Anfragebeantwortung zu Afghanistan: 1) Zielen Rachehandlungen wegen vorehelichem Geschlechtsverkehr nur auf den „Täter" ab oder können auch andere Mitglieder seiner Familie zum Ziel werden?; 2) Möglichkeit, bei staatlichen Stellen um Schutz vor Rachehandlungen anzusuchen [a-10006-1]

23. Februar 2017

Das vorliegende Dokument beruht auf einer zeitlich begrenzten Recherche in öffentlich zugänglichen Dokumenten, die ACCORD derzeit zur Verfügung stehen sowie gegebenenfalls auf Expertenauskünften, und wurde in Übereinstimmung mit den Standards von ACCORD und den Common EU Guidelines for processing Country of Origin Information (COI) erstellt.

Diese Antwort stellt keine Meinung zum Inhalt eines Ansuchens um Asyl oder anderen internationalen Schutz dar. Alle Übersetzungen stellen Arbeitsübersetzungen dar, für die keine Gewähr übernommen werden kann.

Wir empfehlen, die verwendeten Materialien im Original durchzusehen. Originaldokumente, die nicht kostenfrei oder online abrufbar sind, können bei ACCORD eingesehen oder angefordert werden.

 

Thomas Ruttig, Kodirektor des Afghanistan Analysts Network (AAN)[1], antwortet in einer E-Mail-Auskunft vom Februar 2017 auf die Frage, ob sich Rachehandlungen wegen vorehelichem Geschlechtsverkehr auch auf andere männliche Familienmitglieder als den Verursacher selbst erstrecken könnten, dass derartige Ehrverletzungen so wie auch Mord unter „Blutrache“ (oder richtiger: „badal“ („Austausch“)) fallen würden. Eine Verletzung der Ehre wiege nicht weniger schwer als die Tötung einer Person. „Badal“ werde zwischen den beteiligten Familien – auch unter Miteinbeziehung der erweiterten Familie – „ausgemacht“ und sei im Grunde identisch mit dem qesas/qisas-Prinzip in der Scharia. In ähnlich gelagerten Fällen sei es schon wiederholt vorgekommen, dass beteiligte Familien den Liebhabern Vergebung zugesichert und sie dann bei der Heimkehr aus ihrem Zufluchtsort getötet hätten. Das Thema Ehrverletzung sei daher „sehr explosiv“. In der vorliegenden Konstellation sei neben dem Verursacher selbst nicht nur dessen Bruder in Gefahr, sondern auch der Vater. Dieser habe möglicherweise das Überleben der Familie sichern wollen, indem er wenigstens einen Sohn außer Reichweite der Rachesuchenden gebracht habe. (Ruttig, 20. Februar 2017)

 

In einem im November 2007 veröffentlichten Bericht zu einem von ACCORD veranstalteten Herkunftsländerseminar zu Afghanistan findet sich die Zusammenfassung eines Vortrags von Mohammad Aziz Rahjo, damals Mitarbeiter des UNO-Flüchtlingshochkommissariats (UNHCR) in Kabul. Wie Rahjo bemerkt, gebe es in Afghanistan den Begriff „namus“, der mit „Ehre“, aber auch mit „Eigentum“ übersetzt werden könne. Basierend auf der traditionellen afghanischen Redensart „zan, zar, zamin“ (Frauen, Gold, Land) umfasse der Begriff „namus“ die Ehefrau (bzw. die Ehre der weiblichen Familienmitglieder), Eigentum und das Recht auf Wasser und Land. Wenn eines dieser „namus“-Elemente verletzt werde, werde das Thema Blutfehde garantiert aufkommen. Blutfehden seien ein Phänomen, das vor allem unter paschtunischstämmigen Afghanen zu beobachten sei, komme jedoch auch bei ethnischen Usbeken und Tadschiken vor (allerdings in geringerem Ausmaß als bei Paschtunen):

„In Afghanistan there is the word namus. Namus translates as ‘honour’, but it translates as ‘property’ as well. Based on the Afghan traditional proverb ‘zan, zar, zamin’ (women, gold, and land), ‘property’ or namus covers wife (or the honour of female family members), property, the right to water and land. If one of these elements of namus is violated, then for sure the question of blood feud and revenge will arise. Blood feud is a feature mainly among Pashtun ethnic origin, but also among Uzbeks and Tajiks (though not to the extent that exists among the Pashtun families and tribes).” (ACCORD, November 2007, S. 34)

