen Provinzen, dazu einige in der Autonomen Region Kurdistan. In der Provinz Al‑Anbar gebe es keine solche Einrichtung. Laut Daten des Statistikamtes des Planungsministeriums von 2016 gebe es im Irak 600.000 Waisen, wobei bei dieser Angabe keine Daten zu den Provinzen Al-Anbar und Ninawa einbezogen worden seien. Amir al-Musawi zufolge seien in den vorhandenen staatlichen Einrichtungen 462 Waisenkinder von 0 bis 18 Jahren untergebracht und das Ministerium habe keine finanziellen Ressourcen, weitere Waisen aufzunehmen oder neue Einrichtungen zu eröffnen. Die staatlichen Heime würden Kinder aufnehmen, die einen Elternteil verloren hätten und bei denen der andere Elternteil nicht für die Versorgung aufkommen könne, zudem Kinder aus zerrütteten Familienverhältnissen sowie Kinder geschiedener, inhaftierter sowie unbekannter Eltern.

Der Sozialforscher Hussain al-Tai habe gegenüber Yaqein angegeben, dass die Anzahl der Waisenhäuser und die verfügbaren Plätze darin überhaupt nicht den eigentlichen Bedarf bei einer Anzahl von mehr als einer halben Million Waisenkindern abdecken würden. In den Einrichtungen, die es nur in den Städten gebe, mangele es an vielen Aspekten der sozialen Fürsorge und der psychologischen Betreuung, darüber hinaus gebe es Berichte über schlechte Behandlung. Dabei ginge es nicht nur um das Versäumnis des Staates, die entsprechenden Dienste zur Verfügung zu stellen, es gebe auch Fälle von Menschenrechtsverletzungen, darunter Prostitution und Menschenhandel. Hussein al-Tai, der in Basra lebe, habe berichtet, dass die Art der Verstöße vom Alter der Waisen abhänge, so komme es zu Fällen sexueller Ausbeutung bis hin zur Rekrutierung in bewaffnete Gruppen. Die schwersten Verstöße gebe es in Basra und in den südlichen Provinzen allgemein, darunter insbesondere innerhalb der Altersgruppe bis zu zehn Jahren.

Auch in Waisenhäusern in Bagdad komme es zu Verstößen, so Mahdiya Ahmed, eine ehemalige Mitarbeiterin in einem staatlichen Waisenhaus für Burschen. An ihrer ehemaligen Arbeitsstelle seien die Burschen körperlich angegriffen und mit Stöcken geschlagen worden. 2014 habe es einen Vorfall gegeben, bei dem ein siebenjähriger Bursche von einem Mitarbeiter mit einem Metallteil verprügelt worden sei, wobei er sich einen Arm und ein Bein gebrochen habe. Das Kind sei daraufhin ins Krankenhaus gebracht worden. Die Ermittlungen gegen den Mitarbeiter seien bald eingestellt worden und er sei an einen anderen Posten im Ministerium für Arbeit und Soziales versetzt worden. Während ihrer sechsjährigen Tätigkeit in der Einrichtung sei Mahdiya Zeugin von physischer Gewalt, jedoch nicht von sexueller Gewalt geworden. (Yaqein, 6. März 2018)

 

The New Arab (Al Araby Al Jadeed), ein 2014 in London gegründetes Medienunternehmen, berichtet in einem Artikel auf seiner Nachrichtenwebseite vom April 2017, dass es laut einer Quelle in der zuständigen Abteilung des Ministeriums für Arbeit und soziale Angelegenheiten in Bagdad und den umliegenden Gegenden bis zu einer halben Million Waisenkinder im Alter von 0 bis 16 Jahren gebe, die beim Ministerium und bei zivilgesellschaftlichen Organisationen registriert seien. Trotz der großen Anzahl von Waisenkindern verfüge Bagdad nur über vier Einrichtungen, die größte Einrichtung habe um die 50 Kinder aufgenommen. Dieser Umstand habe zivilgesellschaftliche Organisationen dazu gebracht, eine Anzahl von Zentren zu gründen, um Kinder von der Straße zu holen und sie vor Angriffen sowie Kinderarbeit zu schützen. Der Leiter einer solchen zivilgesellschaftlichen Organisation in Bagdad habe berichtet, dass die meisten der betroffenen Kinder keine Unterstützungsleistungen vom Staat bekommen würden und der Staat nichts gegen die Ausbeutung der Kinder tue. Kinder würden unter anderem Opfer von Banden, die sie zum Betteln zwingen würden, sie müssten körperlich schwere Arbeit verrichten oder würden körperlich angegriffen. Die staatlichen Waisenhäuser seien mit vielen Vorwürfen konfrontiert, darunter die Weitergabe von Kindern an Bettelnetzwerke sowie sexuelle Ausbeutung. Ein Parlamentsabgeordneter habe das Problem geschildert, dass Kinder mit 18 Jahren ohne Geld und Aussicht auf einen Wohnsitz die staatlichen Unterbringungen verlassen müssten, worauf sie dann oft in bewaffnete Gruppen oder kriminelle Banden rekrutiert würden, von denen es gerade in Bagdad viele gebe. Manche Mitarbeiter in den staatlichen Einrichtungen würden in dieser Hinsicht Kinder quasi an Banden vermitteln. (Al-Araby Al-Jadeed, 5. April 2017)

