Amnesty International Report 2015/16 - The State of the World's Human Rights - Viet Nam

 

Die Rechte auf freie Meinungsäußerung, Vereinigungsfreiheit und friedliche Versammlung unterlagen weiterhin drastischen Einschränkungen. Staatliche Stellen kontrollierten nach wie vor sowohl die Medien und das Justizwesen als auch politische und religiöse Institutionen. Mindestens 45 gewaltlose politische Gefangene befanden sich noch immer unter harten Bedingungen in Haft, nachdem sie in unfairen Gerichtsverfahren verurteilt worden waren. Unter ihnen waren Blogger, Arbeits- und Landrechtsaktivisten, politisch engagierte Personen, Angehörige von Religionsgemeinschaften und ethnischen Minderheiten sowie Verfechter von Menschenrechten und sozialer Gerechtigkeit. Es wurden neue Gerichtsverfahren gegen Aktivisten eingeleitet. Die Behörden versuchten, die Aktivitäten unabhängiger zivilgesellschaftlicher Gruppen durch Drangsalierung, Überwachung und Einschränkungen der Bewegungsfreiheit zu beschneiden. Zwar verringerte sich die Anzahl der Strafverfahren gegen Blogger und Aktivisten, doch war gleichzeitig eine Zunahme von Drangsalierungen, willkürlichen kurzzeitigen Inhaftierungen und tätlichen Übergriffen durch Sicherheitskräfte zu verzeichnen. Zwischen Oktober 2014 und Dezember 2015 flohen zahlreiche Angehörige der ethnischen Gruppe der Montagnards als Asylsuchende nach Kambodscha und Thailand. Die Todesstrafe wurde beibehalten.

Hintergrund

Ein umfangreiches Programm von Gesetzesreformen wurde fortgesetzt. Mehrere grundlegende Gesetzestexte wurden verfasst oder abgeändert. Änderungen des Zivilgesetzbuchs, des Strafgesetzbuchs, des Gesetzes über Gewahrsam und Haft und der Strafprozessordnung waren zum Jahresende 2015 angenommen worden. Ein neues Gesetz über Vereinigungen, ein Gesetz über Demonstrationen und ein Gesetz über Glauben und Religion waren hingegen Ende 2015 noch nicht fertiggestellt. Die Öffentlichkeit war zu Stellungnahmen aufgefordert worden. Unabhängige zivilgesellschaftliche Gruppen zeigten sich besorgt darüber, dass einige dieser Gesetze nicht im Einklang mit den internationalen Verpflichtungen Vietnams standen, z. B. mit den Bestimmungen des von Vietnam ratifizierten Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte.

Die UN-Antifolterkonvention trat im Februar 2015 in Vietnam in Kraft. Die umfangreichen Reformen, die notwendig sind, um die nationale Gesetzgebung mit den Bestimmungen der Konvention in Einklang zu bringen, waren jedoch bis Ende des Jahres noch nicht verabschiedet worden.

Im September 2015 wurden zum 70. Jahrestag des vietnamesischen Nationalfeiertags mehr als 18 000 Gefangene freigelassen. Unter ihnen befanden sich jedoch keine gewaltlosen politischen Gefangenen.

Zwischen Oktober 2014 und Dezember 2015 flohen zahlreiche Angehörige der ethnischen Gruppe der Montagnards aus dem zentralen Hochland als Asylsuchende nach Kambodscha und Thailand. Die meisten von ihnen führten religiöse Verfolgung und Drangsalierung als Fluchtgrund an. Kambodscha schob viele von ihnen jedoch wieder nach Vietnam ab. Andere kehrten freiwillig zurück, nachdem die kambodschanischen Behörden ihre Registrierung und Aufnahme in das Asylverfahren abgelehnt hatten. Über ihr Schicksal nach der Rückkehr ist nichts bekannt (siehe Länderkapitel Kambodscha).

Unterdrückung Andersdenkender

Mitglieder unabhängiger Aktivistengruppen, die versuchten, ihre Rechte auf Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit wahrzunehmen, wurden regelmäßig schikaniert. Zu den angewandten Methoden gehörten Überwachung, Einschränkungen der Bewegungsfreiheit, willkürliche kurzzeitige Inhaftierungen sowie tätliche Angriffe durch Polizei und Unbekannte, die mutmaßlich in Absprache mit den Sicherheitskräften handelten. Es kam zu zahlreichen Angriffen auf Aktivisten, oft vor oder nach deren Besuch bei entlassenen Häftlingen und Opfern von Menschenrechtsverletzungen oder bei der Teilnahme an Veranstaltungen und Treffen.