Das UNO-Flüchtlingshochkommissariat (UN High Commissioner for Refugees, UNHCR) geht in seinen im April 2016 veröffentlichten Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender folgendermaßen auf die Lage von Personen ein, die in Blutfehden verwickelt seien:

„Gemäß althergebrachter Verhaltens- und Ehrvorstellungen töten bei einer Blutfehde die Mitglieder einer Familie als Vergeltungsakte die Mitglieder einer anderen Familie. In Afghanistan sind Blutfehden in erster Linie eine Tradition der Paschtunen und im paschtunischen Gewohnheitsrechtssystem Paschtunwali verwurzelt, kommen jedoch Berichten zufolge auch unter anderen ethnischen Gruppen vor. Blutfehden können durch Morde ausgelöst werden, aber auch durch andere Taten wie die Zufügung dauerhafter, ernsthafter Verletzungen, Entführung oder Vergewaltigung verheirateter Frauen oder ungelöster Streitigkeiten um Land, Zugang zu Wasser oder Eigentum. Blutfehden können zu lang anhaltenden Kreisläufen aus Gewalt und Vergeltung führen. Nach dem Paschtunwali muss die Rache sich grundsätzlich gegen den Täter selbst richten, unter bestimmten Umständen kann aber auch der Bruder des Täters oder ein anderer Verwandter, der aus der väterlichen Linie stammt, zum Ziel der Rache werden. Im Allgemeinen werden Berichten zufolge Racheakte nicht an Frauen und Kindern verübt.“ (UNHCR, 19. April 2016, S. 90-91)

UNHCR bemerkt in seinen Richtlinien weiters, dass „Männer, die vermeintlich gegen vorherrschende Gebräuche verstoßen“, ebenso wie Frauen, „einem Misshandlungsrisiko ausgesetzt sein [könnten], insbesondere in Fällen von mutmaßlichem Ehebruch und außerehelichen sexuellen Beziehungen“ (UNHCR, 19. April 2016, S. 74).

 

Lutz Rzehak, Privatdozent am Zentralasien-Seminar der Humboldt-Universität zu Berlin (Deutschland), schreibt in einem vom AAN veröffentlichten Artikel vom März 2011, dass schlechte Taten (ebenso wie gute) eine reziproke Reaktion erfordern würden. Falls es sich bei der schlechten Tat um einen Angriff auf die Ehre oder körperliche Integrität einer Person handle, bedeute dies, Rache für die Tat zu nehmen. Diese Rache habe das Ziel, das ursprüngliche Gleichgewicht zwischen Personen und Gruppen sowie die Ehre wieder herzustellen. Dieses Gleichgewicht wird auch als „badal“ bezeichnet. Ein Zyklus gewaltsamer Vergeltungstaten könne in eine Blutfehde münden. Diese Fehden würden nicht deshalb „Blutfehden“ genannt, weil es dabei unbedingt zu Blutvergießen kommen müsse, sondern weil sie von blutsverwandten Familiengruppen ausgeführt würden. Rachehandlungen könnten durch patrilineare Verwandte (d.h. Verwandte in männlicher Linie) der verletzten, getöteten oder anderweitig geschädigten bzw. entehrten Person vorgenommen werden und könnten sich gegen den Täter selbst oder einen von dessen patrilinealen Verwandten richten:

„Like good deeds, bad deeds also call for reciprocation. If a bad deed consists in an attack on a person's honour or physical integrity, reciprocation means to take revenge. Revenge is aimed at restoring the primary balance between individuals and groups and at retrieving one's honour. This equivalence is also called badal. A cycle of retaliatory violence can turn into a blood feud. Such feuds are named blood feud not because bloodshed must be necessarily involved, but because they are carried out by kin groups which are related by blood, i.e. by descent groups of different genealogical depth. Revenge can be taken by the patrilineal relatives of someone who has been wounded, killed or otherwise wronged or dishonoured, and it can be directed against the offender or against one of his patrilineal relatives.” (Rzehak, 21. März 2011, S. 15)

