Amnesty International Report 2011 - Zur weltweiten Lage der Menschenrechte

Amtliche Bezeichnung: Republik Bulgarien
Staatsoberhaupt: Georgi Parwanow
Regierungschef: Bojko Borissow
Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft
Einwohner: 7,5 Mio.
Lebenserwartung: 73,7 Jahre
Kindersterblichkeit (m/w): 17/13 pro 1000 Lebendgeburten
Alphabetisierungsrate: 98,3%

Angehörige der Roma waren weiterhin in vielen Bereichen Diskriminierung ausgesetzt. Es kam nach wie vor zur Zerstörung von Roma-Unterkünften und zur Vertreibung von Familien. Die Studie einer NGO ergab, dass in den Jahren 2000 bis 2010 Kinder in Fürsorgeeinrichtungen aufgrund vermeidbarer Ursachen wie Hunger, Vernachlässigung oder Kälte gestorben waren.

Diskriminierung von Roma

Die Diskriminierung von Angehörigen der Roma war auch 2010 stark verbreitet, und die gesetzlichen Maßnahmen reichten nicht aus, um ethnische Minderheiten vor Diskriminierung zu schützen. Im April legte der Ministerrat dem Parlament einen Änderungsvorschlag für das Antidiskriminierungsgesetz vor. Darin war vorgesehen, das Personal der Gleichstellungsstelle, die für die Einhaltung des Gesetzes und die Prüfung individueller Beschwerden zuständig ist, von neun Angestellten auf fünf zu reduzieren. NGOs äußerten die Sorge, dass diese Maßnahme den Schutz vor Diskriminierung ernsthaft gefährden würde.

  • Im März 2010 befand der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, dass Bulgarien das Diskriminierungsverbot und das Recht auf ein faires Gerichtsverfahren verletzt habe. Im Jahr 2005 hatte ein Bezirksgericht gegen eine Roma-Frau, die wegen Betrugs schuldig gesprochen worden war, eine Freiheitsstrafe verhängt, obwohl die Staatsanwaltschaft eine zur Bewährung ausgesetzte Strafe empfohlen hatte. Das Bezirksgericht hatte argumentiert, dass eine Bewährungsstrafe insbesondere von Angehörigen von Minderheitsgruppen nicht als Strafe angesehen werde. Nach Ansicht des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte lag durch diese Argumentation eine unterschiedliche Behandlung aufgrund ethnischer Zugehörigkeit vor.
  • Nach der Zwangsräumung und der Demontage der Unterkünfte von 200 Roma im Jahr 2009 ordnete die Stadtverwaltung von Burgas im Januar Berichten zufolge die Zerstörung von 20 Unterkünften durch Räumfahrzeuge an. Der Bürgermeister wurde in den lokalen Medien mit den Worten zitiert, dass die Stadtverwaltung "herumziehende Roma" nicht dulde und "ihnen klarzumachen" versuche, dass jedes Mal, wenn eine illegale Unterkunft gebaut worden sei, diese wieder beseitigt werde.
  • Im April 2010 wurde eine Roma-Siedlung im Stadtteil Vrubnitsa von Sofia bei einer Aktion zerstört, die von der Stadtverwaltung als "Operation Frühlingsputz" bezeichnet wurde. Die Aktion erfolgte Berichten zufolge, nachdem im Januar Bewohner des Stadtteils in einer Eingabe die Räumung der Roma-Siedlung gefordert hatten.

Folter und andere Misshandlungen

Es wurden schwerwiegende Bedenken in Bezug auf die Behandlung von Kindern in Fürsorgeeinrichtungen geäußert. Besorgnis gab es auch im Hinblick darauf, ob die früheren Untersuchungen zur exzessiven Gewaltanwendung durch die Polizei hinreichend waren.

Kinder in Fürsorgeeinrichtungen

  • Im September 2010 veröffentlichte die NGO Bulgarisches Helsinki-Komitee (BHK) die Ergebnisse einer in Zusammenarbeit mit der Staatsanwaltschaft entstandenen Untersuchung über Todesfälle von Kindern mit geistigen Behinderungen in Heimen. Die Untersuchung fand heraus, dass 238 Kinder in den Jahren 2000-10 in Fürsorgeeinrichtungen gestorben waren. Zu den Todesursachen, die im Rahmen der Untersuchung festgestellt wurden, zählten Hunger, Vernachlässigung, allgemeiner körperlicher Verfall, Infektionen, Erfrieren, Lungenentzündung und Gewaltanwendung. Nach Angaben der NGO hätten mindestens drei Viertel dieser Todesfälle vermieden werden können; ein Großteil der Todesfälle sei zuvor noch nie untersucht worden. Nach der Veröffentlichung wurden dem Vernehmen nach in 166 Fällen strafrechtliche Ermittlungen eingeleitet.

Exzessive Gewaltanwendung

Im Juli 2010 berichtete das BHK, dass die unverhältnismäßige Anwendung von Gewalt und der Einsatz von Schusswaffen durch Polizeibeamte nach wie vor gängige Praxis seien und weitgehend straflos blieben.

