Dokument #1326891
AI – Amnesty International (Autor)
Die 2010 umgesetzten Änderungen der Verfassung und des Antiterrorgesetzes waren ein Schritt hin zum Schutz der Menschenrechte, der notwendige grundlegende Wandel wurde damit jedoch nicht vollzogen. Nach wie vor fanden Strafverfahren statt, mit denen das Recht auf freie Meinungsäußerung verletzt wurde. Vorschläge zur Einrichtung unabhängiger Mechanismen zur Wahrung der Menschenrechte wurden nicht umgesetzt. Es trafen weiterhin Berichte über Folter und andere Misshandlungen ein. Ermittlungen und Strafverfahren gegen Beamte mit Polizeibefugnissen in solchen Fällen waren noch immer ineffektiv. Auch im Berichtsjahr fanden auf der Grundlage der Antiterrorgesetze zahlreiche unfaire Gerichtsverfahren statt. Bombenanschläge forderten Todesopfer unter der Zivilbevölkerung. Die Rechte von Kriegsdienstverweigerern, von Homosexuellen und anderen sexuellen Minderheiten sowie von Flüchtlingen und Asylsuchenden waren nach wie vor gesetzlich nicht abgesichert. Beim Schutz der Frauen vor Gewalt wurden minimale Fortschritte erzielt.
Vorgeschlagene Verfassungsänderungen wurden 2010 im Mai vom Parlament und im September von den Wählern per Referendum mit einer Zustimmungsrate von fast 60% angenommen. Die Änderungen betrafen u.a. die Zusammensetzung des Verfassungsgerichts und der obersten unabhängigen Justizaufsichtsbehörde, des Hohen Rats der Richter und Staatsanwälte. Sie sahen Einschränkungen der Rechte der Militärgerichte (nunmehr können hohe Militärangehörige auch vor Gerichten der zivilen Justiz angeklagt werden), die Einrichtung der Stelle einer Ombudsperson und ein Maßnahmenbündel zur aktiven Bekämpfung der Diskriminierung vor.
Obwohl die Kurdische Arbeiterpartei (PKK) im Verlauf des Jahres wiederholt ihre Bereitschaft zur Einhaltung eines Waffenstillstands erklärte, kam es immer wieder zu Zusammenstößen mit den Streitkräften der Türkei. Im November soll ein Gespräch zwischen Regierungsvertretern und dem inhaftierten PKK-Anführer Abdullah Öcalan stattgefunden haben.
Im Oktober 2010 begann in Diyarbakõr der Prozess gegen 152 Kommunalpolitiker und engagierte Bürger wegen Mitgliedschaft im Verband der kurdischen Gemeinschaften (Kürdistan Topluluklar Birlii), dem Verbindungen zur PKK nachgesagt werden. 104 der Angeklagten hatten zuvor in Untersuchungshaft gesessen. Es wurde die Besorgnis geäußert, dass sich die gegen die Angeklagten vorgebrachten Beweise vor allem auf ihre Teilnahme an Sitzungen und Demonstrationen und auf von ihnen veröffentlichte Presseerklärungen stützten.
Der Prozess gegen mutmaßliche Mitglieder der Organisation Ergenekon, eines ultra-nationalistischen Netzwerks mit Verbindungen zu staatlichen Einrichtungen, wurde im Jahr 2010 fortgesetzt. Die Ermittlungen zur Klärung der Verantwortung der Verdächtigten für Menschenrechtsverletzungen kamen nur schleppend voran.
Das Kopftuchverbot für Studentinnen an türkischen Universitäten war nach wie vor in Kraft, allerdings wurde die Durchsetzung im Berichtsjahr etwas gelockert.
Im Mai befasste sich der UN-Menschenrechtsrat im Rahmen seiner Universellen Regelmäßigen Überprüfung (UPR) mit der Frage, inwieweit die Türkei ihren Verpflichtungen auf dem Gebiet der Menschenrechte nachgekommen war. Die Regierung erklärte sich bereit, zahlreiche Empfehlungen des Abschlussberichts umzusetzen, wies jedoch dezidiert alle Forderungen nach verstärkter Anerkennung der Rechte von Minderheiten und nach Änderung bzw. Abschaffung derjenigen Artikel des Strafgesetzbuchs zurück, die das Recht auf freie Meinungsäußerung beschneiden.