Die britische Nichtregierungsorganisation Country of Origin Research and Information (CORI) zitiert in einem im Februar 2014 veröffentlichten Herkunftsländerbericht den an der Boston University (USA) tätigen Anthropologieprofessor Thomas Barfield mit der Aussage, dass Blutfehden, die mit Frauen in Zusammenhang stünden, auf eine Entehrung einer Frau durch einen Außenstehenden, etwa durch Vergewaltigung oder gemeinsames „Weglaufen“, zurückzuführen seien. Die männlichen Blutsverwandten der Frau (oder der Ehemann, falls die Frau verheiratet sei), würden dann versuchen, den „Täter“ aus Vergeltung zu töten. Neben Blutfehden gebe es noch die Kategorie „Verlust von Ehre“ („namus“) infolge eines (wahrgenommenen) Verhaltens der Frau, das intern in der Familie als Schande angesehen werde und zu ihrer Tötung führe. Bei solchen „Ehrenmorden“ würden die Frau (und im Falle gemeinsamen Weglaufens auch der beteiligte Mann) getötet, um die Ehre der Familie wieder herzustellen. Barfield weist darauf hin, dass die Tötung eines an einer solchen Ehrverletzung beteiligten Mannes nicht Teil eines (Blut)rachezyklus sei, da Rachehandlungen nicht von Verwandten eines Mannes ausgeführt werden könnten, der zum Zeitpunkt seiner Tötung eine „schändliche“ Tat begangen habe. Indes könne ein „erfolgreiches“ gemeinsames Weglaufen mitunter eine Blutfehde auslösen, wenn der Familienverband des Mannes dem Paar Schutz biete und es zu keiner Einigung mit der Familie der Frau komme. Wie Barfield weiter bemerkt, seien Frauen, Mädchen und Buben von Blutrache ausgenommen. Die häufigsten Ziele seien Brüder des Täters, obwohl auch andere erwachsene patrilineare männliche Verwandte des Täters auch gefährdet sein könnten. Bezüglich der Frage, welches Spektrum an Personen ein geeignetes Ziel sein könnten, gebe es unterschiedliche Meinungen. So könne die Tötung eines alten Großvaters als unehrenhaft angesehen werden, obwohl dieser der älteste Mann im Familienverband sei:

„Blood feuds involving women generally centre on a violation against a woman by outsiders, for example rape or elopement. A woman's male relatives (or husband if married) make seek the offenders life in retaliation. A second category is loss of their honour (namus) resulting either from a woman's perceived behaviour that is believed to shame the group internally that results in her murder. In such ‘honour killings’ the woman (and in the case of an elopement sometimes the man) are killed in an attempt to restore the groups' honour ([the] fact that the very incident occurred lowers the perception of a group's honour permanently and taking even such violent action cannot fix that fact.) It is important to note that such killings do not fall into the revenge cycle even when the man involved is killed because (at least by Pashtun thinking) revenge cannot be taken by relatives of a man engaged in a dishonourable act at the time of his murder (a thief killed in the house of his victim, an adulterous man killed in flagrante delicto). A successful elopement can sometimes spark a blood feud if the man's group provides protection of the couple but comes to no accommodation with the woman's group." (CORI, Februar 2014, S. 19)

„Women, girls and boys are excluded as targets in blood feuds. The most common targets are brothers of the perpetrator although other adult patrilineally related males may be at risk. Opinions seem to differ about the range of suitable targets— an old grandfather is the most senior male but killing him would likely be seen as disreputable.” (CORI, Februar 2014, S. 21)

Weiters zitiert CORI Noah Coburn, einen am US-amerikanischen Bennington College tätigen Anthropologen mit Schwerpunkt Afghanistan, dass alles, was die „Unantastbarkeit“ des Heims, zu dem auch die Frauen gehören würden, verletze, zu einem Ehrverlust führen könne. Hierzu zähle Ehebruch, aber auch das einfache Anstarren von Frauen einer anderen Familie oder das Spähen über eine Hausmauer. In 95 Prozent der Fälle (Ehebruch ausgenommen) gebe es eine Möglichkeit, den Konflikt friedlich zu lösen. So würde das Spähen über eine Mauer in den meisten Fällen zu keiner Blutfehde führen. Nur diejenigen Fälle, die nicht lokal gelöst werden könnten und zu Blutfehden führen würden, würden öffentliches Aufsehen erregen. Wie Coburn bemerkt, sei es in Dörfern, wo „alle Cousins“ seien, einfacher, die Unantastbarkeit der Frauen zu bewahren als in großen Städten wie Karachi, wo man als Flüchtling hinziehe.