  • Im Januar 2010 hob das Oberste Kassationsgericht Gefängnisstrafen gegen fünf Polizeibeamte auf. Die Polizisten waren ursprünglich zu insgesamt 82 Jahren Freiheitsentzug verurteilt worden, weil sie im Jahr 2005 Angel Dimitrov erschlagen hatten. Das Gericht verwies den Fall wegen angeblicher Verfahrensmängel und insbesondere wegen der fehlenden Bestimmung der Todesursache an das Militärberufungsgericht zurück. Im November entschied das Militärberufungsgericht, dass die Polizisten die Hälfte der ursprünglich verhängten Freiheitsstrafen verbüßen müssen.
  • Im Juli 2010 stellte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte fest, dass Bulgarien im Fall von Gancho Vachkov das Recht auf Leben verletzt habe. Er war am 6. Juni 1999 bei einer Verfolgungsjagd in der Hauptstadt Sofia von der Polizei durch einen Kopfschuss getötet worden. Das Gericht vertrat die Auffassung, dass der Schusswaffengebrauch "nicht unbedingt notwendig" und die darauf folgende Untersuchung nicht gründlich, unparteiisch und effektiv gewesen sei.
  • Im Oktober 2010 kam der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Falle Karandja gegen Bulgarien zu dem Ergebnis, dass der Staat im Juni 1997 das Recht auf Leben von Peter Karandja verletzt habe. Die bulgarische Gesetzgebung erlaube die Benutzung von Schusswaffen bei der Festnahme eines Verdächtigen, unabhängig von der Schwere der mutmaßlich begangenen Straftat und der davon für andere Menschen ausgehenden Gefahr, der Schusswaffeneinsatz gegen Peter Karandja, der seinen Tod zur Folge hatte, sei jedoch gesetzwidrig gewesen. Nach Ansicht des Gerichts gab es Mängel in der Beweisaufnahme, bei Zeugenaussagen und bei der Beurteilung der Tat. Auch habe der Staat die Familienangehörigen des Opfers nicht über die Ergebnisse der Untersuchung informiert.

Rassismus und Diskriminierung

Im Juni berichteten NGOs über einen Anstieg der Angriffe rechtsextremistischer Gruppen und unzureichende Gegenmaßnahmen von Polizei und Regierung. In den Berichten war von Angriffen auf Roma, ausländische Staatsangehörige, Muslime und sexuelle Minderheiten die Rede.

  • Am 6. Juni 2010 wurden dem Vernehmen nach vier junge Männer in einer Straßenbahn in Sofia verprügelt. Bei den Tätern handelte es sich um etwa 20 maskierte Männer, die sich selbst als Neo-Nazis zu erkennen gegeben haben sollen und mit Schlagringen und Messern bewaffnet waren. Die vier Männer wurden attackiert, als sie sich auf dem Weg zu einer Demonstration befanden, um vor dem Sonderzentrum für die zeitweilige Unterbringung von Ausländern in Busmantsi gegen die Inhaftierung ausländischer Staatsbürger zu protestieren. Sechs der mutmaßlichen Täter wurden festgenommen.

Flüchtlinge, Asylsuchende und Migranten

Nach Ansicht bulgarischer NGOs neigten die Behörden bei der Ausweisung ausländischer Staatsangehöriger zu einer missbräuchlichen Anwendung von Macht.

  • Im Februar 2010 stellte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte fest, dass Bulgarien das Recht des pakistanischen Staatsbürgers Ali Raza auf ein Familienleben und einen wirksamen Rechtsbehelf verletzen würde, falls er nach Pakistan ausgewiesen werde. Ali Raza, der im Jahr 2000 eine Bulgarin geheiratet hatte, war zwischen 2005 und 2008 in einem Haftzentrum untergebracht worden, wo er bis zu seiner Ausweisung bleiben sollte. In der 2005 ausgestellten Abschiebeanordnung hieß es, er stelle eine ernsthafte Gefahr für die nationale Sicherheit dar, ohne dass dafür konkrete Gründe genannt wurden. Obwohl das Gericht anerkannte, dass die Wahrung der Vertraulichkeit von Informationen unabdingbar sein könne, wenn die nationale Sicherheit auf dem Spiel stehe, sei eine vollkommene Geheimhaltung der Gründe für die juristische Entscheidung vor der Öffentlichkeit nicht gerechtfertigt. Da der einzige öffentlich bekannte Vorwurf gegen Ali Raza die Information gewesen sei, "dass [er] in Menschenhandel verwickelt war", sei der Begriff der nationalen Sicherheit "über seine eigentliche Bedeutung hinaus" erweitert worden. Auch hätten die Behörden es versäumt, genauere Angaben über die angeblich von ihm ausgehende Bedrohung zu machen.

Amnesty International: Bericht

Europe: Stop forced evictions of Roma in Europe (EUR 01/005/2010)

Verknüpfte Dokumente