 

Al-Araby Al-Jadeed berichtet in einem weiteren Artikel vom März 2016, dass das Ministerium für Arbeit und soziale Angelegenheiten zivilgesellschaftlichen Organisationen erlaubt habe, Unterbringungen für Waisen und obdachlose Kinder zu eröffnen. Dies sei laut Angaben des Ministeriums geschehen, um die Last, die auf dem Staat liege, zu erleichtern und Waisen sowie Kindern, die keine elterliche Fürsorge erhalten würden, Unterstützungsmöglichkeiten zukommen zu lassen. Laut Regierungsangaben liege die Zahl der Waisenkinder, die in staatlichen Einrichtungen untergebracht seien, bei höchstens 700. (Al-Araby Al-Jadeed, 17. März 2016)

 

Weiter Informationen zu Waisen- und Straßenkindern finden sich in folgender Anfragebeantwortung vom Dezember 2015:

·      ACCORD – Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation: Anfragebeantwortung zum Irak: Lage von Waisenkindern (u.a.: Gibt es Auffangstrukturen?); Lage von Straßenkindern [a-9430-5 (9434)], 14. Dezember 2015
https://www.ecoi.net/de/dokument/1084472.html

 

image001.gif 

 

Quellen: (Zugriff auf alle Quellen am 25. Mai 2018)

·      ACCORD – Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation: Anfragebeantwortung zum Irak: Lage von Waisenkindern (u.a.: Gibt es Auffangstrukturen?); Lage von Straßenkindern [a-9430-5 (9434)], 14. Dezember 2015
https://www.ecoi.net/de/dokument/1084472.html

·      Al-Araby Al-Jadeed: al-ciraq yasmah li-l-mujtamac al-madani bi-insha’ dur ricayat al-‘aytam [Irak erlaubt der Zivilgesellschaft Eröffnung von Waisenhäusern], 17. März 2016 https://www.alaraby.co.uk/society/2016/3/17/%D8%A7%D9%84%D8%B9%D8%B1%D8%A7%D9%82-%D9%8A%D8%B3%D9%85%D8%AD-%D9%84%D9%84%D9%85%D8%AC%D8%AA%D9%85%D8%B9-%D8%A7%D9%84%D9%85%D8%AF%D9%86%D9%8A-%D8%A8%D8%A5%D9%86%D8%B4%D8%A7%D8%A1-%D8%AF%D9%88%D8%B1-%D8%B1%D8%B9%D8%A7%D9%8A%D8%A9-%D8%A7%D9%84%D8%A3%D9%8A%D8%AA%D8%A7%D9%85

·      Al-Araby Al-Jadeed: nisf malyoun yatim bila ricaya fi baghdad [eine halbe Million Waisenkinder ohne Fürsorge in Bagdad], 5. April 2017
https://www.alaraby.co.uk/society/2017/4/5/%D9%86%D8%B5%D9%81-%D9%85%D9%84%D9%8A%D9%88%D9%86-%D9%8A%D8%AA%D9%8A%D9%85-%D8%A8%D9%84%D8%A7-%D8%B1%D8%B9%D8%A7%D9%8A%D8%A9-%D9%81%D9%8A-%D8%A8%D8%BA%D8%AF%D8%A7%D8%AF

·      Al-Dabbagh, Harith: Iraq. In: Parental Care and the best Interests of the Child in Muslim Countries (Hg: Yassari, Nadjma; Möller, Lena-Maria und Gallala-Arndt, Imen), 2017, S. 81-120 (Auszüge verfügbar über Google Books)
https://books.google.at/books?id=4YxtDgAAQBAJ&pg=PA81&lpg=PA81&dq=iraq+taking+child+custody+from+parents&source=bl&ots=2XJUI7YNTU&sig=0EwFb3wyTNkC0kqGX3Jf_OaIYsA&hl=de&sa=X&ved=2ahUKEwjG4bX56J3bAhUF3iwKHYBfDNYQ6AEwCXoECAEQbQ#v=onepage&q=iraq%20taking%20child%20custody%20from%20parents&f=false

·      CRC - UN Committee on the Rights of the Child: Committee on Rights of Child examines reports of Iraq under Convention, on children in armed conflict and sale of children, 22. Jänner 2015
https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/Committee%20on%20Rights%20of%20Child%20examines%20reports%20of%20Iraq%20under%20Convention.pdf

·      USDOS – US Department of State: 2016 Report on International Religious Freedom - Iraq, 15. August 2017
https://www.ecoi.net/de/dokument/1408145.html

·      Yaqein: dur al-aytam fi-l-ciraq…intihakat jasima wa ihmal hukumi [Waisenhäuser im Irak…Schwerwiegende Verstöße und Vernachlässigung durch den Staat], 6. März 2018
http://yaqein.net/investigations/93750