ecoi.net-Themendossier: Flüchtlinge in der Türkei

Die ecoi.net-Themendossiers bieten einen Überblick zu einem ausgewählten Thema. Das Themendossier Türkei behandelt die aktuellen Entwicklungen im Asylbereich und die Lebensbedingungen von Flüchtlingen in der Türkei. Die Informationen stammen aus ausgewählten Quellen und erheben nicht den Anspruch vollständig zu sein. Erstellt von ACCORD.

Archivversion - letzte Aktualisierung: 13. September 2016. Dieses Themendossier wird nicht mehr weiter aktualisiert.
 

Internationaler Schutz in der Türkei
 


Die Türkei ist derzeit das Land, in dem die größte Zahl von Asylsuchenden und Flüchtlingen weltweit lebt (UNHCR, ohne Datum). Laut der Statistik des türkischen Migrationsamtes (Directorate General of Migration Management, DGMM) waren am 11. August 2016 insgesamt 2.724.937 SyrerInnen mit vorübergehendem Schutzstatus in der Türkei registriert. (DGMM, zuletzt aktualisiert am 16. August 2016).



Personen, die nicht syrische Staatsbürger sind, können in der Türkei um internationalen Schutzstatus ansuchen. 2015 haben 64.232 Personen um einen internationalen Schutzstatus in der Türkei angesucht (DGMM, zuletzt aktualisiert am 9. Juni 2016). Die EU-Kommission beruft sich auf von der Türkei eingereichte Daten und gibt an, dass am Stichtag 1. Februar 2016 141.059 Anträge auf internationalen Schutz in Bearbeitung waren. Die fünf häufigsten Nationalitäten von Asylsuchenden in der Türkei waren Irak (51%), Afghanistan (25%), Iran (14%), Somalia (2,5%) und Palästina (1%) (Europäische Kommission, 4. März 2016).


Rechtlicher Rahmen
 
Die Türkei hat die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) von 1951 mit einer zum damaligen Zeitpunkt möglichen geografischen Beschränkung auf Europa unterzeichnet. Die Möglichkeit einer solchen geografischen Beschränkung wurde im Rahmen des New Yorker Protokolls von 1967 aufgehoben. Staaten, die die Konvention schon vorher unterzeichnet hatten, konnten die Beschränkung aufrechterhalten. Heute ist die Türkei der einzige Vertragsstaat der GFK, der das Asylrecht auf Flüchtlinge aus Europa begrenzt. Mit Ausnahme von Artikel 35 der GFK, der zur Kooperation mit dem UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) anhält, sowie dem non-Refoulement-Prinzip, das mittlerweile zum internationalen Gewohnheitsrecht geworden ist, sieht sich die Türkei nicht an die Verpflichtungen der GFK bei der Aufnahme von Flüchtlingen aus nicht-europäischen Ländern gebunden. Das bedeutet allerdings nicht, dass die Türkei keine anderen rechtlichen Verpflichtungen gegenüber nicht-europäischen Flüchtlingen eingeht (RRT, ECRE, Dezember 2015, S. 19).


Die Asylregelung von 1994 war die erste nationale Rechtsvorschrift zur Regelung des Umgangs mit Asylsuchenden in der Türkei. Sie blieb bis zum In-Kraft-Treten eines neuen Ausländer- und Asylgesetzes im April 2014 der wichtigste Rechtsakt im Bereich Asyl (RRT, ECRE, Dezember 2015, S. 20). Das neue „Gesetz über die Ausländer und den internationalen Schutz“ (DGMM, Juni 2014), im Folgenden GAIS genannt, wurde im April 2013 verabschiedet und trat im April 2014 in Kraft. Als umfassendes und von der Europäischen Union inspiriertes Gesetz bildet das GAIS das rechtliche Rahmenwerk für internationalen Schutz in der Türkei (RRT, ECRE, Dezember 2015, S. 15). Es sieht den Schutz von Menschen ohne geografische Beschränkung vor und unterscheidet zwischen internationalem Schutz und vorübergehendem Schutz (DGMM, Juni 2014, Artikel 61ff).


Internationaler Schutz


Das GAIS kennt drei unterschiedliche Formen von internationalem Schutz:
  • Der Flüchtlingsstatus, in Artikel 61 geregelt, beschränkt sich aufgrund der „geografischen Einschränkung“ der Türkei unter der GFK nach wie vor nur auf Flüchtlinge aus Europa.

     
  • Asylsuchende, die aufgrund der „geografischen Einschränkung“ nicht asylberechtigt sind, können als bedingt aufgenommene Flüchtlinge („bedingte Asylanten“ in der inoffiziellen Übersetzung des Gesetzes) Schutz bekommen.

     
  • Personen, die sich weder für den Flüchtlingsstatus noch den Status eines bedingt aufgenommenen Flüchtlings qualifizieren, denen aber bei einer Rückkehr in das Herkunftsland die Todesstrafe, Folter oder menschenunwürdige Behandlung oder willkürliche Gewalt aus bewaffneten Konflikten droht, kann gemäß Artikel 63 subsidiärer Schutz („sekundärer Schutz“) zugesprochen werden.
    (DGMM, Juni 2014)


Bedingt aufgenommene Flüchtlinge und subsidiär Schutzberechtigte haben vergleichsweise weniger Rechte als Personen mit Flüchtlingsstatus und sind von einer langfristigen, rechtlichen Integration in der Türkei ausgeschlossen. Subsidiär Schutzberechtigte haben aber, im Gegensatz zu Flüchtlingen mit bedingtem Flüchtlingsstatus, ein Recht auf Familienzusammenführung (RRT, ECRE, Dezember 2015, S. 17-18).


Vorübergehender Schutz


Das GAIS führt zusätzlich einen zeitlich begrenzten Schutzstatus („vorübergehender Schutz“) ein, der Gruppen bei Massenankünften zugesprochen werden kann. Der vorübergehende Schutz ist in Artikel 91 des Gesetzes geregelt (DGMM, Juni 2014). SyrerInnen sind von internationalem Schutz in der Türkei nicht umfasst, ihnen wird „vorübergehender Schutz“ gewährt (NOAS, April 2016, S. 10). Das Gesetz schafft die rechtliche Grundlage für den de facto seit 2011 gewährten Schutz für Menschen aus Syrien (AIDA, ohne Datum).
 
