Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Hungary

Die systematische Unterdrückung der Rechte von Flüchtlingen und Migranten bestand 2017 fort. Neue gesetzliche Bestimmungen führten zu Einschränkungen des Handlungsspielraums von auslandsfinanzierten Universitäten und NGOs.

HINTERGRUND

Die zunehmende Einschränkung der Menschenrechte und die Nichteinhaltung des EU-Rechts führten in Ungarn zu Protesten gegen die Regierung sowie zu verstärkter internationaler Kontrolle. Nachdem Ungarn gesetzliche Bestimmungen eingeführt hatte, die als unvereinbar mit den Grundrechten der EU erachtet werden, beschloss die Europäische Kommission, vier formale Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten und voranzutreiben. Im Mai 2017 nahm das Europäische Parlament eine fraktionsübergreifende Entschließung an, mit der größte Besorgnis über die Menschenrechtssituation in Ungarn zum Ausdruck gebracht wurde. Mehr als ein Viertel der Bevölkerung war weiterhin dem Risiko von Armut und sozialer Ausgrenzung ausgesetzt, und 16 % der Menschen in Ungarn litten unter erheblichen materiellen Entbehrungen.

FLÜCHTLINGE UND ASYLSUCHENDE

Ungarn schränkte den Zugang zum Land für Flüchtlinge und Asylsuchende weiterhin in starkem Maße ein, indem es die Aufnahme in seinen beiden im Grenzgebiet eingerichteten "Transitzonen" limitierte. Pro Werktag konnten dort nur zehn neue Asylgesuche eingereicht werden. Die Einschränkung hatte zur Folge, dass zwischen 6000 und 8000 Personen unter unangemessenen Bedingungen in unzureichenden Lagern in Serbien verblieben und den Risiken von Heimatlosigkeit und der Abschiebung in die weiter südlich gelegenen Länder Mazedonien und Bulgarien ausgesetzt waren.

Im März 2017 entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) im Verfahren Ilias und Ahmed gegen Ungarn, dass die Zwangsunterbringung von Asylsuchenden in streng bewachten Containerlagern in "Transitzonen" an Ungarns Außengrenzen de facto einem willkürlichen Freiheitsentzug gleichkomme.

Darüber hinaus stellte der EGMR fest, dass Ungarn den Asylsuchenden keinen angemessenen Schutz vor der konkreten Gefahr unmenschlicher und erniedrigender Behandlung geboten habe, weil sie unter unzumutbaren Bedingungen wochenlang festgehalten wurden und keinen Zugang zu Rechtsbehelfen gegen diese Form der Inhaftierung erhielten.

Im selben Monat verabschiedete die Nationalversammlung ein Maßnahmenpaket zur Änderung von fünf Migrations- und Asylgesetzen, womit die automatische Festnahme aller Asylsuchenden in grenznahen "Transitzonen" ohne richterliche Überprüfung ermöglicht wurde. Davon betroffen sind auch unbegleitete Minderjährige zwischen 14 und 18 Jahren. Diese Änderungen sehen zudem die Inhaftierung Asylsuchender für die gesamte Dauer ihres Asylverfahrens vor, auch wenn Rechtsmittel eingelegt wurden. Darüber hinaus ermöglichen sie die summarische Ausweisung aller auf ungarischem Territorium ohne gültige Papiere aufgegriffenen Migranten auf die Außenseite der ausgedehnten ungarischen Grenzzäune.

In der Folge entzogen sich die meisten Asylsuchenden in Ungarn dem Verfahren oder wurden in den grenznahen "Transitzonen" auf unbestimmte Zeit inhaftiert. Gegen Jahresende befanden sich an der Grenze fast 500 Asylsuchende rechtswidrig in Haft. Die ungarischen Behörden erlaubten Menschenrechtsbeobachtern und NGOs, die Rechtshilfe anboten, entweder keinen oder nur einen stark eingeschränkten Zugang. Diese drakonischen Maßnahmen sollten ursprünglich nur im Falle eines "Notstands wegen Masseneinwanderung" gelten. Der "Notstand" war jedoch seit September 2015 fortlaufend ausgerufen worden und wurde im August 2017 bis März 2018 verlängert, obwohl es weder eine faktengestützte noch eine rechtliche Basis dafür gab.

Ungarn setzte den Ausbau seiner Grenzzäune fort und verstärkte die Polizeipräsenz an seiner Südgrenze noch weiter. Mehr als 20000 Personen wurden summarisch und in manchen Fällen gewaltsam nach Serbien zurückgeschickt oder auf andere Art daran gehindert, nach Ungarn einzureisen, ohne dass sie Zugang zu fairen und effizienten Asylverfahren erhielten und ihre Schutzbedürfnisse geprüft wurden. Im März 2017 deckte die Zeitung Magyar Nemzet auf, dass entgegen anderslautenden Erklärungen der Regierung mehr als 40 Ermittlungen eingeleitet worden waren, die sich mit Vorfällen exzessiver Gewaltanwendung durch die Polizei an der Grenze während eines Zeitraums von 18 Monaten befassten. Die meisten Ermittlungen wurden jedoch ohne weitere Maßnahmen eingestellt.

Im September 2017 verlor Ungarn ein Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof, dem obersten rechtsprechenden Organ der Europäischen Union. Das Gericht stellte fest, dass Ungarn sich nicht selbst von der Verpflichtung freistellen könne, am EU-Notfallmechanismus zur Umverteilung von Flüchtlingen aus Griechenland und Italien in andere EU-Mitgliedstaaten teilzunehmen. Ungarn lehnte es jedoch weiterhin ab, auch nur einen der ihm als Mindestquote zugewiesenen 1294 Asylsuchenden aufzunehmen oder sich an einem anderen regionalen Solidaritätsmechanismus zu beteiligen. Bis zum Jahresende hatte Ungarn keinen Flüchtling im Rahmen der Umverteilungs- und Neuansiedlungsregelungen aufgenommen.

