Anfragebeantwortung zum Irak: Lage der JesidInnen, insbesondere in der Provinz Ninawa [a-10353]

2. Oktober 2017

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Wir empfehlen, die verwendeten Materialien im Original durchzusehen. Originaldokumente, die nicht kostenfrei oder online abrufbar sind, können bei ACCORD eingesehen oder angefordert werden.

 

Informationen zu diesem Thema finden sich auch in folgender Anfragebeantwortung vom Februar 2017:

 

·      ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation: Anfragebeantwortung zum Irak: Siedlungsgebiete und Lage der JesidInnen [a-10009], 2. Februar 2017 (verfügbar auf ecoi.net)
http://www.ecoi.net/local_link/336256/478869_de.html

 

Raseef 22, eine in Beirut ansässige Onlinemedienplattform, die sich selbst als eine Seite beschreibt, die vom Arabischen Frühling inspiriert wurde und versucht, durch für arabische Länder relevante Nachrichten eine kulturelle Lücke in der arabischen Medienlandschaft zu füllen, veröffentlicht im Mai 2016 einen Artikel zur Geschichte und zur derzeitigen Lage der jesidischen Gemeinschaft im Irak. Der Artikel erwähnt, dass laut Angaben des religiösen Oberhauptes der JesidInnen, Baba Scheich, die Anzahl der JesidInnen im Irak vor dem Angriff des IS bei 700.000 gelegen habe. Diese Anzahl sei allerdings geschätzt, da es seit mehr als zwei Jahrzehnten keine offiziellen Zählungen mehr gegeben habe. Vormals hätten JesidInnen in den Distrikten Sindschar, Scheichan, Talkif und in der Gegend der Stadt Baaschiqa (alle in der Provinz Ninawa), sowie in den beiden Distrikten Samil (Semile) und Sacho (Zakho) in der Provinz Dohuk gelebt. Aufgrund der Fluchtbewegungen, so Baba Scheich, seien JesidInnen nun allerdings in verschiedenen Städten und Orten der Autonomen Region Kurdistan verstreut, die meisten von ihnen würden in Flüchtlingslagern leben. (Raseef 22, 7. Mai 2016)

 

Das US-amerikanische Außenministerium (US Department of State, USDOS) schreibt in seinem Bericht zur Religionsfreiheit vom August 2017 (Beobachtungszeitraum 2016), dass einige jesidische und christliche Gemeinschaftsführer über Schikanen und Misshandlungen vonseiten der Militär- und Sicherheitskräfte der kurdischen Regionalregierung (Peschmerga und Asayisch) berichtet hätten. Diese Vorfälle hätten sich im dem Teil der Provinz Ninawa ereignet, der von der kurdischen Regionalregierung kontrolliert beziehungsweise von ihr als auch von der irakischen Zentralregierung beansprucht werde. Binnenvertriebene bestimmter religiöser Minderheiten hätten erzählt, dass sie am Zurückkehren in ihre Häuser gehindert worden seien, nachdem ihre Wohnorte von der Gruppe Islamischer Staat (IS) befreit worden seien. Laut jesidischen Gruppen würden im Distrikt Sindschar die Präsenz bewaffneter Verbündeter der Kurdischen Arbeiterpartei PKK sowie die von der kurdischen Regionalregierung umgesetzten Sicherheitseinschränkungen die Rückkehr von Binnenflüchtlingen einschränken. Menschenrechtsorganisationen und führende Mitglieder der jesidischen Gemeinschaft hätten angegeben, dass die Behörden der kurdischen Regionalregierung Organisationen diskriminierend behandelt hätten, die den jesidischen Gemeinschaften humanitäre Hilfe zur Verfügung gestellt hätten. Seit April 2016 hätten die kurdischen Behörden eine Güterblockade über den Distrikt Sindschar verhängt, die die Rückkehr der meisten Familien nach Sindschar verhindert habe:

Some Yezidi and Christian leaders continued to report harassment and abuses by KRG [Kurdistan Regional Government] Peshmerga and Asayish forces in the portion of Ninewa Province controlled by the KRG or contested between the central government and the KRG. Displaced members of certain religious groups report they were prevented from returning to their homes after their cities were liberated from ISIS. Yezidi groups said the presence of armed affiliates of the Kurdistan Workers Party (PKK) in Sinjar and the imposition of security restrictions on the district by the KRG hindered the return of IDPs. […]

Human rights NGOs and Yezidi leaders stated KRG authorities discriminated against organizations providing humanitarian assistance to Yezidi communities. Starting in April, KRG authorities maintained a blockade of goods into Sinjar District that prevented the return of most Yezidi families.“ (USDOS, 15. August 2017)