Während das GAIS bereits im April 2014 in Kraft getreten ist, wurde die Regelung für vorübergehenden Schutz („Temporary Protection Regulation“, TPR; keine deutsche Übersetzung verfügbar), die auf Artikel 91 des GAIS aufbaut, erst im Oktober 2014 veröffentlicht und trat mit sofortiger Wirkung in Kraft. Die TPR bildet den rechtlichen Rahmen für die Umsetzung von zeitlich begrenzten Schutzmaßnahmen in der Türkei und könnte auch zukünftig in anderen Fällen von „Massenzuströmen“ zur Anwendung kommen (AIDA, ohne Datum). Die TPR beinhaltet Regeln und Verfahren zur Registrierung von Personen mit vorübergehendem Schutz sowie deren Rechte. Syrische Flüchtlinge haben als vorübergehend Schutzberechtigte Zugang zu medizinischer Notversorgung und zu Quartieren („accommodation sites”), in denen Unterkunft, Verpflegung und andere Dienstleistungen angeboten werden. Sie bekommen Ausweise, die ihren legalen Aufenthalt bestätigen. Nach der TPR ist eine Inhaftierung von vorübergehend Schutzberechtigten bei illegaler Einreise in die Türkei nicht vorgesehen. Sie ermöglicht außerdem Familienzusammenführung, Zugang zu Rechtsberatung und Übersetzungsdiensten sowie Schutz vor Refoulement (HRW, 8. November 2015).
 
Seit Jänner 2016 ist eine vom türkischen Arbeits- und Sozialministerium herausgegebene Regelung zur Arbeitserlaubnis von vorübergehend Schutzberechtigten in Kraft. Diese Regelung ermöglicht beim DGMM registrierten SyrerInnen sich für eine Arbeitserlaubnis zu bewerben. Menschen aus Syrien haben damit Zugang zu Arbeitsbewilligungen, unterliegen aber zeitlichen und räumlichen Einschränkungen bei der Antragstellung. Darüber hinaus bestehen auch Beschränkungen hinsichtlich der erlaubten Beschäftigungssektoren (RI, 14. April 2016, S. 3-4)


Gesetzestexte
 
Inoffizielle deutsche Übersetzung des Gesetzes über die Ausländer und den internationalen Schutz, bereitgestellt im Juni 2014 vom DGMM:
http://www.goc.gov.tr/files/files/YUKK_ALMANCA_BASKI_.pdf


Inoffizielle englische Übersetzung der Regelung für vorübergehenden Schutz (TPR), ohne Datum, bereitgestellt vom DGMM: http://www.goc.gov.tr/files/_dokuman28.pdf (Anmerkung: möglicherweise enthält diese Version nicht jüngste Änderungen, die von der Europäischen Kommission erwähnt werden: Europäische Kommission, 4. Mai 2016)


Akteure im Bereich internationaler Schutz: DGMM und UNHCR


Für die Umsetzung des GAIS wurde eine neue Behörde unter dem Namen „Generaldirektion der Migrationsverwaltung“ (oder Englisch: „Directorate General of Migration Management“, DGMM) geschaffen (RRT, ECRE, Dezember 2015, S. 15). Das DGMM ist eine nach EU-Vorbildern geschaffene Behörde, die dem Innenministerium untersteht. Sie übernahm die Umsetzung aller Migrations- und Asylagenden von der nationalen Polizei (RRT, ECRE, Dezember 2015, S. 17).


Da die Türkei die Genfer Flüchtlingskonvention nur mit geografischer Beschränkung auf europäische Flüchtlinge unterschrieben hat, war internationaler Schutz für nicht-europäische Flüchtlinge unter der alten Gesetzgebung in der Türkei grundsätzlich zeitlich begrenzt und das UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) übernahm die Bestimmung des Flüchtlingsstatus von Schutzsuchenden aus anderen Weltregionen. Diese Kooperation zwischen UNHCR und der Türkei ermöglichte es UNHCR, Asylsuchende zu registrieren und Asylanträge in der Türkei zu bearbeiten. Asylsuchende, die von UNHCR registriert wurden, konnten sich zeitlich begrenzt in der Türkei aufhalten, während UNHCR Lösungen in Form von Resettlement für Schutzberechtigte suchte (RRT, ECRE, Dezember 2015, S. 19-20).
 
Im neuen Gesetz ist UNHCR nicht als Entscheidungsträger vorgesehen (RRT, ECRE, Dezember 2015, S. 20).


Während das DGMM noch am Aufbau des nationalen Asylverfahrens arbeitet, führt UNHCR komplementär auch weiterhin Statusentscheidungen auf Basis des eigenen Mandates durch. Statusentscheidungen von UNHCR sind nach dem Gesetz für Ausländer und internationalen Schutz für die Türkei nicht rechtlich bindend (RRT, ECRE, Dezember 2015, S. 15). In der Praxis sucht der Großteil der neu ankommenden international Schutzsuchenden zuerst UNHCR auf, um sich in der Türkei zu registrieren. Anschließend werden Asylsuchende unterschiedlichen Provinzen zugewiesen, wo ihnen empfohlen wird, ihren Antrag bei der lokalen Behörde des DGMM zu stellen. Nicht alle Asylsuchenden, die sich bei UNHCR registrieren lassen, melden sich anschließend beim zuständigen lokalen Büro des DGMM. Berichten zufolge ziehen es vor allem Flüchtlinge aus Afghanistan und dem Irak vor, sich nicht bei der zuständigen Behörde registrieren zu lassen. Zusätzlich seien viele der lokalen Büros des DGMM derzeit überlastet, was zu Verzögerungen bei der Registrierung führt (RRT, ECRE, Dezember 2015, S. 22).
Laut Metin Çorabatır, Präsident des Research Centre on Asylum and Migration in Ankara, einem Zusammenschluss aus AkademikerInnen, JournalistInnen und humanitären HelferInnen, wurde manchen Asylsuchenden mitgeteilt, dass sie bis zum Jahr 2025 auf ihre erste Einvernahme warten müssen (IRIN, 12. April 2016). Laut Amnesty International werden Asylanträge von nicht-syrischen Staatsangehörigen in der Praxis kaum bearbeitet (AI, 24. Februar 2016).
Der Sondergesandte des Generalsekretärs für Migration und Flüchtlinge des Europarats, Botschafter Tomáš Boček, berichtet nach einer Fact-Finding-Mission vom 30. Mai bis 4. Juni 2016 ebenfalls von Rückständen bei der Bearbeitung von Ansuchen auf internationalen Schutz. Demnach habe es Ende Februar 140.000 offene Ansuchen für internationalen Schutz gegeben, im April 2016 sei diese Zahl auf 100.000 reduziert worden. Es wirke allerdings so, als sei diese Verringerung durch einen Abbruch vieler Fälle erzielt worden, wenn Asylsuchende zum Beispiel ihre Meldepflicht verletzt, oder sie einen unautorisierten Ortswechsel durchgeführt haben (CoE-CommDH, 10. August 2016, S. 10). 
 
