Anfragebeantwortung zur Russischen Föderation: Tschetschenien: Lage von Verwandten ehemaliger AsylwerberInnen, wenn die russischen Behörden vom Asylantrag erfahren [a-8621]

13. März 2014
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Die Augsburger Allgemeine, eine deutsche Tageszeitung, berichtet im März 2014 über den Fall einer Familie, die trotz Kirchenasyl aus Deutschland nach Polen abgeschoben worden sei. In dem Artikel wird unter anderem Folgendes erwähnt:
„Eine Gelegenheit, der Welt zu sagen, wie furchtbar die Zustände in Tschetschenien sind und wie unsicher sich die Flüchtlinge auch in Polen fühlen. Auf Fotos darf man sie nicht erkennen, ihre richtigen Namen dürfen nicht veröffentlicht werden. Das sei zu gefährlich, sagen sie – für sie und für ihre Verwandten zu Hause. Alle Tschetschenen fürchten den langen Arm des russlandhörigen Diktators Kadyrov, der ihre Heimat im Nordkaukasus beherrscht.“ (Augsburger Allgemeine, 12. März 2014)
Die dänische Einwanderungsbehörde (Danish Immigration Service, DIS) schreibt im Oktober 2011 in einem Bericht zu einer Fact-Finding-Mission nach Moskau und Sankt Petersburg vom 12. bis 29. Juni 2011, dass nach Angaben einer NGO, die Fälle am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte behandle, Kadyrows persönliche Befindlichkeiten ausschlaggebend dafür sein könnten, nach wem gesucht werde oder wer von den tschetschenischen Behörden aufgegriffen werde. Könnten die tschetschenischen Behörden die Person, nach der sie suchen würden, nicht finden, sollte beispielsweise die Person nicht in Tschetschenien sein, würden sie versuchen, auf Familienmitglieder in Tschetschenien Druck auszuüben. Die tschetschenischen Behörden würden gewöhnlich einfache Ziele wählen, und das seien vor allem Personen, die in Tschetschenien leben würden. Dieselbe NGO habe angegeben, dass die tschetschenischen Behörden, wenn sie die Person, die sie suchen würden, nicht finden könnten, auf Gewalt gegenüber den Mitgliedern des engsten Familienkreises zurückgreifen würden. Üblicherweise würden männliche Familienmitglieder ins Visier geraten. Wenn es jedoch keine unmittelbaren Familienangehörigen gebe, könnten auch Tanten und Onkel oder sogar Cousins zur Zielscheibe werden:
„A representative of a NGO working on cases at the European Court of Human Rights explained that Kadyrov's personal grudges can be the decisive factor in terms of who would risk being searched and/or picked up by the Chechen authorities. If the Chechen authorities cannot find the person they want, if for instance the person is not in Chechnya, they would try to apply pressure on family members in Chechnya. The Chechen authorities generally go for the easy targets and these are primarily people who are actually living inside Chechnya.“ (DIS, 11. Oktober 2011, S. 41)
„A representative of a NGO working on cases at the European Court of Human Rights stated that if the Chechen authorities are not able to find the individual they want, they will resort to commit violence against the closest family. They would usually target the immediate male family members. However, if no immediate family exist, the Chechen authorities might look further than aunts and uncles and even cousins.“ (DIS, 11. Oktober 2011, S. 61)
Die Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH), der unabhängige Dachverband der Flüchtlings- und Menschenrechtsorganisationen in der Schweiz, schreibt in einer Auskunft vom April 2013 zur Lage von Personen mit Kontakten zu den Mudschahed unter Bezug auf Informationen verschiedener Quellen (darunter auch der oben zitierte Bericht des DIS) Folgendes:
„Haben Familienangehörige von Personen, welche Kontakte zu den ‚Mudschahed‘ pflegen, bzw. denen das vorgeworfen wird, mit Verfolgung zu rechnen (Reflexverfolgung)?