Nalia Radio and Television (NRT), ein laut eigenen Angaben unabhängiges und vom Bauunternehmen Nalia finanziertes Mediennetzwerk in der Autonomen Region Kurdistan, veröffentlicht im Jänner 2017 einen Beitrag von Matthew Barber, einem Doktoranten im Fachbereich Nahoststudien der Universität Chicago, der 2015-2016 die jesidische Hilfsorganisation Yazda leitete und zur jesidischen Minderheit im Irak forscht. Laut Barber sei der Distrikt Scheichan in der Provinz Ninawa einmal mehrheitlich von JesidInnen bewohnt worden. Jedoch werde seit dem Sturz Saddam Husseins [2003] ein Programm des demographischen Wandels umgesetzt, im Rahmen dessen sunnitische Kurden in der Gegend angesiedelt würden, um den Anspruch der kurdischen Regionalregierung zu verstärken, das Gebiet in die Autonome Region Kurdistan (ARK) zu integrieren. JesidInnen würden von „Kurdisierung“ sprechen. Scheichan, ein traditionelles Siedlungsgebiet der JesidInnen, sei nun von einer muslimischen Mehrheit bewohnt. Dies sei eine Veränderung, die erst nach dem Sturz Saddam Husseins eingetreten sei.

In Schingal (Sindschar im Arabischen) habe die Demokratische Partei Kurdistans (Kurdistan Democratic Party, KDP) [Die größte Partei der Autonomen Region Kurdistan, Anm. ACCORD] nach 2003 schnell an Einfluss gewonnen. Viele JesidInnen seien positiv gegenüber einer Zukunft als Teil der ARK eingestellt gewesen, in der Hoffnung, dass die kurdische Regionalregierung den Minderheiten mehr Rechte garantiere als vormals das Baath-Regime. Jedoch hätten die Sicherheitskräfte der KDP (Asayisch) bald damit begonnen, systematisch jesidische ZivilistInnen einzuschüchtern und zu verhaften, die rivalisierenden politischen Parteien beigetreten seien, besonders jenen Parteien, die es bevorzugt hätten, die Verwaltung Schingals der Zentralregierung zu unterstellen. Obwohl öffentliche Dienste in Schingal fast ausschließlich von der Zentralregierung in Bagdad bezahlt würden, habe die KDP nicht mit der Partei verbundene Beamte der Provinz Ninawa aus Schingal „herausgemobbt“, um die Kontrolle über die Verwaltung zu behalten. Die Bürgermeister von Schingal, darunter auch der derzeitige Bürgermeister, würden nie von den örtlich ansässigen Bürgern gewählt, sondern von der KDP bestimmt. Obwohl die Partei Schingal dominiert habe, sei der Distrikt einer der marginalisiertesten und am wenigsten entwickelten Distrikte geblieben. Daher hätten 2014 die meisten Jesidinnen bereits die Kontrolle der KDP abgelehnt, der Rückzug der Peschmerga am Morgen des vom IS an den JesidInnen verübten Genozids habe das Vertrauen in die KDP dann endgültig zerstört. Derzeit bestehe in Schingal eine politische Pattsituation, die die bereits angespannten Beziehungen zwischen den JesidInnen aus Schingal und der KDP noch zusätzlich erschweren würden:

The Sheikhan district in the Nineveh Plain used to be a Yazidi-majority area, but just since the fall of Saddam, it has been targeted with a program of demographic change that has involved settling Sunni Kurds in the area in order to strengthen the claim that it should be included within the Kurdistan Region. This program is similar to the Arabization schemes to which Saddam subjected the Kurds, and Yazidis call it ‘Kurdification.’ Sheikhan, a historic Yazidi homeland, is now a Muslim-majority area, a change that occurred entirely post-Saddam. Even the Mir, the highest Yazidi religious authority, spoke to US officials about this problem.

In Shingal (‘Sinjar’ in Arabic) after 2003, the KDP (Kurdistan Democratic party) quickly became a powerful presence. Many Yazidis were open to pursuing a future for Shingal as part of Kurdistan, hoping that life under Kurdish government would offer greater rights for minorities than had been the case under Ba’thist rule. But from those early days, the KDP asa’ish began systematically arresting and intimidating Yazidi civilians who joined competing political parties, especially those who favored keeping Shingal’s administration under the authority of the central government. Though services in Shingal are almost entirely paid for by Baghdad, the KDP bullied non-KDP Nineveh officials out of Shingal so that it could maintain administrative control. Shingal’s ‘mayors’ (qaymaqam), including the current one, are never elected by the local people, but are appointed by the party and are, of course, always party loyalists. Despite the fact that the KDP completely dominated Shingal, it remained one of Iraq’s least developed and most marginalized districts. Because of this legacy, by 2014 the majority of the Yazidis of Shingal already resented KDP control; the Peshmerga withdrawal the morning of the genocide was simply the final straw, severing trust with the KDP forever. But because of KDP policy, the Yazidi situation has become even worse following the genocide, which is the main issue that this article will explore. Today there is a bitter political standoff in Shingal that is exacerbating the already poor relations between the Shingali Yazidis and the KDP.” (NRT, 31. Jänner 2017)