Situation der Flüchtlinge in der Türkei

 
Aufnahme- und Lebensbedingungen


Die Möglichkeit auf langfristige, rechtliche Integration ist nach dem GAIS in der Türkei nur für europäische Flüchtlinge mit Flüchtlingsstatus gemäß der Genfer Konvention vorgesehen. Flüchtlinge aus nicht-europäischen Herkunftsländern, denen der Status „bedingt aufgenommener Flüchtling“, subsidiärer Schutz oder vorübergehender Schutz zugesprochen wurde, sind von einer möglichen langfristigen Integration ausgeschlossen (RRT, ECRE, Dezember 2015, S. 17-18 und S. 108). Laut Metin Çorabatır, Präsident der in Ankara ansässigen NGO Research Centre on Asylum and Migration, werden Flüchtlinge in der Türkei zwar toleriert, es seien aber keine Lebensgrundlagen und Möglichkeiten zur Integration vorhanden (IRIN, 12. April 2016).
Medienberichten zufolge hat der türkische Staatschef Erdogan Anfang Juli 2016 angekündigt, dass Syrer in Zukunft die Möglichkeit bekommen sollen die türkische Staatsbürgerschaft zu erwerben (ORF, 3.7. 2016). Insgesamt plane die Türkei bis zu 300.000 syrischen Flüchtlingen die Staatsbürgerschaft anzubieten. Die Einbürgerung könnte Etappenweise erfolgen, wobei erstmals 30.000 bis 40.000 gut ausgebildete Syrer die Möglichkeit auf eine türkische Staatsbürgerschaft erhalten würden (Die Zeit, 9. Juli 2016; Die Presse, 9. Juli 2016).


Laut dem DGMM lebten am Stichtag 11. August 2016 254.747 SyrerInnen innerhalb und 2.470.190 außerhalb von Flüchtlingslagern (DGMM, zuletzt aktualisiert am 16. August 2016). Die Flüchtlingslager werden von der türkischen Katastrophenschutzbehörde („Disaster and Emergency Management Agency“, AFAD) verwaltet. Zivilgesellschaftliche Organisationen haben beschränkt Zugang zu Flüchtlingen, um Leistungen anzubieten (Europäische Kommission, 10. November 2015, S. 71). Amnesty International gibt an, dass die vom Staat verwalteten Flüchtlingslager gut ausgestattet sind (AI, 24. Februar 2016). Laut eines Berichts des Europarats nach einer Fact-Finding-Mission vom 30. Mai bis 4. Juni 2016, gebe es nur eine beschränkte Anzahl an Ärzten in den Flüchtlingslagern. Außerdem werde anscheinend eine große Zahl von Kindern unter schwierigen hygienischen Umständen in den Lagern geboren. Es wirke auch so, als gebe es keine angemessene psycho-soziale Betreuung in den Lagern  (CoE-CommDH, 10. August 2016, S. 13).    


Für Flüchtlinge die außerhalb der Flüchtlingslager leben werden keine Unterbringungsmöglichkeiten oder Unterstützung bei Wohnkosten zur Verfügung gestellt. Mietpreise sind aufgrund der vielen Neuankommenden stark angestiegen, was zur Verarmung von tausenden von Flüchtlingen führt und Zugang zu angemessenen Wohnungen erschwert (CoE-CommDH, 10. August 2016, S. 14). Viele, von den 90 Prozent der syrischen Flüchtlinge außerhalb von Flüchtlingslagen leben unter ungeklärten und sehr schwierigen Umständen (ECHO, April 2016, S. 2; AI, 24. Februar 2016).
 
Laut der im Oktober 2014 in Kraft getretenen Regelung für vorübergehenden Schutz, TPR, die sich auf SyrerInnen bezieht, ist die Registrierung eine Voraussetzung, um Grundversorgungsangebote im Gesundheits-, Bildungs- und Sozialbereich sowie Übersetzungsdienste zu nützen (Europäische Kommission, 10. November 2015, S. 71). Der Zugang zu Registrierung sowie zu Information und öffentlichen Diensten wie Bildung und Gesundheit ist allerdings beschränkt. Jede türkische Provinz ist für eine vorgesehene Zahl von Menschen aus Syrien zuständig. Laut dem Bericht einer Fact-Finding-Mission des Europarats beenden die lokalen Stellen des DGMM nach Erreichen dieser Quoten in manchen Provinzen die Registrierung von syrischen Flüchtlingen, oder würden den Registrierungsprozess erheblich verlangsamen. Es sei nicht klar aufgrund welcher Voraussetzungen die Quoten zur Aufnahme von syrischen Flüchtlingen bestimmt werden. Nach Gesprächen mit den Behörden sei allerdings festgestellt worden, dass die Verzögerungen im Registrierungsprozess nicht aufgrund von mangelnden Kapazitäten entstehen würden (CoE-CommDH, 10. August 2016, S. 7-8).  
 