Recht auf freie Meinungsäußerung
Über manche Themen, die zuvor noch mit einem Tabu belegt waren, konnte offener gesprochen werden. Dennoch wurden nach verschiedenen Artikeln des Strafgesetzes Menschen dafür belangt, dass sie Kritik an den Streitkräften, an der Situation der Armenier und Kurden in der Türkei sowie an laufenden Strafverfahren geäußert hatten. Auch die Gesetze zur Terrorbekämpfung, auf deren Grundlage Untersuchungshaft angeordnet wurde und die hohe Gefängnisstrafen vorsahen, wurden herangezogen, um das Recht auf freie Meinungsäußerung einzuschränken. Am häufigsten wurden politisch aktive Bürger, Journalisten und Menschenrechtsverteidiger kurdischer Herkunft mit Strafverfahren überzogen. Auch 2010 wurden erneut willkürliche Maßnahmen wie die Sperrung von Internetseiten und ein vorübergehendes Erscheinungsverbot für Zeitungen verhängt. Nach wie vor mussten Menschen, die ihre Meinung öffentlich äußerten, mit der Androhung von Gewalt rechnen.
Es wurden weiterhin Vorwürfe über Folter und andere Misshandlungen nicht nur in Polizeigewahrsam und während des Transfers ins Gefängnis bekannt, auch außerhalb der Hafteinrichtungen kam es zu Übergriffen, beispielsweise gegen Demonstrierende. Im November legte der UN-Ausschuss gegen Folter den türkischen Behörden eine Reihe von Empfehlungen vor, um den "zahlreichen, anhaltenden und übereinstimmenden Vorwürfen über Folter" zu begegnen, über die sich der Ausschuss bei der Prüfung des Berichts der Türkei sehr besorgt geäußert hatte.
Ermittlungen zur Aufklärung von Menschenrechtsverletzungen durch staatliche Bedienstete waren in der Regel fehlerhaft. Wurden Strafverfahren eingeleitet, waren sie fast immer von Verzögerungen begleitet und wenig effektiv. Dass Beweismaterial in der Obhut der Behörden verloren ging und Menschen, die Foltervorwürfe erhoben hatten, häufig mit Gegenklagen überzogen wurden, trug ebenfalls zu einem anhaltenden Klima der Straflosigkeit bei. Die von der Regierung angekündigten unabhängigen Mechanismen zur Wahrung der Menschenrechte wurden nicht eingerichtet. So erfolgte z.B. bei der Erarbeitung des Gesetzentwurfs zur Schaffung einer nationalen Einrichtung für Menschenrechte (Türkiye Insan Haklarõ Kurumu), deren Aufgabe im Schutz der Menschenrechte und in der Vorbeugung von Übergriffen bestehen soll, keine angemessene Einbeziehung der Zivilgesellschaft. Auch fehlten in dem Gesetzentwurf Bestimmungen zur Wahrung der Unabhängigkeit dieser Institution.
Auch 2010 gab es zahlreiche Vorwürfe über Misshandlungen an Untersuchungshäftlingen unmittelbar nach ihrer Überstellung ins Gefängnis. Eine angemessene Gesundheitsversorgung sowie das Recht auf Kontakt zu anderen Insassen wurde Häftlingen in willkürlicher Weise verweigert.
Auch 2010 fanden auf der Grundlage der Antiterrorgesetze unfaire Gerichtsverfahren statt. In diesen Fällen ordneten die Justizbehörden nach wie vor übermäßig lang andauernde Untersuchungshaft an, ohne Alternativen in Betracht zu ziehen. Den Verteidigern standen keine wirksamen Mittel zur Verfügung, um die Rechtmäßigkeit einer solchen Inhaftierung anzufechten.
Im Juli wurde mit wichtigen Gesetzesänderungen der Strafverfolgung von Kindern nach den Antiterrorgesetzen wegen der bloßen Teilnahme an Demonstrationen ein Ende bereitet. Erwachsene konnten hingegen weiter nach diesen unfairen Bestimmungen angeklagt werden; auch gab es keine Änderungen an den vagen und sehr breit gefassten Definitionen terroristischer Straftaten.
Auch im Berichtsjahr wurden Zivilisten durch Bombenanschläge getötet oder verletzt.
