Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Vorkommen von Heirat einer Frau, die von ihrem Mann verlassen wurde, mit ihrem Schwiegervater, Zulässigkeit nach Scharia bzw. Paschtunwali; Zulässigkeit bzw. Vorkommen von erneuter Heirat einer Frau, die bereits verheiratet ist; Volksgruppenzugehörigkeit eines Kindes, dessen Vater Paschtune und dessen Mutter Tadschikin ist [a-10372-1]

18. Oktober 2017

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Vorkommen von Heirat einer Frau, die von ihrem Mann verlassen wurde, mit ihrem Schwiegervater, Zulässigkeit nach Scharia bzw. Paschtunwali

Noah Coburn, ein am Bennington College im US-Bundesstaat Vermont tätiger Sozial- und Kulturanthropologe mit Forschungsschwerpunkt Afghanistan, schreibt in einer E-Mail-Auskunft vom 16. Oktober 2017, dass eine Heirat einer von ihrem Mann verlassenen Frau mit ihrem Schwiegervater vorkommen könnte, es jedoch üblicher sei, dass die Heirat mit einem Schwager stattfinde. Solche Praktiken würden typischerweise mit dem Paschtunwali begründet. Beim Paschtunwali handle es sich jedoch nicht um einen statischen Sozialkodex, es sei in Wirklichkeit dynamisch und werde abhängig von der Region unterschiedlich gehandhabt. Die Heirat mit dem Schwiegervater sei vielleicht nicht überall die Norm, jedoch sei es möglich, dass dies in diesem Fall zutreffe:

„This can happen (though is more common with a brother-in-law than a father-in-law) and would typically be justified through Pashtunwali.  It is important here to keep in mind that while many Western academic interpretations of Pashtunwali describe it as a static social code, in reality, it is dynamic, changing from place to place.  So while this practice might not be the norm everywhere, it is possible that it is the case here.” (Coburn, 16. Oktober 2017)

Dr. Lutz Rzehak, Afghanistan-Experte und Privatdozent am Zentralasien-Seminar des Instituts für Afrika- und Asienwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin, beschreibt in einer Email-Auskunft vom 16. Oktober 2017 das Verhältnis der Frau zur Familie ihres Ehemannes:

In Afghanistan werden Ehen generell nicht zwischen Einzelpersonen geschlossen, sondern zwischen Familienverbänden. Das gilt für alle ethnischen Gruppen.

Die Frau wechselt in der Regel in den Familienverband ihres Gatten, wo sie dessen Mutter, also ihrer Schwiegermutter zur Hand geht. Der Vater ihres Gatten, also ihr Schwiegervater ist ihr gegenüber weisungsberechtigt, sofern die unmittelbaren Interessen des Gatten nicht berührt werden. In einer patriarchalischen Gesellschaft wie der afghanischen wird sich aber auch ein Sohn den Weisungen seines Vaters fügen. […]

Um im Todesfall eines Familienvaters eine Zersplitterung des Eigentums unter den erbberechtigten Personen zu verhindern und – das ist nicht weniger wichtig – um die Fürsorgepflicht des Stammlinienverbandes für die patrilineare Nachfahren zu gewährleisten, pflegen viele Paschtunen den Brauch des Levirats. Dieser bindet eine Frau nach dem Tod des Mannes an einen ihrer Schwäger (als Bruder des verstorbenen Ehegatten) oder an einen anderen – möglichst patrilinearen – Verwandten des Mannes. Dieser wird die Witwe entweder heiraten, was in Afghanistan auch dann möglich ist, wenn er bereits eine Frau hat, oder ohne formale Eheschließung gemeinsam mit ihren Kindern in seinem Haushalt aufnehmen und für sie sorgen. Der Brauch des Levirats könnte in dem von Ihnen beschriebenen Fall eine Erklärung für das Verhalten des Schwiegervaters bieten, der nun seine Schwiegertochter ehelichen möchte. Eigentlich wäre das gar nicht nötig, denn wenn der Gatte sie verlassen hat, bleibt sie in der Regel trotzdem in dessen Haushalt wohnen. Wäre der Gatte verstorben, würde der Brauch des Levirats zu 99 Prozent greifen. In dem von Ihnen beschriebenen Fall lebt der Gatte noch. Eigentlich hätte er einfach eine weitere Frau nehmen können, ohne die tadschikische Frau zu verbannen. Er würde sie nur vernachlässigen. Solang die Scheidung nicht rechtmäßig vollzogen wurde, bleibt sie seine Frau. Eine rechtmäßige Scheidung würde keinen Gerichtsprozess wie in Europa erfordern, es reicht, dass der Gatte dreimal das Wort talaq ausspricht, möglichst unter Zeugen. Das geschieht aber nur sehr selten, denn in diesem Fall könnte der Stammlinienverband der Frau das gezahlte Brautgeld oder wenigstens einen Teil davon zurückverlangen. Das hängt davon ab, ob beide Stammlinienverbände sozial eher gleichgestellt sind oder ob einer stark und der andere schwach ist. […]