Die Aufnahmekapazitäten und Möglichkeiten angemessene Lebensumstände sowie Zugang zur Grundversorgung zu bieten sind von Stadt zu Stadt unterschiedlich, aber generell beschränkt (Europäische Kommission, 10. November 2015, S. 71). Provinzregierungen, die dabei mit lokalen NGOs zusammenarbeiten, sind für die Grundversorgung von Flüchtlingen, Asylsuchenden und SyrerInnen zuständig. Die Art der Grundversorgung in den jeweiligen Städten ist von den gegebenen Ressourcen sowie den lokalen AmtsträgerInnen und deren Auslegung der Gesetze abhängig. Nach In-Kraft-Treten der Regelung für vorübergehenden Schutz (TPR) im Oktober 2014 forderten manche Provinzen NGOs dazu auf, die Gesundheitsversorgung für nicht-registrierte syrische Flüchtlinge abzubrechen. Im Laufe des Jahres 2015 veröffentlichte die Regierung Richtlinien, die die Gesundheitsversorgung für registrierte syrische Flüchtlinge einschränken. Der Zugang zu Gesundheitsversorgung wurde auf die jeweilige Provinz der Registrierung beschränkt (USDOS, 13. April 2016).   Verzögerungen bei der Registrierung erschweren den Zugang zu Gesundheitsversorgung erheblich. Nicht-registrierte Flüchtlinge haben Zugang zu beschränkter Notfallversorgung, aber die Möglichkeit, in einem Spital zu entbinden, ist dabei zum Beispiel nicht eingeschlossen (CoE-CommDH, 10. August 2016, S. 15).
 
Reise- und Bewegungsfreiheit
 
Das GAIS sieht eine Wohnverpflichtung und Meldepflichten vor. Diese können gemäß Artikel 72 AntragstellerInnen auferlegt werden und gemäß Artikel 82 auch bedingt aufgenommenen Flüchtlingen und subsidiär Schutzberechtigten (DGMM, Juni 2014). Für vorübergehend Schutzberechtigte ist die Wohnverpflichtung und Meldepflicht in Artikel 33 TPR geregelt (DGMM, ohne Datum).
 
Bedingt aufgenommene Flüchtlinge und syrische Flüchtlinge mit vorübergehendem Schutzstatus werden in ihrer Bewegungsfreiheit in der Türkei eingeschränkt. Bedingt aufgenommene Flüchtlinge brauchen die Zustimmung der lokalen Verwaltung, um die Stadt, der sie zugeteilt wurden, zu verlassen. Diese Regelung gilt auch, wenn sie aus der Stadt reisen wollen, um sich mit UNHCR zu treffen oder mit für Resettlement zuständigen VertreterInnen anderer Staaten. Laut Medienberichten ist es auch syrischen Flüchtlingen mit vorübergehendem Schutzstatus nicht erlaubt, die ihnen auf ihren Identifikationsdokumenten zugeteilte Provinz zu verlassen. Demnach sollen die Behörden Busunternehmen dazu anhalten, die Identifikationsdokumente von Flüchtlingen zu prüfen, da sonst wegen Menschenhandels gegen sie ermittelt werden könnte. SyrerInnen könnten beim DGMM um eine Reiserlaubnis innerhalb der Türkei anfragen. Auslandsreisen für SyrerInnen mit vorübergehendem Schutzstatus wurden von der Regierung eingeschränkt, nur im Einzelfall ist es möglich, das Land aus anderen Gründen als Familienzusammenführung, Gesundheitsbehandlung oder Resettlement zu verlassen (USDOS, 13. April 2016).
Wenn Asylwerber, die um internationalen Schutz ansuchen, die Meldepflicht dreimal hintereinander ohne guten Gründen nicht einhalten, oder ihren zugeteilten Wohnsitz wechseln, wird das Verfahren für internationalen Schutz abgebrochen. (CoE-CommDH, 10. August 2016, S. 11)
 
Kinder und Bildung
 
Im März 2015 gab das Ministerium für nationale Bildung an, dass 93 Prozent der syrischen Kinder in Flüchtlingslagern, und 26 Prozent der Kinder außerhalb, eine Schule besuchen. UNICEF berichtete im August 2015 ebenfalls, dass die Schulbesuchsquote von Kindern außerhalb der Flüchtlingslager 26 Prozent beträgt (USDOS, 13. April 2016). Im Abschlussbericht der Fact-Finding-Mission des Europarats vom 30. Mai bis 4. Juni 2016 wird angegeben, dass 85 Prozent der Kinder in Flüchtlingslager eine Schule besuchen und dass rund 330.000 Syrische Kinder an Schulen gemeldet sind. Außerhalb der Flüchtlingslager ist die Zahl der Kinder, die keine Schulbildung erhalten, allerdings besorgniserregend, einige Kinder hätten bereits mehrere Jahre Schule versäumt (CoE-CommDH, 10. August 2016, S. 19). Manche Kinder außerhalb der Lager finden einen Platz in einer privaten syrischen Schule. Nur einige wenige können laut Amnesty International tatsächlich eine türkische Schule besuchen, dort gibt es aber weder speziellen Türkischunterricht noch andere Hilfen für die syrischen Flüchtlingskinder (AI, Februar 2016). Manche Schulen würden „Gast-Schüler“ nicht akzeptieren und auf Registrierungsdokumente bestehen, die aufgrund von Verzögerungen in der Registrierung teilweise schwer zu erhalten sind  (CoE-CommDH, 10. August 2016, S. 19).


Kinderarbeit ist unter den Flüchtlingen aller Herkunftsländer weit verbreitet (HRW, 27. Jänner 2016). Im September 2015 dokumentierte das US-amerikanische Nachrichtennetzwerk CBS mit Hilfe einer versteckten Kamera Sweatshops in unterschiedlichen Großstädten der Türkei in denen syrische Flüchtlinge arbeiten, darunter auch Kinder im Alter von 10 Jahren (CBS, 22. September 2015). Im August 2016 berichtet der Europarat ebenfalls, dass die Anstellung von Kindern unter 15 Jahren weiterhin ein Problem ist, der Zuzug von Flüchtlingen habe zu einem explosiven Anstieg der syrischen Kinder in Arbeitsverhältnissen, vor allem in der Textilindustrie und in der Landwirtschaft, geführt (CoE-CommDH, 10. August 2016, S. 20).