Matthew Barber geht im Folgenden auf den aktuellen politischen Konflikt ein, in dem JesidInnen die Opferrolle hätten. Nachdem in Abwesenheit der Peschmerga mit der PKK verbündete Milizen die JesidInnen (vor dem IS) gerettet hätten, hätten sie ihnen geholfen, eine lokale Miliz namens YBŞ aufzustellen. Diese Miliz sei mit der PKK verbündet, bestehe aber vorwiegend aus JesidInnen aus dem Distrikt Schingal, die sich zusammengeschlossen hätten, um ihre Familien und Häuser zu verteidigen. Die KDP wolle jedoch, dass sich alle Milizen, die nicht mit der KDP verbündet seien, darunter auch die YBŞ-Miliz, auflösen würden, damit die Peschmerga der KDP wieder Schingal unter ihre Kontrolle bringen könnten. Jedoch wisse die KDP, dass, wenn die in den Flüchtlingslagern von Dohuk lebenden JesidInnen wieder nach Schingal zurückkehren würden, sie eher eine rivalisierende Miliz wie die YBŞ unterstützen würden, da sie der KDP gegenüber nicht loyal eingestellt seien. Daher habe die KDP über Schingal eine wirtschaftliche Blockade verhängt, um JesidInnen in ihren Flüchtlingslagern zu halten und sie an einer Rückkehr nach Schingal zu hindern. Die nördliche Seite des Schingal-Gebirges sei seit Dezember 2014 vom IS befreit und es habe sich seither dort kein mit dem IS in Verbindung gebrachter sicherheitsrelevanter Vorfall ereignet. Es gebe dort acht größere Orte und über 25 Dörfer, die von JesidInnen bewohnt würden. Hier seien Rückkehr und Wiederaufbau möglich, und mehrere tausend jesidische Familien seien bereits zurückgekehrt und würden versuchen, ihre Wohnhäuser und Landwirtschaftsbetriebe wieder aufzubauen. Jedoch würden die Asayisch der KDP bereits seit mehr als einem Jahr diese Familien praktisch aushungern und die Rückkehr von weiteren tausenden Familien durch ihre Wirtschaftsblockade verhindern. Am Hauptkontrollpunkt, der den Zugang von Dohuk nach Schingal kontrolliere, würden die Asayisch es JesidInnen nicht erlauben, bestimmte Waren nach Schingal einzuführen, von denen eine Basisökonomie jedoch abhängig sei, darunter Vieh sowie die meisten Produkte für den Einzelhandel. Darüber hinaus dürften auch einfache Haushaltsgüter sowie Nahrung für den nichtkommerziellen Gebrauch nicht nach Schingal gebracht werden:

This brings us to the present political conflict that is victimizing the Yazidis. As is common knowledge, after the PKK-affiliated [Kurdistan Workers’ Party] forces rescued the Yazidis in the absence of the Peshmerga, they helped the Yazidis form a local militia known as the YBŞ. This force is affiliated with the PKK but is primarily comprised of local Shingali Yazidis who came together to defend their own families and homes. The KDP wants the YBŞ to disappear. They want all non-KDP militias to dissolve so that the KDP Peshmerga can again enjoy full control of Shingal and return to business as usual. But the KDP knows that if the displaced Yazidis now living in the camps in Dohuk return to Shingal, they will be more likely to support a rival militia, like the YBŞ, because they have no loyalty for the KDP. And that brings us to the most discouraging of facts, the economic blockade of Shingal, which is the KDP’s disgraceful strategy to keep Yazidi families, who survived a genocide, trapped in camps that they have lived in for over two and a half years, rather than allowing them to return to Shingal. The north side of Shingal Mountain has been free of the IS presence since December 2014, without any IS-related security incident. The north side has eight major towns and over 25 smaller locations inhabited by Yazidis. It is viable for return and reconstruction, and several thousand Yazidi families have already taken up residence there, trying to rebuild their destroyed homes and farms. However, for over a year now, the KDP asa’ish have been effectively starving these families - and preventing the return of thousands more who would like to begin rebuilding a normal life - through an economic blockade. At the primary checkpoint controlling access to Shingal from Dohuk (Fishkhabour, near Suheila village), asa’ish do not allow Yazidis to bring goods to Shingal upon which a basic economy depends, such as livestock or most products for retail shops. Even beyond the commercial level, Yazidi families are not allowed to bring into Shingal basic household goods and foodstuffs upon which any family depends for their livelihood.” (NRT, 31. Jänner 2017)