Einen Anspruch hat der Schwiegervater auf diese Frau nicht, nur weil sein Sohn eine andere Frau genommen hat. Aber manche schert das nicht. (Rzehak, 16. Oktober 2016)

Dr. Nasrullah Jan Wazir, Leiter der Pashto Academy an der Universität Peshawar (Pakistan), erklärt in einer Email-Auskunft vom 17. Oktober 2017, dass es, was die Heirat einer Frau mit ihrem Schwiegervater angehe, keine im Paschtunwali festgelegten Regeln oder Praktiken gebe, die so eine Ehe erlauben würden. Auch die Sharia würde diese Art von Ehe nicht erlauben. Hier handle es sich um das Verhalten einer Einzelperson, nicht um Verhaltensnormen eines Stammes oder einer Religion. Dabei sei es unerheblich, ob der Ehemann der Frau verstorben oder “abwesend” sei. (Wazir, 17. Oktober 2017)

 

Die internationale Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) gibt in einem Bericht zu häuslicher Gewalt vom März 2012 die Geschichte einer Frau namens Jawana wieder, die mit einem Mann verheiratet worden sei, dessen Familie Verbindungen zu den Taliban gehabt habe. Jawana habe erzählt, dass ihr Schwiegervater sie gebeten habe, mit ihm zu leben und dann versucht habe, mit ihr Geschlechtsverkehr zu haben. Ihr Ehemann habe davon gewusst, habe aber nichts dagegen tun können. Wie sie HRW berichtet habe, habe sie sich an die Dorfältesten gewandt und um Hilfe gebeten, jedoch habe einer ihrer Schwager ihr mit dem Tode gedroht, da sie den Vater in Verlegenheit gebracht habe. Die Mullahs hätten sie vor dem Schwager verteidigt und sie habe um eine Scheidung ihrer Ehe gebeten:

Jawana S. does not know her age, but thinks she might be in her 40s. She told Human Rights Watch that she was given in marriage to a man from a family linked with the Taliban. The family was powerful and feared in the community. Her father tried to resist giving her in marriage but the groom’s father threatened to kill him if he did not cooperate and offered 120 sheep and approximately US$4,000 as dowry. Jawana’s father agreed. […]

Jawana said that her father-in-law asked her to live with him and then tried to sleep with her. According to Jawana, her husband knew about this, but could not do anything. She told Human Rights Watch that she went to village elders and asked for help, but one of her brothers-in-law threatened to kill her because she had embarrassed his father. ‘The mullahs defended me [from him],‘ she said. ‘Then I asked for a divorce.‘” (HRW, 28. März 2012)

In einem von der Staatendokumentation, der Abteilung für Herkunftsländerinformationen des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) herausgegebenen Bericht vom Juli 2016 zur Stammes- und Clanstruktur in Afghanistan und Pakistan schreibt der in Islamabad ansässige Think-Tank FATA Research Centre (FRC) Folgendes zum Verhältnis zwischen dem Paschtunwali und der islamischen Scharia und erwähnt auch Bestimmungen des Paschtunwali zur Ehe:

„Obwohl die Werte oder Merkmale des Pashtunwali den Islam richtig widerspiegeln, wird das Pashtunwali gelegentlich im Widerspruch zur islamischen Scharia oder sogar zu den staatlichen Gesetzen, angewandt, z.B. bei Erbschaften, Badal (Vergeltung), Eheschließungen usw. Das Pashtunwali wird je nach Stamm und Gebiet im Vergleich zur Scharia bzw. dem islamischen Recht intensiver angewendet. […] In den Paschtunengebieten in Pakistan und Afghanistan haben beide Parteien die Möglichkeit auszuwählen, ob die Frage nach dem Pashtunwali oder der Scharia gelöst werden soll, bevor sie in der Jirga entschieden wird.“ (BFA Staatendokumentation, Juli 2016, S. 50-51)