Laut dem Bericht des Sondergesandten des Generalsekretärs für Migration und Flüchtlinge des Europarats, Tomáš Boček, basierend auf einer Fact-Finding-Mission vom 30. Mai bis 4. Juni 2016, gibt es in der Türkei kein spezifisches Gesetz für Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge (UMFs). Er habe von einigen Kindern die alleine auf den Straßen leben gehört, aber die offizielle Zahl von UMFs in der Türkei sei überraschend niedrig. Die türkischen Behörden begründen das mit Anstrengungen in der Familienzusammenführung und es wirke als ob die entsprechenden Behörden unterschiedliche Verwandte, wie zum Beispiel Cousins, in die Suche nach Familienmitgliedern einbinden. Es gebe aber Bedenken, ob diese informellen Regelungen entsprechend beaufsichtigt werden. Für Kinder die als „unbegleitet“ gelten, sieht das türkische Zivilgesetz einen Vormund vor, in der Praxis scheint diese Regelung aber nicht umgesetzt zu werden (CoE-CommDH, 10. August 2016, S. 18).
 
Der oben genannte Bericht des Europarats weist auch darauf hin, dass es Hinweise auf eine steigende Zahl von Verehelichung von syrischen Mädchen aufgrund von Armut oder den „Schutz der Ehre des Kindes“ gebe. Berichten zufolge würden Mädchen auch als Ehefrauen an ältere Männer „vermarktet“ werden (CoE-CommDH, 10. August 2016, S. 21).


Zugang zum Arbeitsmarkt


In der Türkei ist das Verfahren für ausländische Staatsbürger eine Arbeitserlaubnis zu bekommen sehr strikt und es ist nur für wenige Flüchtlinge möglich, legal in der Türkei zu arbeiten (FIDH, 18. April 2016). Die türkische englischsprachige Tageszeitung Hürriyet Daily News gibt im Juli 2016 an, dass, laut der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu Agency, vom Jänner bis Juli 2016 insgesamt 5.502 SyrerInnen eine Arbeitserlaubnis in der Türkei erhalten hätten (Hürriyet Daily News, 8. Juli. 2016). Der Europarat weist jedoch darauf hin, dass keine genauen Zahlen zu den angeforderten und erteilten Arbeitserlaubnissen vorliegen. Das Fehlen von Daten erschwere die Evaluierung des Systems. In der Praxis sei die Erteilung von Arbeitserlaubnissen auch in den einzelnen Provinzen stark unterschiedlich (CoE-CommDH, 10. August 2016, S. 16).


Laut Refugee International steht die Entwicklung des Verfahrens für den Zugang zum Arbeitsmarkt noch ganz am Anfang. Viele Details, wie zum Beispiel die Länge des Bewilligungsverfahrens für eine Arbeitserlaubnis und die Anerkennung von Qualifikationen für Berufsgruppen wie Ärzte und Lehrer, sind nicht geklärt. Refugee International interviewte politische Entscheidungsträger, Dienstleister und Flüchtlinge, die davon ausgehen, dass nur rund 20.000 oder 40.000 syrische Flüchtlinge einen Vorteil durch die neue Arbeitserlaubnis haben werden (RI, 14. April 2016, S. 4). Arbeitgeber würden es vorziehen, niedrige Gehälter an illegale ArbeiterInnen zu bezahlen. Dazu komme, dass der bürokratische Aufwand, besonders für gering qualifizierte Arbeitskräfte mühsam sei (CoE-CommDH, 10. August 2016, S. 16). Durch den fehlenden Zugang zu legalen Arbeitsmöglichkeiten sind Flüchtlinge in der Türkei gefährdet in illegalen Arbeitsverhältnissen ausgebeutet zu werden, unter gefährlichen Bedingungen arbeiten zu müssen, oder zum Beispiel Gehälter nicht ausgezahlt zu bekommen (USDOS, 13. April 2016). In vielen Fällen können Flüchtlinge nur durch ausbeuterische und irreguläre unterbezahlte Arbeit, oder durch die Wohlfahrt und Hilfe von Nachbarn, überleben (AI, 24. Februar 2016).


Rückschiebungen in Herkunftsländer, Einreiseverweigerung und Haft


Amnesty International berichtet, dass die türkische Regierung laut Zeugenaussagen syrische Flüchtlinge, darunter auch schwangere Frauen und Kinder, verhaftet und hunderte davon zurück nach Syrien schickt, was sowohl nach türkischem als auch nach internationalem Recht illegal ist. Flüchtlinge aus anderen Herkunftsländern seien ebenfalls von Abschiebungen betroffen. Die Türkei habe 30 afghanische Flüchtlinge nach Afghanistan abgeschoben, obwohl diese angaben, dass sie bei einer Rückkehr von den Taliban bedroht seien. Die türkischen Behörden haben in den letzten Monaten die Grenzen der Türkei für fast alle syrischen Flüchtlinge geschlossen und Amnesty International berichtet im April 2016, dass sich Berichte gemehrt hätten, wonach Flüchtlinge bei dem Versuch die Grenze zu überqueren erschossen und getötet wurden (AI, 22 April 2016; siehe auch HRW, 10. Mai 2016). 200 Flüchtlinge, hauptsächlich SyrerInnen, seien laut Amnesty International bei dem Versuch unrechtmäßig die Grenze zu überqueren an unterschiedlichen Orten in der Türkei in Haft ohne Kontakt zur Außenwelt oder sogar geheim in Haft genommen worden. Viele seien unter Druck gesetzt worden, einer „freiwilligen Rückkehr“ nach Syrien oder in den Irak zuzustimmen (AI, 24. Februar 2016). Der Europarat schreibt ebenfalls im August 2016, dass alles darauf hinweise, dass die Grenze von Syrien in die Türkei geschlossen sei und dass seit März 2015 nur Personen die dringend medizinische Versorgung benötigen durchgelassen werden. Personen, die beim Grenzübergang aufgegriffen werden, würden entweder gleich zurück in die Türkei gebracht, oder in Haft genommen und dann oft in größeren Gruppen ausgewiesen. Es gebe Berichte, dass türkische Grenzschutzbeamte auf Personen, die die syrische Grenze überqueren wollten, geschossen haben und dass dabei SyrerInnen getötet worden sind. Es sei daher bedenklich, ob sich die Türkei an das Non-Refoulment-Prinzip halte und ob die Türkei kollektive Ausweisungen durchführe. Kollektive Ausweisungen scheinen laut dem türkischen Gesetz nicht verboten zu sein. Das Gesetz sieht zwar vor, dass jede Person vor der Ausweisung über Entscheidungen hinsichtlich ihres Schutzstatus informiert wird, das bedeutet aber nicht zwingendermaßen, dass bei jeder Person eine individuelle Bewertung der Notwendigkeit der Abschiebung durchgeführt wird (CoE-CommDH, 10. August 2016, S. 28-29).
 