Darüber hinaus führt Matthew Barber in seinem Artikel für NRT aus, dass sich innerkurdische Streitigkeiten auch auf den Distrikt Schingal auswirken würden. Im Frühling 2016 habe ein Peschmerga-Kommandeur der Patriotischen Union Kurdistans (PUK) [die zweitgrößte Partei der ARK, die teilweise mit der KDP rivalisiert, Anm. ACCORD] berichtet, dass er eine Medikamentenlieferung nach Schingal habe bringen wollen, er jedoch trotz seiner Stellung als Peschmerga-Kommandant von der zur KDP gehörigen Asayisch daran gehindert worden sei. Während Barber selbst in der Region tätig gewesen sei, habe er feststellen können, dass im Distrikt Schingal nicht genügend Medikamente vorhanden gewesen seien. Dies treffe auf von der Zentralregierung (Verwaltung der Provinz Ninawa) betriebene Gesundheitszentren auf der nördlichen Seite des Schingal-Gebirges zu, die für mehrere tausend jesidische Familien zuständig seien. Die Leiter dieser Gesundheitszentren hätten gegenüber Barber oft erwähnt, dass es ihnen nicht erlaubt sei, Lieferungen von Medikamente aus der Provinz Ninawa in ihre Gesundheitszentren zu bringen. Bei persönlichen Besuchen in diesen Zentren habe Barber festgestellt, dass die Medikamentenvorräte erschöpft gewesen seien:

Aside from the competition in Shingal, the political dynamics inside the Kurdistan Region were also unhealthy. In the spring of 2016, I was visited by a PUK [Patriotic Union of Kurdistan] Peshmerga captain who commanded the small contingent of PUK Peshmerga in Shingal. He described to me how he had a large shipment of medicine that he was trying to bring to Shingal but was being prevented from doing so by the KDP asa’ish, despite being a Peshmerga leader. During my period of work in the country, the primary health centers in the Shingal region suffered from a lack of medicine. I am not speaking of the health centers created by the PKK to serve displaced Yazidis on top of the mountain; I am referring to the established, government-run health centers serving the collective villages on the north side of the mountain. These health centers are part of Nineveh administration and are responsible for the health care of several thousand local Yazidi families that had returned to Shingal. However, the managers of those health centers frequently disclosed to me that they were not being allowed to bring any shipment of medicine originating with the Nineveh government to their centers. I visited such centers personally and saw that their stores of medicine were empty.“ (NRT, 31. Jänner 2017)

Euronews, ein paneuropäischer Fernsehsender mit Sitz in Lyon, meldet Luftangriffe der Türkei auf die Region Sinschar (Schingal) im April 2017:

„Vor einigen Tagen hat die Armee der Türkei begonnen, die Kurden- und Jesidengebiete an der Grenze zwischen dem Irak und Syrien zu bombardieren. Nicht nur Bewohner dieser Regionen und ihre Familien fordern ein Ende der türkischen Militäraktionen. Bei den Luftangriffen, die inzwischen mehrere Staaten verurteilt haben, soll es zahlreiche Tote gegeben haben. Besonders betroffen von den türkischen Bombardierungen ist die Heimatregion der Jesiden, das Sinjar-Gebirge – auch Sindschar oder Shingal genannt. […]

Die türkische Regierung hat die Luftangriffe gegen die PKK am Dienstag bestätigt. Es sollen bis zu 15 Luftschläge gegeben haben. Dabei wurden offenbar sechs Menschen getötet; es soll sich um sechs Peschmerga-Kämpfer und um einen Zivilisten handeln. […]

Laut jesidischer Internetseiten wie ‘Ezidi Press‘ wurde bei den türkischen Angriffen im Irak auch das Ausbildungslager ihrer Kämpfer – der sogenannten YBS – zerstört, die in der Heimatregion der Jesiden für den Kampf gegen die IS-Dschihadisten trainiert werden. Im Lager ‘Dewreshe Evdi‘werden schon seit 2014 jesidische Kämpfer ausgebildet. […]