„Nach dem Pashtunwali ist eine Verlobung schon sehr früh erlaubt, manchmal direkt nach der Geburt des Kindes, und kann nicht gelöst werden. […] Nach dem Pashtunwali verliert die Ehe ihre Gültigkeit, wenn der Mann oder die Frau vor der Hochzeit stirbt. In diesem Fall bleibt die Frau ein Teil des Vermögens der Familie des Mannes und wird mit dem Cousin oder einem anderen Familienmitglied des Mannes verheiratet.“ (BFA Staatendokumentation, Juli 2016, S. 53)

Zulässigkeit bzw. Vorkommen von erneuter Heirat einer Frau, die bereits verheiratet ist

Noah Coburn schreibt in seiner Email-Auskunft vom Oktober 2017, dass solche erneute Eheschließungen zwar vorkämen, diese aber üblicher seien, wenn der erste Ehemann verstorben und nicht einfach nur abwesend sei. Die Praxis einer Zweitehe sei allerdings während des Krieges gegen die Sowjetunion, als viele AfghanInnen in Flüchtlingslagern gelebt hätten, stark angestiegen:

„This does happen though is most common if the community presumes that the first husband is dead and not simply absent.  Either way, however, the practice greatly increased during the war against the Soviets when many Afghans were in refugee camps.” (Coburn, 16. Oktober 2017)

Laut Auskunft von Lutz Rzehak könnten Frauen keine zweite Ehe eingehen, jedoch handle es sich im vorliegenden Fall mit dem Schwiegervater wahrscheinlich nicht um eine Ehe im herkömmlichen Sinn:

„Eine verheiratete Frau kann keine zweite Ehe eingehen, um diese Frage eindeutig zu beantworten. Ich glaube aber nicht, dass ihr Schwiegervater sie in einem für die afghanische Gesellschaft herkömmlichen Sinn ehelichen wollte. Er scheint einfach zu glauben, dass er einen Anspruch auf die Frau hat, weil der Stammlinienverband ja für sie bezahlt hat und weil ihr anvertrauter Gatte nichts gegen die Ansprüche seines Vaters, also des Schwiegervaters der Frau einzuwenden scheint oder sich das nicht traut.“ (Rzehak, 16. Oktober 2016)

Dr. Nasrullah Jan Wazir bemerkt in seiner Auskunft vom Oktober 2017, dass es laut Stammesbräuchen festgelegt sei, dass eine Frau, deren Ehemann verstorben sei, dessen Bruder oder, wenn es keinen Bruder gebe, dessen Cousin, heiraten könne. Wenn es weder Bruder noch Cousin gebe, könne die Frau irgendjemanden heiraten, es sei allerdings die Zustimmung der Stammesältesten notwendig. Diese Praxis gebe es heute noch unter Paschtunen in ländlichen Gegenden, aber nicht in Städten. Diese Praxis bestehe, da die Frau durch ihre Kinder mit ihrem verstorbenen Ehemann als Teil der Ehre und Würde der Familie des Mannes angesehen werde.

Was die erneute Ehe einer Frau angehe, deren Mann „nicht anwesend“ sei, so hänge dies von den Umständen ab. Wenn der Mann beispielsweise in den Krieg gezogen sei, sein Aufenthaltsort unbekannt sei, viele Jahre vergangen seien, die Frau noch jung sei und aus der Ehe keine Söhne hervorgegangen seien, dann werde sie gebeten, ein Mitglied der Familie des Mannes zu heiraten. Eine andere Möglichkeit wäre, dass sie für den Rest des Lebens im Hause ihres Vaters verbringe. Jedoch könne sie nicht erneut ohne die Zustimmung der Familie ihres Ehemannes verheiratet werden. Diese Praxis verschwinde jedoch langsam und sie könne folglich auch mit der Einwilligung der Familie ihres Vaters heiraten. (Wazir, 17. Oktober 2017)

Gilt das Kind aus einer Ehe zwischen einem Paschtunen und einer Tadschikin als Paschtune oder als Tadschike? D.h. richtet sich die Volksgruppenzugehörigkeit eines Kindes nach derjenigen des Vaters oder nach derjenigen der Mutter?