RECHT AUF VEREINIGUNGSFREIHEIT

Im April 2017 riefen die in einem Eilverfahren angenommenen Änderungen des Nationalen Hochschulgesetzes massive Proteste und Kritik akademischer Experten sowie der breiten Öffentlichkeit hervor. Mit dem geänderten Gesetz, dessen Bestimmungen nach vorherrschender Ansicht weitgehend auf die Aktivitäten eines bestimmten Bildungsinstituts, die Zentraleuropäische Universität (Central European University – CEU), zugeschnitten sind, wurden neue, unter extremem Zeitdruck zu erfüllende Anforderungen an die in Ungarn tätigen ausländischen Universitäten gestellt, u. a. der Abschluss bilateraler Regierungsverträge. Die Auflagen gefährden die Weiterführung der Arbeit dieser Institutionen. Noch im selben Monat ging die EU-Kommission gegen Ungarn rechtlich vor, indem sie ein Vertragsverletzungsverfahren einleitete. Nach Ansicht der EU-Kommission verstößt das Gesetz in mehrfacher Hinsicht gegen die Grundfreiheiten der EU – so z. B. die Freiheit des Dienstleistungsverkehrs, die Niederlassungsfreiheit und die akademische Freiheit. Im Oktober 2017 beschloss die ungarische Nationalversammlung, den Termin, bis zu dem die neuen Anforderungen erfüllt sein müssen, um ein Kalenderjahr zu verschieben. Am Jahresende hatte die Regierung noch kein Abkommen mit dem US-Bundesstaat New York abgeschlossen, durch das die Fortsetzung der Tätigkeit der CEU gewährleistet wäre.

Im Juni 2017 verabschiedete die Nationalversammlung ein Gesetz, das sich gegen NGOs richtet, die finanzielle Mittel aus dem Ausland erhalten. Gemäß dem "Gesetz über die Transparenz von aus dem Ausland finanzierten Organisationen" müssen sich NGOs, die jährlich mehr als 24000 € auf direktem oder indirektem Wege aus dem Ausland erhalten, als "auslandsfinanzierte zivilgesellschaftliche Organisation" neu registrieren lassen und diese Bezeichnung in sämtlichen Veröffentlichungen angeben. Außerdem verlangt das Gesetz von NGOs die Offenlegung der Identität ihrer Geldgeber und Unterstützer ab einer Grenze von etwa 1650 €. Das Gesetz wurde im Zuge einer von der Regierung unterstützten Informationskampagne verabschiedet, die NGOs diskreditierte und mehrere NGOs bezichtigte, die nationale Souveränität und Sicherheit zu untergraben. Da das Gesetz nur für bestimmte Arten zivilgesellschaftlicher Organisationen gilt, diskriminiert es diese und schränkt ihr Recht auf Vereinigungsfreiheit ein, einschließlich des Rechts, finanzielle Mittel einzuwerben, zu erhalten und zu verwenden. Mitte Juli 2017 unterrichtete die Europäische Kommission Ungarn über die Einleitung eines weiteren Vertragsverletzungsverfahrens, das auf der Einschätzung beruht, dass das Gesetz Vorschriften enthält, die dem Recht auf Vereinigungsfreiheit entgegenstehen. Außerdem sehe es ungerechtfertigte und unangemessene Beschränkungen des freien Kapitalverkehrs vor. Die Kommission äußerte darüber hinaus Besorgnis hinsichtlich der Einhaltung der rechtlichen Verpflichtung zum Schutz der Privatsphäre und personenbezogener Daten.

Im August 2017 reichte ein Zusammenschluss von mehr als 20 NGOs eine Klage beim Verfassungsgericht ein, mit der die Aufhebung des Gesetzes gefordert wurde.

ANTITERRORMAßNAHMEN UND SICHERHEIT

Im Juni 2017 hob ein Berufungsgericht der im Süden des Landes gelegenen Stadt Szeged ein gegen den Syrer Ahmed H. erlassenes Urteil auf. Wegen mutmaßlicher "terroristischer Handlungen" war er zu zehn Jahren Haft verurteilt worden. Er soll sich im September 2015 an Ausschreitungen von Flüchtlingen und Migranten an der serbisch-ungarischen Grenze beteiligt haben. In dem Berufungsverfahren hatte das Gericht festgestellt, dass die vorliegenden Beweise nicht ordnungsgemäß geprüft worden seien, und ein neues Verfahren angeordnet. Im August 2017 legte der Generalstaatsanwalt gegen diese Entscheidung bei der Curia (der höchsten Gerichtsinstanz in Ungarn) Rechtsmittel ein. Im November 2017 urteilte die Curia, dass das Berufungsgericht ein rechtskräftiges Urteil hätte aussprechen müssen, anstatt den Fall an ein Gericht der ersten Instanz zurückzuverweisen. Diese Entscheidung hatte jedoch keinen Einfluss auf das laufende Verfahren. Der an ein neu besetztes Gericht der ersten Instanz zurückverwiesene Fall von Ahmed H. war am Jahresende noch anhängig.

GEWALT GEGEN FRAUEN UND MÄDCHEN

Im Oktober 2017 lösten Missbrauchsanschuldigungen gegen Männer in Machtpositionen eine landesweite Debatte über die Anerkennung von Vergewaltigung und anderen Formen sexualisierter Gewalt als Straftat und die Verfolgung dieser Verbrechen aus. Bisher hat Ungarn das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt noch nicht ratifiziert. Derartige Verbrechen wurden auch weiterhin nur selten strafrechtlich verfolgt.

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