Öffentliche Drohungen gegen Familienangehörige. Regelmässig haben hohe Behördenvertreter Familienangehörige von Aufständischen öffentlich auf massivste Weise bedroht. So hat Ramzan Kadyrow mehrfach öffentlich gesagt, dass Verwandte und Freunde von Aufständischen zur Verantwortung gezogen werden würden, unter anderem, da sie ‚wissen müssten, was ihre Verwandten geplant hätten‘.
Verfolgung von Familienangehörigen.
Eine Vielzahl von Quellen dokumentieren, dass staatliche Sicherheitskräfte in Tschetschenien Verwandte und vermutete Sympathisierende von angeblichen Aufständischen kollektiv bestrafen, entführen, foltern und bedrohen. Die Dunkelziffer scheint hoch, da sich die Opfer oft weigern, aus Angst vor Vergeltung durch die Sicherheitskräfte darüber zu sprechen. Nach Angaben von Beobachtern haben die tschetschenischen Behörden freie Hand in der Wahl ihrer Methoden, um mögliche Aufständische, Sympathisierende der Aufständischen und deren Familienangehörige zu identifizieren und zu bestrafen. Oft würden die Häuser der Angehörigen vor deren Augen verbrannt. […] Finden die Behörden eine gesuchte Person nicht, dann üben sie in der Regel Gewalt gegen die nächsten Verwandten aus. Wenn keine unmittelbaren Verwandten gefunden werden, dann weiten die Behörden ihre Suche auf Tanten, Onkel oder Cousinen und Cousins aus. Ein von der NGO Memorial dokumentierter Fall zeigt exemplarisch die Methoden der tschetschenischen Behörden bei der Fahndung nach gesuchten Personen auf: Die Ehefrau, die Eltern und die Geschwister der gesuchten Person wurden im März 2012 durch Polizeibeamte mittels Schlägen, Elektroschocks und der Androhung von Vergewaltigung gefoltert. Die Beamten drohten den Verwandten zudem, sie zu töten. Nach den Angaben eines Vertreters der NGO SOVA seien die meisten der Personen, welche angäben, dass sie von den tschetschenischen Behörden verfolgt würden, Angehörige von Aufständischen. Es wird berichtet, dass Angehörige von angeblichen Aufständischen in geheime Gefängnisse gebracht und gefoltert werden. Einige Opfer sterben in Haft, andere verschwinden, bis ihre Leichen mit klaren Folterspuren gefunden werden.
Wird dieses allfällige Risiko der Reflexverfolgung durch die Tatsache, dass der Bruder bereits wegen solcher Vorwürfe das Land verlassen musste und in der Schweiz deswegen Asyl erhielt, erhöht?
Wie oben ausgeführt, wurde mehrfach dokumentiert, dass Familienangehörige von vermuteten Aufständischen oder Sympathisierenden der Aufständischen in Tschetschenien in Gefahr laufen, von den Behörden verfolgt zu werden. Auch gibt es eine Reihe von Hinweisen, dass Familienangehörige von sich im Ausland befindenden vermuteten Aufständischen von den Sicherheitskräften regelmässig bedroht werden. Nach Angaben eines Experten ist davon auszugehen, dass das Risiko der Reflexverfolgung erhöht ist, wenn ein Familienmitglied im Westen Asyl bekommen hat.“ (SFH, 22. April 2013, S. 7-9)
Die österreichische Tageszeitung Die Presse berichtet in einem Artikel vom Jänner 2011 zum Mordfall Umar Israilow Folgendes:
„In Wien-Floridsdorf wird der tschetschenische Flüchtling Umar Israilow (27) auf offener Straße erschossenen [sic]. Seit Mitte November des Vorjahres läuft deshalb im Grauen Haus ein Mordprozess gegen drei Landsleute des Opfers. Am Mittwoch wurde dieser fortgesetzt: Der als Zeuge geladene Schwager von Israilows Witwe wollte sich auf einmal an frühere Angaben nicht mehr erinnern können. Offenbar aus Angst vor Repressalien aus seiner alten Heimat. […]