„Anything that violates the sanctity of your home which includes your women, so at the far end of the spectrum adultery, a little bit less perhaps, trespass. But again those are the types of things that actually that 95% of the time, but maybe not adultery of course, but 95% of the time there is a way to resolve that peacefully, its just the ones that come to everybody's attention that spiral off that can't be resolved locally.” (CORI, Februar 2014, S. 11)

"[T]here is a whole range of things, [ ] from adultery to simply being accused of staring at somebody else's women or trying to peek over the wall at them. [ ] most of those things get resolved locally pretty quickly, if you peek over a wall most of the time that doesn't become a blood feud. [ ] preserving the sanctity of your women is very easy in the village where everybody are cousins but all of a sudden you leave and go live as a refugee in Karachi or something or even worse you leave and go live as an immigrant in London all of a sudden the people living next door to you are no longer your 3rd and 4th cousins but are essentially strangers, so that's one of the things that makes these so called honour killings." (CORI, Februar 2014, S. 19-20)

Das norwegische Herkunftsländerinformationszentrum Landinfo geht in einem im November 2011 veröffentlichten Bericht auf das Thema Blutrache vor allem als Reaktion auf Morde ein. Blutrache sei in erster Linie eine paschtunische Tradition und die Verbindung von Blutrache und Ehre zeige sich darin, dass die Unfähigkeit, eine Tat zu vergelten, als Zeichen moralischer Schwäche angesehen werde und zur Wahrnehmung führen könne, dass es der ganzen Verwandtschaftsgruppe an moralischem Charakter fehle. Die Person, die Rache übe, müsse ein naher Verwandter des (getöteten) Opfers sein. Nur in manchen paschtunischen Gemeinden werde es als legitim angesehen, eine andere Person damit zu beauftragen, eine Rachehandlung

im Namen des Opfers auszuführen:

„Blood revenge is primarily a Pashtun tradition, and its connection to honour is illustrated by the fact that failure to reciprocate is deemed a sign of moral weakness, and may imply whole kinship groups being seen as lacking in moral character. Both reporting a murder to the authorities and negotiating for financial compensation with the perpetrator's family can be interpreted as weakness and as indicating that the group is not strong enough to defend its honour. […]

Blood revenge is closely linked to honour. A killing that provokes revenge, has in one way or another dishonoured the kin group/clan/tribe. Within the victim's kin group there is a limited, collective responsibility to take revenge and contribute to restoring honour. The person taking revenge should be a close relative of the victim, only in some Pashtun communities is it considered legitimate to hire a substitute to take revenge in the name of the victim. […]

Killings are often an outcome of existing conflicts, and killings in connection with all types of conflicts can, in principle, end in blood revenge. According to information available to Landinfo, however, killings resulting in blood feuds occur more frequently in connection with some conflict categories than others. The extent of blood feuds that are a result of a particular category of conflict, for example land disputes, will thus depend on the number of land disputes in an area.” (Landinfo, 1. November 2011, S. 9)

Die Unabhängige Afghanische Menschenrechtskommission (Afghanistan Independent Human Rights Commission, AIHRC), eine Einrichtung zur Aufsicht über die Einhaltung der Menschenrechte in Afghanistan, schreibt in einem Bericht vom Juni 2013, dass außereheliche sexuelle Beziehungen den häufigsten Grund für „Ehrenmorde“ darstellen würden. Die gesellschaftlichen Sitten und Traditionen seien sehr hart gegenüber Frauen, während Männer aufgrund ihrer höheren gesellschaftlichen Stellung in diesem Zusammenhang weniger hart behandelt würden. So würden Fälle (vermeintlicher) außerehelicher Beziehungen nur selten zur Tötung von Männern führen:

„The most common type of honor killings is committed under outside marriage sexual relation. The findings of this National Inquiry show that almost 50 percent of honor killings are committed because of outside-marriage relations between a woman and a man ‘attempt for adultery (Zena)’ […]