Zum ersten Mal in der jüngeren Geschichte des Landes wurde langjährigen Forderungen der Gewerkschaften entsprochen, den zentralen Taksim-Platz in Istanbul für die Kundgebungen am 1. Mai freizugeben. Im Gegensatz zu den vergangenen Jahren verliefen die Demonstrationen friedlich. Mit Verfassungsänderungen wurde das Recht auf Aushandlung von Tarifverträgen für Angestellte im öffentlichen Sektor gewährt; das Streikverbot für Beschäftigte des öffentlichen Dienstes blieb jedoch bestehen. Damit verstieß die Türkei gegen Konventionen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), zu deren Vertragsstaaten sie gehört.
Nach der Änderung verschiedener gesetzlicher Bestimmungen (siehe oben Unfaire Gerichtsverfahren) wurden die meisten Kinder und Jugendlichen freigelassen, gegen die allein wegen der Teilnahme an Demonstrationen Strafverfolgungsmaßnahmen ergriffen worden waren. Einige Mängel des Jugendstrafrechts, wie z.B. das Fehlen gesonderter Jugendgerichte in manchen Provinzen, bestanden jedoch weiter. Auch wurden weder Schritte zur Untersuchung der weit verbreiteten Misshandlungsvorwürfe noch zur Rehabilitierung von Kindern unternommen, die unverhältnismäßig lange in Haft gehalten worden waren.
Das Recht auf Verweigerung des Kriegsdienstes aus Gewissensgründen war im türkischen Recht noch immer nicht vorgesehen. Zahlreiche Kriegsdienstverweigerer wurden mehrmals strafrechtlich belangt, weil sie sich immer wieder weigerten, den Militärdienst anzutreten. Auch wer ihr Anliegen in der Öffentlichkeit unterstützte, musste mit strafrechtlichen Konsequenzen rechnen.
Auch 2010 wurde Personen der Zugang zum Asylverfahren willkürlich verweigert, was zu Zwangsrückführungen in Länder führte, in denen die Betroffenen vor Verfolgung nicht sicher waren. Die Bestimmungen zur Inhaftierung von Migranten, die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Jahr 2009 für unrechtmäßig befunden hatte, galten auch im Berichtsjahr weiter. Zivilgesellschaftliche Organisationen wurden zu drei neuen Bestimmungen des Asylgesetzes konsultiert; entsprechende Gesetzentwürfe waren bis Ende des Jahres jedoch nicht veröffentlicht worden.
Bei den Verfassungsänderungen zum Schutz vor Diskriminierung wurden die Aspekte sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität nicht berücksichtigt. Die Diskriminierung sexueller Minderheiten wurde 2010 de jure und de facto fortgesetzt.
Der Nationale Aktionsplan 2007-2010 der türkischen Regierung zur Bekämpfung familiärer Gewalt brachte keine nennenswerten Erfolge. Das lag u.a. an mangelnder Koordinierung, unzureichenden Mitteln und dem Fehlen messbarer Ziele. Die Anzahl der Unterkünfte für die Opfer häuslicher Gewalt blieb auch 2010 weit unter den gesetzlichen Vorgaben. Offiziellen Angaben zufolge existierten im Berichtsjahr landesweit insgesamt 57 solcher Einrichtungen, acht mehr als im Vorjahr. Im Juli legte der UN-Ausschuss zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW-Ausschuss) eine Reihe von Empfehlungen vor, darunter den Vorschlag, ein umfassendes Gesetz zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen zu erlassen.
Delegierte von Amnesty International besuchten im Januar, Februar, März, April, Mai, Juni, Juli, September, Oktober und Dezember die Türkei, u.a. zur Beobachtung von Gerichtsverfahren.
Turkey: Activist group will not be closed for 'violating Turkish moral values' (EUR 44/009/2010)
Turkey: Conscientious objection is a human right not a personality disorder (EUR 44/013/2010)
Turkey: All children have rights: End unfair prosecutions of children under anti-terrorism legislation in Turkey (EUR 44/011/2010)
Turkey: Peaceful protesters convicted for 'alienating the public from military service' in Turkey (EUR 44/016/2010)
Turkey: Attack on minibus condemned (EUR 44/021/2010)
Turkey: Briefing to the Committee against Torture (EUR 44/023/2010)
Turkey: UN Committee calls on government to act against torture and impunity (EUR 44/025/2010)
© Amnesty International
Amnesty International Report 2011 - The State of the World's Human Rights (Periodischer Bericht, Englisch)