Indessen litt nun der Schwager von Israilows Witwe an auffälligem ‚Gedächtnisverlust‘. […]
Schließlich wurde es dem Senat zu bunt: ‚Sie müssen sich jetzt überlegen, sagen Sie die Wahrheit, ja oder nein?‘, fragte Forsthuber forsch. Weiter: ‚Haben Sie Angst, die Wahrheit zu sagen?‘ Der Zeuge: ‚Was denken Sie?‘ Richter: „Haben Sie Verwandte in Tschetschenien, die gefährdet wären, wenn Sie die Wahrheit sagen?“ Antwort: ‚Das kann sein.‘ Staatsanwalt Leopold Bien leitete daraufhin ein Verfahren wegen des Verdachts auf falsche Zeugenaussage ein. Prozessfortsetzung am Montag.“ (Die Presse, 19. Jänner 2011)
Der deutsche Auslandsrundfunksender Deutsche Welle (DW) berichtet im Juni 2010, dass Ekkehard Maaß, der Vorsitzende der Deutsch-Kaukasischen Gesellschaft, der Ansicht sei, dass tschetschenischen Flüchtlingen in Deutschland oft kein Asyl gewährt werde, weil sie Angst hätten und den Beamten nicht vertrauen würden. Einige TschetschenInnen hätten Angst, von konkreten Vorfällen ihrer Verfolgung zu erzählen, weil sie nicht überzeugt davon seien, dass die Informationen von den deutschen Behörden nicht an den russischen Geheimdienst weitergegeben würden. Und für die in Tschetschenien verbliebenen Verwandten würde das ihrer Meinung nach eine Gefahr darstellen:
„Среди беженцев из РФ, по данным немецких экспертов, немало выходцев из Чечни. При этом многие считают их самой проблемной группой беженцев в ФРГ.
По словам председателя Германо-Кавказского общества Эккехарда Маса (Ekkehard Maaß), в Германии участились случаи отправки в Россию чеченских беженцев, которым грозит опасность на родине. […]
Причины отказа в предоставлении убежище, по его убеждению, во многих случаях кроятся в том, что чеченцы, прибывающие в Германию, боязливы и не доверяют чиновникам. ‚Некоторые чеченцы бояться рассказывать о конкретных случаях их преследования, потому что не уверены в том, что эта информация не будет передана через германские органы российским спецслужбам. А родственникам, оставшимся в Чечне, по их мнению, будет грозить опасность‘,- говорит Мас.“ (DW, 22. Juni 2010)
Das sich selbst als „unabhängige, internationale und islamische tschetschenische Internetagentur“ beschreibende Kavkaz Center, das dem islamistischen und separatistischen Kaukasus-Emirat nahesteht, berichtet im März 2010, dass in Schali die Brüder Soltagerijew von Kadyrow-Leuten entführt worden seien. Es wird ergänzt, dass bereits 2004 ein weiterer Bruder entführt, geschlagen und gefoltert worden sei. Nachdem es den Verwandten gelungen sei, ihn zu befreien, sei er nach Frankreich gegangen, wo er bereits seit fünf Jahren lebe. Es sei bisher unklar, warum die Familie wieder zur Zielscheibe von Kadyrows Leuten geworden sei:
„Как передают источники из Шали, утром в пятницу в дом местных жителей Солтагериевых, проживающих по ул. Набережная, ворвались десятки кадыровских муртадов и схватили двух братьев — Ислама, 1978 г.р. и Саида-Пашу, 1980 г.р. Братьев увезли в неизвестном направлении и об их дальнейшей судьбе никаких данных нет.
Необходимо отметить, что в 2004 году на семью Солтагериевых муртады уже совершали налет. Тогда был схвачен Саид-Хусейн Солтагериев, 1979 г.р., которого вывезли в село Автуры и удерживали в заложниках более 3 месяцев, жестоко избивая и пытая. После того, как родным удалось вызволить Саид-Хусейна из кадыровских застенков, он уехал за рубеж во Францию, где проживает уже 5 лет. Пока нет ясности, по какой причине муртады вновь напали на семью Солтагериевых.“ (Kavkaz Center, 27. März 2010)
 

Quellen: (Zugriff auf alle Quellen am 13. März 2014)