Neben Berichten von Refoulement an der syrischen Grenze, gebe es auch Angaben, dass SyrerInnen die in der Türkei aufgegriffen werden auch dem Risiko ausgesetzt sind zurück nach Syrien geschickt zu werden. Laut der türkischen Behörden werden in der Türkei aufgegriffene SyrerInnen in die für sie zuständige Provinz gebracht oder registriert. Es gebe allerdings Vorwürfe, dass SyrerInnen in abgelegene Haftanstalten gebracht werden, wo in manchen Fällen längere Haft und die Abschiebung nach Syrien drohe (CoE-CommDH, 10. August 2016, S. 29). Nicht-Syrische Flüchtlinge in Haftanstalten hätten laut des Berichts der Fact-Finding-Mission des Europarats vom 30. Mai bis zum 4. Juni 2016 angegeben, dass Sie unter Druck stehen würden freiwillige Rückkehrabkommen zu unterschreiben (CoE-CommDH, 10. August 2016, S. 30)
 
Das „Gesetz über die Ausländer und den internationalen Schutz“ (GAIS) (DGMM, Juni 2014), sieht zwei Arten der Haft vor: die Verwaltungsaufsicht von Fremden zum Zweck der Ausweisung (Artikel 57) und die Verwaltungsaufsicht von Personen, die einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt haben (Artikel 68). Im GAIS sind Schutzmaßnahmen für Personen in Verwaltungsaufsicht enthalten, sie müssen über den Beschluss, die Gründe und die Dauer ihrer Verwaltungsaufsicht informiert werden. Der Europarat berichtet allerdings von Problemen bei der Anwendung dieser Schutzmaßnahmen. Alle Personen, die im Rahmen der Fact-Finding-Mission des Europarats interviewt wurden, gaben an, dass sie nicht wissen würden, warum sie in Haft seien. Die Regelung für vorübergehenden Schutz (TPR) enthalte ebenfalls sehr breit angelegte Befugnisse, die problematisch sind. Es werden keine Entscheidungen zur Autorisierung von Verwaltungshaft benötigt und es fehlen Schutzmechanismen wie Beschränkungen zur Dauer der Haft (CoE-CommDH, 10. August 2016, S. 26).
 
EU-Türkei-Abkommen

Das EU-Türkei-Abkommen folgt dem gemeinsamen Aktionsplan der EU und der Türkei vom 29. November 2015 und knüpft an eine gemeinsames Erklärung der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union und des Ministerpräsidenten der Türkei vom 7. März 2016 an (Europäische Kommission, 19. März 2016).


Seit Beschluss des gemeinsamen Aktionsplans der EU und der Türkei vom 29. November 2015 hat die Türkei bereits die Möglichkeit einer Arbeitserlaubnis für vorübergehend schutzberechtigte SyrerInnen geschaffen und neue Visabedingungen für SyrerInnen und Staatsangehörige anderer Staaten eingeführt. Die türkische Küstenwache und die türkische Polizei haben ihre Sicherheitsmaßnahmen intensiviert und der Informationsaustausch wurde verstärkt. Die Europäische Union hat mit der Auszahlung von 3 Milliarden Euro aus der „Fazilität für Flüchtlinge in der Türkei“ für konkrete Projekte begonnen und die Arbeiten zur Visaliberalisierung mit der Türkei sowie die Beitrittsgespräche wurden fortgeführt (Europäischer Rat, 18. März 2016).


Gemäß Erklärung des Europäischen Rates vom 18. März 2018 haben die EU und die Türkei zusätzliche Maßnahmen zur Beendigung der irregulären Migration beschlossen. Das Abkommen umfasst folgende Punkte:
 
„1) Alle neuen irregulären Migranten, die ab dem 20. März 2016 von der Türkei auf die griechischen Inseln gelangen, werden in die Türkei rückgeführt. Hierbei wird das EU-Recht und das Völkerrecht uneingeschränkt gewahrt, so dass jegliche Art von Kollektivausweisung ausgeschlossen ist.
[…] alle Asylanträge werden von den griechischen Behörden gemäß der Asylverfahrensrichtlinie auf Einzelfallbasis bearbeitet, in Zusammenarbeit mit dem UNHCR. Migranten, die kein Asyl beantragen oder deren Antrag gemäß der genannten Richtlinie als unbegründet oder unzulässig abgelehnt wird, werden in die Türkei rückgeführt. […]
 
2) Für jeden von den griechischen Inseln in die Türkei rückgeführten Syrer wird ein anderer Syrer aus der Türkei in der EU neu angesiedelt, […]
 
3) Die Türkei wird alle erforderlichen Maßnahmen ergreifen, um zu verhindern, dass neue See- oder Landrouten für die illegale Migration von der Türkei in die EU entstehen […]
 
4) Sobald die irregulären Grenzüberquerungen zwischen der Türkei und der EU enden oder zumindest ihre Zahl erheblich und nachhaltig zurückgegangen ist, wird eine Regelung für die freiwillige Aufnahme aus humanitären Gründen aktiviert. […]
 
5) Der Fahrplan für die Visaliberalisierung wird hinsichtlich aller beteiligten Mitgliedstaaten beschleunigt vollzogen, […]
 
6) Die EU wird in enger Zusammenarbeit mit der Türkei die Auszahlung der im Rahmen der Fazilität für Flüchtlinge in der Türkei ursprünglich zugewiesenen 3 Milliarden Euro weiter beschleunigen […] Sobald diese Mittel nahezu vollständig ausgeschöpft sind, wird die EU […] zusätzliche Mittel für die Fazilität in Höhe von weiteren 3 Milliarden Euro bis Ende 2018 mobilisieren.
 