Sometimes, matters that have no direct connection with ‘illegal sexual relation’ or even ‘sexual assault’, only personal and baseless suspicion about women can result in an honor killing. […]

Social traditions and customs are very strict and harsh against women, while men are not treated in such a harsh way due to their superior position in the society. For example the aforementioned cases seldom cause the killing of men.” (AIHRC, 10. Juni 2013, S. 4-5)

In einem Bericht vom Juni 2014 bemerkt Landinfo, dass Ehre und Status einer Familie durch die Institution der Ehe bestätigt würden. Offener Widerstand gegen bzw. ein Bruch mit den Normen der Eheschließung, indem man den Ehepartner bzw. die Ehepartnerin ohne Zustimmung der jeweiligen Familien wähle, führe dazu, dass sich die Familien in ihrer Ehre gekränkt fühlen würden und könne verschiedene Reaktionen hervorrufen, die sich sowohl gegen die Frau als auch den Mann richten könnten. Die regierungsunabhängige International Legal Foundation (ILF) habe im Jahr 2004 angegeben, dass außereheliche Beziehungen für alle ethnische Gruppen ein höchst sensibles Thema darstellen würden, jedoch hätten Paschtunen eine restriktivere Sicht darauf. Die meisten Fälle würden indes von lokalen Schuras und Dschirgas beigelegt. Unter Berufung auf Angaben der dänischen Einwanderungsbehörde aus dem Jahr 2012 bemerkt Landinfo, dass wenn ein unverheiratetes Paar einvernehmlichen Geschlechtsverkehr gehabt habe, das Ergebnis häufig eine Eheschließung zwischen dem Mann und der Frau sei. Die beteiligten Personen würden versuchen, die Angelegenheit privat zu lösen, ohne dass Gerichte oder Vermittlungsgremien beteiligt würden. So werde der entstandene Ehrverlust lokal eingegrenzt. Eine internationale Organisation in Kabul habe 2011 angegeben, dass Familien mit hoher Bildung, Familien in Großstädten, Hazara und Tadschiken allgemein offen dafür seien, Lösungen zu finden, häufig auch mithilfe von Vermittlung. Dies sei auch von einem bei einer Rechtshilfeorganisation tätigen Rechtsanwalt bestätigt worden. Der Anwalt habe gemeint, dass, auch wenn die Verhandlungen schwierig seien, die Parteien in der Regel zu einer Lösung kommen würden. Es komme selten vor, dass solche Fälle in Gewalt bzw. Mord enden würden. Zumeist würden Vermittlungen von traditionellen Streitschlichtungsorganen geleitet, jedoch komme es auch vor, dass sich Familien an Gerichte wenden. Voraussetzung hierfür sei, dass die beteiligten Familien eine Verhandlungslösung etwaigen „Strafreaktionen“ vorziehen. Der Anwalt habe betont, dass es diesbezüglich große Unterschiede zwischen den Städten und den ländlichen Gebieten in diesem Bereich gebe. Die ILF habe indes angegeben, dass sowohl die Familie der Frau als auch die des Mannes die Tötung eines Partners bzw. beider Partner in Betracht ziehen würden, um die Familienehre wieder herzustellen. Es gebe Beispiele dafür, dass Paare getötet worden seien, und es scheine, dass diese Tötungen relativ kurze Zeit nach Bekanntwerden der unerwünschten Beziehung erfolgen würden:

„Familiers ære og status bekreftes gjennom ekteskapsinstitusjonen (Smith 2009a). Åpen opposisjon mot eller brudd med normer om ekteskapsinngåelse ved å velge ekteskapspartner uten familienes godkjenning, vil krenke familienes ære og kunne danne grunnlag for alvorlige reaksjoner, både mot kvinnen og mannen. […]

International Legal Foundation peker på at utenomekteskapelige forhold er et meget sensitivt tema innenfor alle de etniske gruppene, men at pashtunerne generelt har et mer restriktivt syn enn øvrige grupper. Videre hevder organisasjonen at de fleste saker løses i lokale shuraer og jirgaer (ILF 2004).