Während die Jesiden und Kurden gegen die Angriffe protestieren, hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan die Luftschläge verteidigt. Die Türkei werde nicht zulassen, dass das Sinjar-Gebirge eine Basis der Terrororganisation PKK werde, hieß es aus Ankara.“ (Euronews, 27. April 2017)

Das Integrated Regional Information Network (IRIN), ein unabhängiger, humanitärer Nachrichtendienst mit geographischem Schwerpunkt Zentralasien, Naher Osten und Afrika südlich der Sahara, veröffentlicht im September 2017 einen Artikel zur Einstellung der JesidInnen gegenüber dem von der Autonomen Region Kurdistan (ARK) geplanten Unabhängigkeitsreferendum. Ein jesidischer Familienvater namens Hassan, der in einem Flüchtlingslager in der Provinz Dohuk lebe, habe gesagt, dass es egal sei, ob die JesidInnen am Referendum teilnehmen würden oder nicht. Araber wie Kurden hätten die JesidInnen schlecht behandelt. Beide Seiten würden ihre eigenen Interessen verfolgen und niemand helfe den JesidInnen. Laut Hassan gebe es allein in dem Lager, in dem er lebe, 6.000 JesidInnen, keiner sei jedoch daran interessiert, ihnen dabei zu helfen, ihre Häuser wieder aufzubauen und nach Hause zurückzukehren. Viele Jesiden würden die vornehmlich von Schiiten gestellten Volksmobilisierungseinheiten (Popular Mobilisation Units, PMU; auch genannt Al-Haschd Al-Schaabi) unterstützen. Diese der Zentralregierung unterstellten PMU hätten eine tragende Rolle bei der Befreiung von Teilen des Distrikts Schingal (Sindschar) gespielt und hätten auch Jesiden bewaffnet, die sich ihnen angeschlossen hätten. Laut Angaben eines Sprechers der PMU hätten sich 2.000 Jesiden den Milizen angeschlossen und seien an verschiedenen Orten in Schingal stationiert, zumeist in Gebieten, die immer noch als militärische Zonen eingestuft seien. Laut Hassan sei es gut, dass sich Jesiden den PMU anschließen würden, da sie eine bessere Option darstellen würden als die Kurden. Jedoch, so IRIN, seien JesidInnen, die am Schingal-Gebirge verblieben seien, in ihrer politischen Haltung gespalten. Manche hätten sich Milizen angeschlossen, die Verbindungen zu kurdischen Gruppen aus Syrien und der Türkei, darunter die Kurdische Arbeiterpartei PKK, unterhalten würden, andere würden zur KDP und zum Präsidenten der ARK, Masoud Barzani, halten. Im März 2017 sei es zu Kämpfen zwischen diesen beiden Gruppen gekommen, im Zuge derer erneut Zivilisten geflohen seien. Die Spaltung der Kämpfer, von denen sich ein auch ein Teil den [zentralregierungsnahen] PMU angeschlossen habe, weise darauf hin, wie politisch gespalten die JesidInnen

seien und werfe die Frage auf, wer ihr Siedlungsgebiet in Zukunft kontrollieren werde. Der Distrikt Schingal, der an einem strategisch wichtigen Punkt nahe der türkischen und syrischen Grenze liege, sei eines der zentralen von der Zentralregierung wie von der Regionalregierung Kurdistans beanspruchten Gebiete:

’It’s the same for us if we vote or if we don’t vote,’ Hassan, a Yazidi father of four living in a sprawling camp near the city of Dohuk, told IRIN. ‘Everyone treats us badly. Both the Arabs and the Kurds have treated us very badly. Both sides look out for their own interests and, meanwhile, nobody helps us.’

He gestured around the small tent he and his family have called home for two years: ‘There are 6,000 Yazidis living like this here, in just this one camp, but no one is interested in helping us to rebuild our homes and return home.’ Hassan said many Yazidis have thrown their support behind the predominantly Shia Hashd al-Shaabi forces, also known as the Popular Mobilisation Units, or PMU. Formed in 2014 of pre-existing militias and new volunteers with the express purpose of fighting IS and now officially under the authority of the Iraqi government, the PMU played a major role in liberating parts of Sinjar from IS, arming Yazidis who were willing to join. According to PMU spokesman Ahmed al-Asadi, 2,000 Yazidis have joined the force and are stationed in positions around Sinjar, mostly in areas still classed as military zones. ‘It’s good that [Yazidi] people are joining the Hashd,’ Hassan said, while older family members nodded sagely in agreement. ‘They are [a] good option and a better one for us than the Kurds.’ […]