7) Die EU und die Türkei haben die laufenden Arbeiten zum Ausbau der Zollunion begrüßt.
 
8) Die EU und die Türkei bekräftigten ihre Entschlossenheit zur Neubelebung des Beitrittsprozesses […]
 
9) Die EU und ihre Mitgliedstaaten werden mit der Türkei bei allen gemeinsamen Anstrengungen zur Verbesserung der humanitären Bedingungen in Syrien, hier insbesondere in bestimmten Zonen nahe der türkischen Grenze, zusammenarbeiten, damit die ansässige Bevölkerung und die Flüchtlinge in sichereren Zonen leben können.“ (Europäischer Rat, 18. März 2016a)


Die EU-Asylregelungen ermöglichen Asylanträge unter bestimmten Umständen als unzulässig zurückzuweisen. In Hinblick auf die Türkei könnte das auf Grundlage der Regelungen des Begriffs des „ersten Asylstaats“ und aufgrund des „Konzeptes des sicheren Drittstaats“ angedacht werden (Europäische Kommission, 19. März 2016). Der Begriff des „ersten Asylstaats“ ist in Artikel 35 der EU-Richtlinie 2013/32/EU zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes geregelt. Er besagt, dass ein Staat als erster Asylstaat für eine/n AntragstellerIn angesehen werden kann, wenn der/die AntragstellerIn in dem betreffenden Staat als Flüchtling anerkannt wurde und er/sie diesen Schutz weiterhin in Anspruch nehmen darf oder ihm/ihr in dem betreffenden Staat anderweitig ausreichender Schutz gewährt wird. Das Konzept des „sicheren Drittstaats“ ist unter Artikel 38 derselben Richtlinie normiert und kann zur Anwendung kommen, wenn eine Person zwar noch keinen Schutzstatus in einem Drittstaat hat, aber ein Drittstaat dem/der Asylsuchenden effektiven Schutz bieten kann (Richtlinie 2013/32/EU, S. 79-81).
 
Zur Anwendung dieser Konzepte auf die Türkei siehe auch weiter unten genannte Berichte.


Aktuelle Entwicklungen


Am 15. Juli 2016 versuchte ein Teil des türkischen Militärs bei einem Umsturzversuch die Macht im Land zu übernehmen und scheiterte. Präsident Erdoğan verhängte daraufhin den Ausnahmezustand und eine große Zahl an Menschen sind nach dem Putschversuch in Gewahrsam genommen oder entlassen worden (Die Zeit, ohne Datum). In einer Presseausendung vom September 2016 schreibt das Europäische Parlament, dass die  EU-Abgeordneten des Außenausschusses besorgt über die Reaktion der türkischen Regierung auf den gescheiterten Putschversuch im Juli 2016 und die Rechtsstaatlichkeit im Land seien. Ankara kritisierte wiederum die EU, den Putschversuch nicht entschieden genug verurteilt zu haben. Unter Androhung der Aufkündigung des oben beschriebenen Flüchtlingsabkommens fordere die Türkei die Umsetzung der Visafreiheit. Laut  der EU müsse die Türkei jedoch zuerst alle geforderten Kriterien für die Visaliberalisierung erfüllen  (Europäisches Parlament, 2. September 2016).


Im August 2016 schreibt die britische Tageszeitung The Guardian, dass europäische Politiker, bei einem Scheitern der Verhandlungen zur Visaliberalisierung, den Zusammenbruch des EU-Türkei-Übereinkommens fürchten würden. Laut dem Direktor des UNHCR Europabüros, Vincent Cochetel, seien Teile des EU-Türkei-Übereinkommens jedoch bereits effektiv suspendiert wurden, da die Türkei nach dem Putschversuch ihre Polizeibeamten von den griechischen Inseln abgezogen habe. Rückführungen seien nur unter Anwesenheit der Polizei möglich. Während es Verhandlungen zwischen der türkischen Polizei und der Europäischen Grenzschutzagentur FRONTEX mit der türkischen Polizei gebe, sei nicht klar wann die Kooperation wieder aufgenommen werde (The Guardian, 31. August 2016).
 
Die Umsetzung des EU-Türkei-Übereinkommens vor dem Putschversuch wurde von der Europäischen Kommission zuletzt in einem im Juni 2016 veröffentlichten zweiten Bericht beschrieben. Demnach wurden insgesamt 462 irreguläre MigrantInnen, die nach dem 20. März 2016 in Griechenland angekommen sind und nicht um Asyl angesucht haben, zurück in die Türkei geschickt. Davon kamen 31 Personen, die freiwillig zurück in die Türkei reisten, aus Syrien. Weitere zurückgekehrte MigrantInnen stammten unter anderem aus Pakistan, Afghanistan, Bangladesch und Iran sowie aus Irak, Indien, dem Kongo, Algerien, Sri Lanka, Marokko, Nepal, Somalia, der Elfenbeinküste Ägypten und Palästina (Europäische Kommission, 15. Juni 2016a, S. 4). Der Europarat gibt an, dass mit Stichtag 22. Juni 2016 insgesamt 468 Personen von Griechenland in die Türkei zurückgekehrt sind. Darunter seien mindestens 13 Personen die versucht hätten Asyl in Griechenland zu beantragen, aber die bevor sie ihren Antrag stellen konnten zurück in die Türkei geschickt wurden (CoE-CommDH, 10. August 2016, S. 30). Laut dem Europarat sind mit Stichtag 22. Juni 2016 seit dem 4. April  insgesamt 733 Flüchtlinge in neun EU-Mitgliedsstaaten umgesiedelt worden. Deutschland und Schweden nimmt die meisten aus der Türkei angesiedelten Flüchtlinge auf. Es gebe auch Berichte, dass Flüchtlinge mit akademischen oder professionellen Qualifikationen, denen im Rahmen des EU-Türkei-Abkommens ein Resettlement-Platz in Europa zugesprochen wurde, ohne Angabe von Gründen, die Ausreise aus der Türkei verwehrt wurde (CoE-CommDH, 10. August 2016, S. 30).
 