I saker der par har hatt frivillig seksuelt samkvem, er resultatet ofte at paret gifter seg. De involverte familiene forsøker å løse saken privat, uten at verken rettsapparat eller meglingsinstanser blir involvert. På den måten reduseres tap av ære og anseelse lokalt (Udlændingestyrelsen 2012, s. 37). En lokalt ansatt i en internasjonal organisasjon mente at velutdannede familier, familier i de store byene, hazaraer og tadsjikere generelt er åpne for å finne løsninger, ofte gjennom megling (samtale i Kabul, oktober 2011). Dette ble bekreftet i samtale med en advokat tilknyttet en rettshjelpsorganisasjon (Kabul 2013). Advokaten mente at selv om forhandlingene er krevende, vil partene som regel komme fram til en løsning. Det er kun unntaksvis at slike saker ender med vold eller drap. I de fleste tilfellene skjer meglingen i regi av tradisjonelle konfliktløsningsorganer, men det forekommer også at familier henvender seg til domstolene. Det er en forutsetning at de impliserte familiene ønsker en forhandlingsløsning fremfor straffereaksjoner. Advokaten i rettshjelpsorganisasjonen understreket at det er store forskjeller mellom byene og landsbygda på dette feltet. […]

ILF stadfester at både mannens og kvinnens familie vil, som ytterste konsekvens, kunne overveie å drepe den ene eller begge partene for å gjenopprette familienes ære (ILF 2004). Det foreligger eksempler på at par har blitt drept, og dette synes å skje relativt kort tid etter at et uønsket forhold er blitt kjent (Stop Honour Killings! u.å.).” (Landinfo, 5. Juni 2014, S. 18-20)

In einem Bericht vom Mai 2011 schreibt Landinfo, dass es keine Kenntnis von Fällen gegeben habe, bei denen (unverheiratete) Liebespaare Rachemorde ausgelöst hätten, die sich über Generationen hingezogen hätten. Allerdings müsse hierbei betont werden, dass Landinfo keine aussagekräftigen Informationen zur Verfügung stünden. Angesichts fehlenden Zugangs zu lokalen Gemeinden in Afghanistan sei Landinfo der Ansicht, dass anzunehmen sei, dass das reale Ausmaß dieses Phänomen unbekannt sei und dass über Gewalttaten im Zusammenhang mit außerehelichem Geschlechtsverkehr und Verstößen gegen Heiratstraditionen wenig berichtet werde:

„Landinfo has no knowledge of cases involving love couples that have triggered vengeance killings over generations. In this context it must be underscored that no representative information has been available to Landinfo. In light of the lack of accessibility to local communities in Afghanistan, Landinfo is of the opinion that it is reasonable to assume that the true extent of this phenomenon remains unknown, and that abuse related to extra-marital sex and violations of marriage traditions remains underreported.” (Landinfo, 19. Mai 2011, S. 20)

2) Möglichkeit, bei staatlichen Stellen um Schutz vor Rachehandlungen anzusuchen

Das UNO-Flüchtlingshochkommissariat (UN High Commissioner for Refugees, UNHCR) schreibt in seinen im April 2016 veröffentlichten Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender unter anderem Folgendes über die Fähigkeit des afghanischen Staates, Zivilisten vor Menschenrechtsverletzungen zu schützen:

„Die Fähigkeit der Regierung, die Menschenrechte zu schützen, wird in vielen Distrikten durch Unsicherheit und zahlreiche Angriffe durch regierungsfeindliche Kräfte (AGEs) untergraben. Ländliche und instabile Gebiete leiden Berichten zufolge unter einem allgemein schwachen förmlichen Justizsystem, das unfähig ist, Zivil- und Strafverfahren effektiv und zuverlässig zu entscheiden. Von der Regierung ernannte Richter und Staatsanwälte sind Berichten zufolge oftmals aufgrund der Unsicherheit nicht in der Lage, in diesen Gemeinden zu bleiben.

Beobachter berichten von einem hohen Maß an Korruption, von Herausforderungen für effektive Regierungsgewalt und einem Klima der Straflosigkeit als Faktoren, die die Rechtsstaatlichkeit schwächen und die Fähigkeit des Staates untergraben, Schutz vor Menschenrechtsverletzungen zu bieten. Berichten zufolge werden in Fällen von Menschenrechtsverletzungen die Täter selten zur Rechenschaft gezogen und für die Verbesserung der Übergangsjustiz besteht wenig oder keine politische Unterstützung. Wie oben angemerkt, begehen einige staatliche Akteure, die mit dem Schutz der Menschenrechte beauftragt sind, einschließlich der afghanischen nationalen Polizei und der afghanischen lokalen Polizei, Berichten zufolge in einigen Teilen des Landes selbst Menschenrechtsverletzungen, ohne dafür zur Verantwortung gezogen zu werden.