Im Juli 2015 wurden friedliche Aktivisten von Sicherheitskräften schikaniert und eingeschüchtert, als sie versuchten, in vier größeren Städten in Solidarität mit gewaltlosen politischen Gefangenen an Hungerstreiks teilzunehmen. Die Aktion war von der im März 2015 ins Leben gerufenen Kampagne We are One organisiert worden. Gleichzeitig war ein von 27 lokalen zivilgesellschaftlichen Organisationen und 122 Einzelpersonen unterzeichneter Brief über die Lage der Menschenrechte in Vietnam an den UN-Menschenrechtsrat geschickt worden.

Die Behörden nutzten weiterhin vage definierte Straftatbestände, um friedliche Aktivisten anzuklagen und zu verurteilen, und zwar hauptsächlich auf der Grundlage von Paragraph 258 des Strafgesetzbuchs von 1999 ("Missbrauch demokratischer Freiheiten zur Verletzung der Interessen des Staates, der legitimen Rechte und Interessen von Organisationen und/oder Staatsbürgern"). Im Februar 2015 wurden in der Provinz Đô`ng Nai drei für die Demokratisierung eintretende Aktivisten auf der Grundlage des Paragraphen 258 zu Gefängnisstrafen zwischen zwölf und 18 Monaten verurteilt. Sie waren im Mai 2014 festgenommen worden, als sie bei Protesten gegen China als Beobachter fungierten.

Der bekannte Menschenrechtsanwalt und ehemalige gewaltlose politische Gefangene Nguyê˜n Vaˇn Đài und seine Kollegin Lê Thu Hà wurden im Dezember 2015 unter Paragraph 88 des Strafgesetzbuchs wegen "Verbreitung von Propaganda gegen den Staat" festgenommen. Wenige Tage zuvor hatte Nguyê˜n Vaˇn Đài mit drei Kollegen in der Provinz Nghê. An einen Workshop zum Thema Menschenrechte abgehalten. Daraufhin wurden alle vier von 20 Männern in Zivilkleidung brutal angegriffen.

Der Blogger Nguyên Hu'u Vinh und seine Mitarbeiterin Nguyên Thi. Minh Thúy wurden seit ihrer Festnahme im Mai 2014 in Untersuchungshaft gehalten. Sie wurden im Februar 2015 auf der Grundlage von Paragraph 258 des Strafgesetzbuchs wegen ihrer Verbindung zu Blogs über Bürgerrechte (Dân Quyê`n) und die Geschichte Vietnams (Chép su¸' Viê.t) angeklagt. Die beiden Blogs, in denen die Regierungspolitik und Regierungsbeamte kritisiert wurden, sind mittlerweile gelöscht worden.

Die bekannte Bloggerin und Journalistin Ta. Phong Tâ`n kam im September 2015 frei und wurde unmittelbar danach ins Exil in die USA ausgeflogen. Sie hatte vier Jahre einer zehnjährigen Haftstrafe verbüßt, zu der sie wegen "Propaganda gegen den Staat" verurteilt worden war.

Es trafen weiterhin Berichte über die Unterdrückung religiöser Aktivitäten außerhalb staatlich genehmigter Kirchen ein. Zu den Betroffenen gehörten Hoa-Hao-Buddhisten, katholische Gläubige und christliche ethnische Minderheiten.

Bewegungsfreiheit

Obwohl gegenüber den Vorjahren weniger Menschenrechtsverteidiger und Regierungskritiker inhaftiert und strafrechtlich verfolgt wurden, waren eine höhere Zahl tätlicher Angriffen und schärfere Einschränkungen der Freizügigkeit zu beobachten. Mehrere Aktivisten wurden unter Hausarrest gestellt. Einigen, die ins Ausland reisen wollten, um an Menschenrechtsveranstaltungen teilzunehmen, wurden die Reisepässe entzogen. Andere, denen es gelungen war auszureisen, wurden nach ihrer Rückkehr festgenommen und von der Polizei verhört.

Sicherheitskräfte nahmen im März 2015 Trân Thi Nga fest, Mitglied der unabhängigen Gruppe Vietnamesische Frauen für Menschenrechte, als sie gerade auf dem Weg zu einem Treffen mit einer ausländischen Delegation war, die an der Versammlung der Interparlamentarischen Union in der Hauptstadt Hanoi teilnahm. Zusammen mit ihren beiden kleinen Kindern wurde sie unter Zwang in ihre Wohnung in der Provinz Hà Nam zurückgebracht und auf der Fahrt dorthin von Sicherheitsbeamten geschlagen.