Die Europäische Kommission veröffentlicht zudem Fact Sheets mit Informationen zur Umsetzung des EU-Türkei-Abkommens, in denen die Entwicklungen in der Türkei und Griechenland dargestellt werden. Dem Fact Sheet vom 15. Juni 2016 zufolge habe die Türkei u.a. folgendes umgesetzt:
  • formell garantiert, dass alle SyrerInnen, die von Griechenland in die Türkei gebracht werden, ihren Schutzstatus in der Türkei im Rahmen der TPR erneuert bekommen,
  • formell garantiert, dass alle Nicht-SyrerInnen, die von Griechenland in die Türkei gebracht werden und internationalen Schutz benötigen, um Schutz in der Türkei ansuchen können, ihre Anträge zeitgerecht bearbeitet werden und sie vor Refoulement geschützt sind,
  • den Zugang zum Arbeitsmarkt für Nicht-SyrerInnen mit internationalem Schutzstatus geöffnet,
  • einen Plan zur Verringerung des Rückstaus der Anträge auf internationalen Schutz von Nicht-SyrerInnen und einen Plan zur Umsetzung freiwilliger Rückkehr erarbeitet.
Das Fact Sheet enthält darüber hinaus Informationen zum Stand der Umsetzungen in Griechenland, zur Zahl der Ankommenden, sowie zur Zahl der zugesagten und auch der davon bereits eingesetzten ExpertInnen, die Griechenland unterstützen sollen. (Europäische Kommission, 15. Juni 2016b)


Die Parlamentarische Versammlung des Europarates  hat im April 2016 einen Bericht zur Situation von Flüchtlingen und MigrantInnen unter dem EU-Türkei-Abkommen veröffentlicht. Die Parlamentarische Versammlung kritisiert Zustände in Griechenland und äußert in Bezug auf die Türkei, dass unter Umständen in der Türkei nicht genügend Schutzmöglichkeiten für Flüchtlinge gegeben sind. Eine Rückführung von AsylweberInnen könnte daher gegen internationales Recht verstoßen. Es habe Verzögerungen von Seiten der EU bei den Auszahlungen für die finanzielle Unterstützung der Türkei gegeben. Insbesondere der Schutz für bedingt aufgenommene Flüchtlinge und für subsidiär Schutzberechtigte entspreche nicht dem Schutz gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention. SyrerInnen würden als Nicht-EuropäerInnen nicht um Flüchtlingsstatus ansuchen können und sollten demnach nicht unter Berufung auf Artikel 38 der EU-Verfahrensrichtlinie in die Türkei zurückgebracht werden. (CoE-PACE, 19. April 2016).
 
Weitere Berichte zum Thema

 
Der oben erwähnte Bericht der Parlamentarischen Versammlung des Europarates ist unter folgendem Link auf Englisch erhältlich:  


Eine Zusammenfassung und Diskussion der rechtlichen Hintergründe zum EU-Türkei-Abkommen auf Basis von internationalem und europäischem Recht von UNHCR ist unter folgendem Link zugänglich:
  • UNHCR - UN High Commissioner for Refugees: Legal considerations on the return of asylum-seekers and refugees from Greece to Turkey as part of the EU-Turkey Cooperation in Tackling the Migration Crisis under the safe third country and first country of asylum concept, 23. März 2016
    http://www.refworld.org/docid/56f3ee3f4.html
 
 
Zur Aufnahmelage in der Türkei und insbesondere zur Anwendung der Konzepte des „sicheren Drittstaats“ oder des „ersten Asylstaats“ auf die Türkei siehe auch folgenden gemeinsamen Hintergrundbericht des Dutch Council for Refugees (DCR) und von ECRE:  
Amnesty International veröffentlichte im Juni 2016 einen Bericht zum internationalen Schutz in der Türkei: Zu diesem Bericht ist eine Pressemitteilung in deutscher Sprache verfügbar, in der die wichtigsten Punkte kurz zusammengefasst sind:  
Der Europarat veröffentlicht einen Bericht des Sonderbeauftragten des Generalsekretärs für Migration und Flüchtlinge, Tomáš  Boček, der vom 30. Mai bis zum 4. Juni 2016 auf einer Fact-Finding-Mission in der Türkei war:
  • CoE-CommDH - Council of Europe - Commissioner for Human Rights: Report of the fact-finding mission to Turkey by Ambassador Tomáš Boček, Special Representative of the Secretary General on migration and refugees, 30 May – 4 June 2016 [SG/Inf(2016)29], 10. August 2016 (verfügbar auf ecoi.net)
    http://www.ecoi.net/local_link/328551/469354_de.html
 
QUELLEN: (falls nicht anders angegeben, Zugriff auf alle Links am 12. September 2016)

       

 

Dieses Themendossier beruht auf einer zeitlich begrenzten Recherche. Es ist als Einstieg in bzw. Überblick über ein Thema gedacht und stellt keine Meinung zum Inhalt eines Ansuchens um Asyl oder anderen internationalen Schutz dar. Alle Übersetzungen sind Arbeitsübersetzungen für die keine Gewähr übernommen werden kann. Chronologien stellen keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Jede Aussage wird mit einem Link zum entsprechenden Dokument referenziert.

This featured topic was prepared after research within time constraints. It is meant to offer an overview on an issue and is not, and does not purport to be, conclusive as to the merit of any particular claim to refugee status, asylum or other form of international protection. Chronologies are not intended to be exhaustive.