Berichten zufolge betrifft Korruption viele Teile des Staatsapparats auf nationaler, Provinz- und lokaler Ebene. Es wird berichtet, dass bis zu zwei Drittel der afghanischen Bürger, die Kontakt zu Staatsbediensteten auf Provinz- und Distriktebene hatten, Schmiergelder zahlen mussten, um öffentliche Dienstleistungen zu erhalten. Innerhalb der Polizei sind Berichten zufolge Korruption, Machtmissbrauch und Erpressung ortstypisch. Das Justizsystem ist Berichten zufolge auf ähnliche Weise von weitreichender Korruption betroffen.” (UNHCR, 19. April 2016, S. 28-29)

Der Congressional Research Service (CRS), ein Recherchedienst des US- Kongresses zu politischen Themen, schreibt in seinem zuletzt im Jänner 2017 aktualisierten Bericht zu Afghanistan, dass das US-Verteidigungsministerium über beträchtliche Fortschritte bei der Professionalisierung der nationalen Polizei Afghanistans (Afghan National Police, ANP) berichtet habe. Jedoch seien viele andere Einschätzungen über die ANP negativ gewesen und hätten auf „grassierende“ Korruption innerhalb der Polizei hingewiesen, die so weit gehe, dass die Bürger der Polizei misstrauen würden und Angst vor ihr hätten. Das US- Verteidigungsministerium räume indes unter anderem ein, dass die ANP eine hohe Analphabetenrate aufweise und sich in lokale Streitigkeiten einmische, da sie in denselben Gemeinden tätig sei, aus denen ihre Beamten stammen würden:

„DOD [Department of Defense] reports on Afghanistan assess that there have been ‘significant strides [that] have been made in professionalizing the ANP [Afghan National Police].’ However, many outside assessments of the ANP are negative, asserting that there is rampant corruption to the point where citizens mistrust and fear the ANP. DOD reports acknowledge that the force has a far higher desertion rate than does the ANA [Afghan National Army]; substantial illiteracy; and involvement in local factional or ethnic disputes because the ANP works in the communities its personnel come from.” (CRS, 12. Jänner 2017, S. 33)

„Some of the criticisms and allegations of corruption at all levels of the Afghan bureaucracy have been discussed throughout this report.” (CRS, 12. Jänner 2017, S. 35)

Das US-Außenministerium (US Department of State, USDOS) schreibt in seinem im April 2016 veröffentlichten Länderbericht zur Menschenrechtslage (Berichtsjahr: 2015) unter Berufung auf Gefangene und örtliche NGOs, dass Korruption im gesamten Justizwesen des Landes weit verbreitet sei, insbesondere im Zusammenhang mit strafrechtlicher Verfolgung von Verbrechen und Freilassungen aus dem Gefängnis. Es gebe auch Berichte über Fälle von Bestechung von Beamten mit dem Ziel, Haftstrafen zu verringern, Ermittlungen zu stoppen oder Anklagen abzuweisen:

„According to prisoners and local NGOs, corruption was widespread across the justice system, particularly in connection with the prosecution of criminal cases and arranging release from prison. There were also reports that officials were bribed were paid to reduce prison sentences, halt an investigation, or dismiss charges outright.” (USDOS, 13. April 2016, Section 4)

Das Institute for War and Peace Reporting (IWPR), ein in London ansässiges internationales Netzwerk zur Förderung freier Medien, schreibt in einem Artikel vom November 2016 in Zusammenhang mit häuslicher Gewalt, dass sich Täter aufgrund der im Justizwesen vorherrschenden Korruption häufig einer Strafverfolgung entziehen könnten. Viele Opfer häuslicher Gewalt hätten gegenüber IWPR geäußert, dass die von ihnen angestrengten Verfahren aufgrund von Intervention durch mächtige Personen zum Scheitern gebracht worden seien. Personen mit Verbindungen zu lokalen Warlords oder einflussreichen Regierungsbeamten seien regelmäßig in der Lage, ihre Position auszunützen, um einer Strafverfolgung zu entgehen:

„Her eyes brimming with tears, 20-year-old Nilofar drew back her headscarf to reveal a mutilated ear. She explained that her husband had ripped off a chunk of her earlobe with his teeth during a recent argument. […]

Her husband was arrested but only held for a short time before being released. Nilofar said that his connections to powerful local men meant he had been able to escape prosecution.