Tod in Gewahrsam

Im März 2015 wurden in der Nationalversammlung Zweifel an einer Aussage des Ministeriums für Innere Sicherheit geäußert, wonach 226 Todesfälle in Polizeigewahrsam zwischen Oktober 2011 und September 2014 hauptsächlich auf Krankheit oder Selbsttötung zurückzuführen seien. Im Jahr 2015 gab es Meldungen über mindestens sieben Todesfälle in Gewahrsam, bei denen Verdacht auf Folter oder andere Misshandlungen durch die Polizei bestand.

Gewaltlose politische Gefangene

Mindestens 45 gewaltlose politische Gefangene befanden sich noch immer in Haft. Die meisten von ihnen waren auf der Grundlage vage formulierter Bestimmungen über die nationale Sicherheit im Strafgesetzbuch verurteilt worden, z. B. unter Paragraph 79 wegen "Umsturz der staatlichen Ordnung" oder Paragraph 88 wegen "Verbreitung von Propaganda". Mindestens 17 gewaltlose politische Gefangene wurden nach Verbüßung ihrer Gefängnisstrafe freigelassen, doch standen sie noch eine Zeitlang unter Hausarrest. Thích Quang Đô, das Oberhaupt der verbotenen Vereinigten Buddhistischen Kirche von Vietnam, verbrachte das zwölfte Jahr unter De-facto-Hausarrest, und Pater Nguyên Van Lý, ein für Demokratisierung eintretender katholischer Priester, verbüßte weiterhin eine achtjährige Gefängnisstrafe. Einige Gefangene wurden genötigt, im Austausch für den Erlass eines Teils ihrer Strafe "Schuldgeständnisse" abzulegen.

Die Haftbedingungen für gewaltlose politische Gefangene waren weiterhin hart, und sie wurden schlecht behandelt. Ihnen fehlte die Möglichkeit zu körperlicher Betätigung, sie waren verbalen und körperlichen Angriffen ausgesetzt und mussten längere Zeiten in überhitzten Zellen zubringen, in denen es fast kein natürliches Licht gab. Auch standen ihnen oft keine sanitären Anlagen zur Verfügung. Sie wurden häufig in andere Gefängnisse verlegt und in fernab von ihren Heimatorten und Familien gelegenen Hafteinrichtungen untergebracht, sodass Familienbesuche schwierig waren. Mehrere Gefangene protestierten mit Hungerstreiks gegen Einzelhaft und Misshandlungen. Unter ihnen befanden sich Ta. Phong Tân (siehe oben), Nguyên Đang Minh Mân, die eine achtjährige Haftstrafe verbüßte, und Đinh Nguyên Kha, der zu vier Jahren Haft verurteilt worden war. Nguyên Van Duyêt, ein Katholik, der sich gesellschaftlich engagiert hatte und eine Freiheitsstrafe von dreieinhalb Jahren verbüßte, protestierte dagegen, dass ihm eine Bibel verweigert wurde. Die für soziale Gerechtigkeit eintretende Aktivistin Hô Thi. Bích Khu'o'ng, die eine fünfjährige Gefängnisstrafe ableistete, legte Protest ein, als ihr bei der Verlegung in ein anderes Gefängnis die Mitnahme persönlicher Gegenstände verweigert wurde.

Todesstrafe

Die Nationalversammlung beschloss eine Reduzierung der Anzahl der Verbrechen, die mit der Todesstrafe geahndet werden, von 22 auf 15 sowie die Abschaffung der Todesstrafe für Täter im Alter von 75 Jahren oder älter. Es wurden nach wie vor Todesurteile für Drogendelikte verhängt. Obwohl die offiziellen Statistiken noch immer als Staatsgeheimnis galten, soll das Justizministerium im Oktober 2015 mitgeteilt haben, dass sich 684 Gefangene im Todestrakt befanden. Die Medien berichteten über mindestens 45 Todesurteile. Im Januar 2015 erhielt die Oberste Volksstaatsanwaltschaft den Auftrag, 16 Fälle von Todesurteilen zu überprüfen, in denen die Angeklagten angegeben hatten, während der Verhöre durch die Polizei gefoltert worden zu sein. Im Oktober wurde die Hinrichtung von Lê Van Manh wegen weiterer Ermittlungen verschoben. Er hatte angegeben, in Polizeigewahrsam gefoltert worden zu sein.

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