Yazidis who remained on the mountain split. Some joined forces with a militia that has ties to Turkish- and Syrian-based Kurdish groups, including the Kurdistan Workers’ Party (PKK), while others are loyal to KRG President Masoud Barzani and his Kurdistan Democratic Party (KDP). In March this year, fierce fighting broke out between the groups, sending yet more civilians into flight. The split in the fighters – many of the first group have since joined the PMU – suggests how divided the Yazidis are politically and raises questions about who might control the territory in the future. What becomes of the Yazidis matters even more for the future of Iraq as Sinjar – strategically located near the borders of Syria and Turkey – is one of the key disputed territories.” (IRIN, 19. September 2017)

Der in Dubai ansässige Nachrichtensender Al-Arabiya veröffentlicht im September 2017 einen Artikel des Mitbegründers und Leiters der jesidischen Hilfsorganisation Yazda, Murad Ismael, über die möglichen Auswirkungen des Unabhängigkeitsreferendums in der Autonomen Region Kurdistan (ARK) auf die Siedlungsgebiete der JesidInnen in der Provinz Ninawa. Laut Ismael bringe eine Unabhängigkeit Kurdistans die JesidInnen in eine sehr unsichere Situation, da die meisten ihrer Siedlungsgebiete sowohl von der Zentralregierung in Bagdad als auch von der kurdischen Regionalregierung in Erbil beansprucht würden und die Integration dieser Gebiete in die ARK nie abschließend geklärt worden sei. Aus Angst und Unsicherheit wegen des Referendums seien in der Woche der Veröffentlichung des Artikels mehr als 1.000 Familien aus den Flüchtlingslagern nach Sindschar [Schingal] aufgebrochen, da sie über potentielle Instabilität und Gewalt besorgt seien. Sollten die Kurden die Kontrolle über alle umstrittenen Gebiete gewinnen, so befinde sich Sindschar fortan an der südwestlichen Grenze des neuen Staates, an der Grenze zum kurdischen Teil Syriens und zu einem von schiitischen Milizen der PMU (Popular Mobilisation Units) kontrollierten Teil des Irak im Süden. Diese theoretische Grenze könne in Zeiten des Konflikts nur schwer kontrolliert werden. Die Annektierung von Sindschar und Eingliederung in ein unabhängiges Kurdistan bedeute auch eine Trennung der jesidischen Siedlungsregion in drei Teile: ein schiitisch kontrolliertes Gebiet im Süden, ein von der PKK kontrolliertes Gebiet im Westen und ein von der KDP kontrolliertes Gebiet im Norden. Im Distrikt Scheichan, in dem sich das zentrale Heiligtum der JesidInnen, Lalisch, befinde, sei die Lage ebenfalls kompliziert. Lalisch liege auf einem der größten Ölfelder des Landes mit einem geschätzten Wert von 39,95 Milliarden US-Dollar. Dies sei ein weiterer Faktor, der zu einem Bürgerkrieg um Ressourcen führen könne. Andere traditionell von JesidInnen bewohnte Gegenden, die sich außerhalb der ARK befinden würden, seien Baaschiqa und Bahzani, zwei benachbarte Orte mit 50.000 Einwohnern 20 Kilometer von Mossul entfernt. Der Ort habe auch potentielle wirtschaftliche Bedeutung für die Ölförderung. Falls in Zukunft die Grenzen neu gezogen werden sollten, so gehe dieses Gebiet wahrscheinlich wegen seiner Nähe zu Mossul an den Irak. Wenn also Kurdistan wirklich die Unabhängigkeit erlangen sollte, so werde die jesidische Gemeinschaft zwischen zwei Staaten aufgeteilt. Es sei wahrscheinlich, dass die meisten JesidInnen aus Scheichan das Referendum unterstützen würden, während es JesidInnen aus Sindschar ablehnen würden:

Independence for Kurdistan would mean a great deal of uncertainty for Yazidis, given that most of the Yazidi homelands are disputed between Baghdad and Erbil and the inclusion of these areas in the KRI [Kurdistan Region of Iraq] has never been resolved. Fear and uncertainty about the referendum are causing chaos in the camps and over 1,000 Yazidi families have returned to Sinjar this week, as they worry about potential instability and violence.