Activists in Parwan province, 70 kilometres northwest of Kabul city, warn that widespread corruption is allowing perpetrators of gender violence to escape justice.

During a two-month investigation, IWPR spoke to dozens of women and activists about their experiences of gender violence and judicial corruption.

Many domestic violence survivors told IWPR that their cases had been derailed by the intervention of powerful individuals.

People with connections to local warlords or influential officials were routinely able to exploit their position to evade prosecution.” (IWPR, 14. November 2016)

 

image001.gif 

 

Quellen: (Zugriff auf alle Quellen am 23. Februar 2017)

·      ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation: 11th European Country of Origin Information Seminar; Vienna, 21 - 22 June 2007; Country Report; Afghanistan, November 2007 (verfügbar auf ecoi.net)
http://www.ecoi.net/file_upload/432_1194598972_coiseminar-2007-afghanistan.pdf

·      AIHRC - Afghanistan Independent Human Rights Commission: National Inquiry on Rape and Honor killing in Afghanistan Report Summary, 10. Juni 2013
http://www.aihrc.org.af/media/files/Magazin/Magazin_1393/Mag_3_1393/Natioan%20Inquiry%20final%20-%20for%20meru.pdf

·      CORI - Country of Origin Research and Information: CORI Thematic Report Afghanistan; Blood Feuds, February 2014, Februar 2014 (verfügbar auf Refworld)
http://www.refworld.org/pdfid/53199ef64.pdf
 

·      CRS - Congressional Research Service: Afghanistan: Post - Taliban Governance, Security, and U.S. Policy, 12. Jänner 2017
https://fas.org/sgp/crs/row/RL30588.pdf

·      IWPR - Institute for War and Peace Reporting: Afghanistan: How Abusive Men Escape Justice - People with powerful connections find it easy to avoid prosecution, 14. November 2016 (verfügbar auf ecoi.net)
http://www.ecoi.net/local_link/332121/473433_de.html

·      Landinfo - Norwegian Country of Origin Information Centre: Afghanistan: Marriage Report Afghanistan, 19. Mai 2011
http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1337002361_1852-1.pdf

·      Landinfo: Norwegian Country of Origin Information Centre: Afghanistan: Blood feuds, traditional law (pashtunwali) and traditional conflict resolution, 1. November 2011 
https://www.ecoi.net/file_upload/1788_1327313532_1940-1.pdf

·      Landinfo - Norwegian Country of Origin Information Centre: Afghanistan: Ekteskap, 5. Juni 2014
http://www.ecoi.net/file_upload/1788_1402395798_2899-1.pdf

·      Ruttig, Thomas: E-Mail-Auskunft, 20. Februar 2017

·      Rzehak, Lutz: Doing Pashto; Pashtunwali as the ideal of honourable behaviour and tribal life among the Pashtuns, 21. März 2011 (veröffentlicht vom Afghanistan Analysts Network, AAN)
http://afghanistan-analysts.net/uploads/20110321LR-Pashtunwali-FINAL.pdf

·      UNHCR - UN High Commissioner for Refugees: UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19. April 2016
http://www.ecoi.net/file_upload/90_1471846055_unhcr-20160419-afg-richtlinien-de.pdf

·      USDOS - US Department of State: Country Report on Human Rights Practices 2015 - Afghanistan, 13. April 2016 (verfügbar auf ecoi.net)
https://www.ecoi.net/local_link/322445/461922_de.html

 

 

[1] Das Afghanistan Analysts Network (AAN) ist eine unabhängige gemeinnützige Forschungsorganisation mit Hauptsitz in Kabul, die Analysen zu politischen Themen in Afghanistan und der umliegenden Region erstellt.