In seiner Email-Auskunft vom 16. Oktober 2017 bemerkt Noah Coburn, dass ein Kind eines Paschtunen und einer Tadschikin normalerweise als Paschtune gelte, jedoch auch Verbindungen zu den Tadschiken haben könne. Daraus könnten für das Kind teilweise Vorteile und Nachteile erwachsen. Eine Ausnahme liege vor, wenn die Familie des Vaters schwach sei und die der Mutter sehr stark, dann würde das Kind möglicherweise die Volkszugehörigkeit der Mutter annehmen. Dies treffe aber im Hinblick auf den Fallhintergrund nicht zu:

Typically the child would be considered Pashtun, though might have ties to the Tajiks and in some instances could either benefit or suffer from this.  The one exception is cases when the father's family is weak and the mother's family is very strong, then the child might take the mother's ethnicity, but that does not seem to be the case here.” (Coburn, 16. Oktober 2017)

Lutz Rzehak gibt zu dem Thema folgende Auskunft:

„Frauen nehmen in der patrilinear strukturierten Gesellschaft eine Zwischenstellung ein. Sie werden in einen Stammlinienverband, nämlich den ihres Vaters, hineingeboren, den sie aber selbst – im Unterschied zu ihren Brüdern – nicht gezwungenermaßen fortsetzen werden. Mit ihrer Eheschließung verlässt eine Frau den elterlichen Haushalt und zieht in den Haushalt ihres Gatten. Das Prinzip der patrilokalen Eheschließung wird fast ausnahmslos eingehalten. Die Vorstellung, wonach Blutsverwandtschaft primär patrilinear übertragen wird, bewirkt dabei folgendes: Wenn der Gatte einer Frau einem anderen Stammlinienverband angehört als sie selbst, werden die Kinder, die sie zur Welt bringt, nicht zu dem Stammlinienverband gehören, in den sie selbst einmal hineingeboren wurde, sondern zum Stammlinienverband ihres Gatten. Die Kinder werden die Fürsorge des Stammlinienverbandes ihres Vaters in einem weit größeren Maße erfahren als die Fürsorge des Stammlinienverbandes ihrer Mutter, da besonders die männlichen Nachkommen als Garant für das Fortbestehen dieses Stammlinienverbandes angesehen werden. […]

Bei einer tadschikischen Mutter und einem paschtunischen Vater gelten die Kinder als Paschtunen.“ (Rzehak, 16. Oktober 2016)

Auch Nasrullah Jan Wazir erklärt, dass das Kind meistens die Volkszugehörigkeit des Vaters annehme. Jedoch hänge dies auch von den demographischen Begebenheiten ab. Wenn ein paschtunischer Vater in einer überwiegend von Tadschiken besiedelten Gegend lebe, dann nehme das Kind die Normen der in der Region lebenden Tadschiken an. Ein Beispiel hierfür sei der afghanische Politiker Dr. Abdullah Abdullah, dessen Vater Paschtune und Mutter Tadschikin gewesen seien. Dr. Abdullah verhalte sich wie ein Tadschike und identifiziere sich auch so. Der Mudschahedin-Kämpfer Ahmad Schah Mahsud habe eine paschtunische Mutter und einen tadschikischen Vater gehabt. Mahsud werde nicht als Paschtun wahrgenommen. (Wazir, 17. Oktober 2017)

 

 

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Quellen: (Zugriff auf alle Quellen am 18. Oktober 2017)

·      BFA Staatendokumentation: Dossier der Staatendokumentation: AfPak Grundlagen der Stammes- und Clanstruktur , Juli 2016 (verfügbar auf ecoi.net)
http://www.ecoi.net/file_upload/90_1470057716_afgh-stammes-und-clanstruktur-onlineversion-2016-07.pdf

·      Coburn, Noah: Email-Auskunft, 16. Oktober 2017

·      HRW - Human Rights Watch: "I had to run away"; The Imprisonment of Women and Girls for “Moral Crimes” in Afghanistan, 28. März 2012
http://www.ecoi.net/file_upload/1788_1333042191_afghanistan0312webwcover-0.pdf

·      Rzehak, Lutz: Email-Auskunft, 16. Oktober 2017

·      Wazir, Nasrullah Jan: Email-Auskunft, 17. Oktober 2017