If the Kurds gain control of all of the disputed territories that they are seeking to annex to the KRI, Sinjar would be located on the southwestern border of the new state, bordering a Kurdish part of Syria and a Shi’i PMU-controlled part of Iraq to the south. The inclusion of Sinjar in a theoretical Kurdistan would mean that the new state would need to secure a long, porous, and sometimes hostile border of more than 500 km - a border that won’t be easy to secure in times of conflict. Including Sinjar in an independent state would also mean that a line would have to be drawn inside Sinjar itself, which would divide the historical Yazidi homeland into three parts: a Shi’i controlled area in the south, a PKK controlled area in the west, and a KDP-controlled area in the north. In other words, only a portion of the Yazidis’ Sinjar homeland would become part of the new Kurdish state. The Yazidi areas in the Sheikhan district are no less complicated than Sinjar in term of geography. Lalish, the holiest Yazidi temple in the world, located in the district, is situated on one of the biggest oil fields in the country, the Sheikhan Oilfield, with an estimated 639 million barrels of oil beneath it, making it worth around $39.95 billion. This constitutes another stake that could lead to civil war over economic resources.

Other parts of the Yazidi historical homeland outside of the KRI include Bashiqa and Bahzani, a town of 50,000 that is located only 20 km from Mosul. It is another site of potential economic value as it is a target of oil exploration. When future lines are drawn, this area will most likely fall under the territory that will remain part of the Iraqi state due to its proximity to Mosul. This means that if Kurdistan were to push forward with independence, the Yazidi community could be divided between two states. The Yazidis themselves are divided on the issue of the referendum. It is likely that most people of Sheikhan support the referendum while those of Sinjar oppose it.“ (Al-Arabiya, 22. September 2017)

Ein im September 2017 veröffentlichter Bericht der in den USA ansässigen Organisation Yazda, die die jesidische Gemeinschaft im Irak unterstützt, enthält detaillierterer Informationen zur aktuellen Lage der JesidInnen. Aufgrund des Genozids der Gruppe Islamischer Staat an den JesidInnen hätten diese beinah ihren gesamten Besitz verloren. Der IS habe die Besitztümer der JesidInnen geplündert und deren Häuser, Schulen, Einrichtungen und religiöse Heiligtümer in Sindschar und der Ninawa-Ebene [Distrikte Tel Kaif, Al-Scheichan und Al-Hamdaniya, Anm. ACCORD] zerstört. Jesidische Binnenflüchtlinge seien neben dem Verlust ihrer Besitztümer auch Armut und Arbeitslosigkeit ausgesetzt. Die Arbeitslosenrate in von JesidInnen im Irak und der Autonomen Region Kurdistan (ARK) bewohnten Gebieten liege bei 70 Prozent und sei viel höher als in anderen Regionen, da es generell weniger Arbeitsstellen gebe und JesidInnen aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit am Arbeitsmarkt diskriminiert würden:

As a result of the genocide perpetrated by IS, most Yazidis have lost almost everything they once owned. The 3 August 2014 attack led the vast majority of Yazidis to flee their homes with only a few clothes and personal belongings, leaving behind properties and official documents. IS looted all Yazidi possessions and destroyed most of their houses, schools, institutions and religious shrines in the Sinjar and Nineveh Plain regions. As well as having no remaining assets, Yazidi IDPs and refugees face unemployment and poverty. The unemployment rate in Yazidi areas in Iraq and KRI is over 70%, much higher than in any other region, as Yazidis continue to suffer employment discrimination on the basis of their religion and due to lack of jobs generally.” (Yazda, September 2017, S. 23-24)

In den Monaten Juli und August, so Yazda weiters, hätten sich die Rückkehrbewegungen gesteigert. Laut Schätzungen von Yazda würden täglich 60 bis 120 Familien nach Sindschar zurückkehren. Dies sei auf verschiedene Faktoren zurückzuführen, darunter die weitverbreitete Unsicherheit aufgrund des Unabhängigkeitsreferendums in der ARK am 25. September 2017. Es gebe jedoch immer noch gravierende Hindernisse für die Rückkehr, darunter der Mangel an bewohnbaren Häusern und Infrastruktur, da ganze Dörfer und Orte dem Erdboden gleichgemacht worden seien. Laut dem Bürgermeister von Sindschar seien 80-85 Prozent des Distrikts vom IS zerstört worden und ein Wiederaufbau erfordere umfangreiche Investitionen. Viele Häuser und Gebäude in jesidischen Siedlungsgebieten, insbesondere im Süden des Distrikts Sinschar, seien immer noch vermint oder mit Sprengstofffallen versehen. Darüber hinaus sei die Sicherheitslage immer noch angespannt, da verschiedene bewaffnete Gruppen miteinander kämpfen würden. Da rivalisierende Gruppen die Kontrolle über Sindschar beanspruchten würden, komme es zu zusätzlichen administrativen und sicherheitsbedingten Problemen, so sei zum Beispiel der Transport von Waren eingeschränkt und Personen würden daran gehindert, befreite Gebiete zu betreten, was wiederum den Wiederaufbauprozess beinträchtige. Aufgrund der wirtschaftlichen Blockade seien seit der Befreiung mancher von JesidInnen bewohnten Gebiete im Jahr 2015 keine neuen Hilfsprojekte umgesetzt worden. Die Lebensbedingungen seien dort aufgrund des Mangels an Trinkwasser, Elektrizität und Treibstoff sowie medizinischer Dienstleistungen sehr schwer:

Return rates have increased over July and August 2017. Yazda estimates that 60 to 120 families are returning to Sinjar each day. This has been accelerated by several factors, including widespread feelings of instability due to the forthcoming KRI independence referendum scheduled to take place on 25 September 2017. However, there are still serious obstacles to return, including the lack of inhabitable homes and suitable infrastructure, with entire villages and towns having been flattened. On 28 April 2016, the Iraqi Parliament passed a bill under which the town of Sinjar was considered a ‘disaster city’. According to the Mayor of Sinjar, Mahama Khalil, about 80-85% of Sinjar District has been destroyed by IS and rebuilding the district will require significant investment. Many of the houses and buildings in the Yazidi areas, especially on the southern side of Sinjar District, are still covered with landmines and other explosives, making it extremely dangerous to enter. In addition, while the whole of Sinjar has now been liberated from IS, in-fighting between various factions and armed groups means that the security situation in the area is still volatile, and Yazidis do not feel empowered to begin the rebuilding process. Conflict among rival groups for control over Sinjar areas has created additional administrative and security hurdles, such as the restriction of movement of goods and denial of permission to access liberated areas, thereby impeding reconstruction works. Since the liberation of some Yazidi areas in 2015, no new service projects have been initiated because of this economic blockade. As a result, the lack of essential services such as the provision of clean drinking water, electricity and fuel, and access to basic medical services makes the living conditions in these regions extremely hard.“ (Yazda, September 2017, S. 24-25)

 

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Quellen: (Zugriff auf alle Quellen am 2. Oktober 2017)

·      ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation: Anfragebeantwortung zum Irak: Siedlungsgebiete und Lage der JesidInnen [a-10009], 2. Februar 2017 (verfügbar auf ecoi.net)
http://www.ecoi.net/local_link/336256/478869_de.html

·      Al-Arabiya: Kurdish Independence and the unheard Yazidi voice, 22. September 2017
https://english.alarabiya.net/en/views/news/middle-east/2017/09/22/Kurdish-Independence-and-the-unheard-Yazidi-voice.html

·      Euronews: Jesiden und Kurden schlagen Alarm: Angst vor weiteren Luftschlägen der Türkei in Sinjar, 27. April 2017
http://de.euronews.com/2017/04/27/jesiden-und-kurden-schlagen-alarm-angst-vor-weiteren-luftschlaegen-der-tuerkei

·      IRIN - Integrated Regional Information Network: What do Yazidis make of Kurdish independence?, 19. September 2017
http://www.irinnews.org/special-report/2017/09/19/what-do-yazidis-make-kurdish-independence

·      NRT - Nalia Radio and Television: The KRG’s Relationship with the Yazidi Minority and the Future of the Yazidis in Shingal (Autor: Matthew Barber), 31. Jänner 2017
http://www.nrttv.com/En/birura-details.aspx?Jimare=4855

·      Raseef 22: al-‘izidiyoun…khauf min al-muslimin wa calaqa multabisa bi-l-akrad [die Jesiden… Angst vor Muslimen und ungewisses Verhältnis zu Kurden], 7. Mai 2016
http://raseef22.com/life/2016/05/07/%D8%A7%D9%84%D8%A5%D9%8A%D8%B2%D9%8A%D8%AF%D9%8A%D9%88%D9%86-%D8%AE%D9%88%D9%81-%D9%85%D9%86-%D8%A7%D9%84%D9%85%D8%B3%D9%84%D9%85%D9%8A%D9%86-%D9%88%D8%B9%D9%84%D8%A7%D9%82%D8%A9-%D9%85%D9%84%D8%AA/

·      USDOS - US Department of State: 2016 Report on International Religious Freedom - Iraq, 15. August 2017 (verfügbar auf ecoi.net)
http://www.ecoi.net/local_link/345221/489014_de.html

·      Yazda: An Uncertain Future For Yazidis: A Report Marking Three Years Of An Ongoing Genocide, September 2017
https://www.yazda.org/wp-content/uploads/2017/06/Yazda-Report-2017_an-Uncertain-Future-for-Yazidis_A-Report-Marking-Three-Years-of-an-Ongoing-Genocide.pdf