Amnesty International Report 2012 - The State of the World's Human Rights

Amtliche Bezeichnung: Libyen
Staatsoberhaupt: Mustafa Mohammed Abdul Dschalil (löste faktisch Mu'ammar al-Gaddafi im August im Amt ab)
Regierungschef: Abdelrahim al-Kib (löste Mahmod Dschibril im Oktober im Amt
ab, der das Amt im August von Al-Baghdadi Ali al-Mahmudi übernommen hatte)
Todesstrafe: nicht abgeschafft
Einwohner: 6,4 Mio.
Lebenserwartung: 74,8 Jahre
Kindersterblichkeit: 18,5 pro 1000 Lebendgeburten
Alphabetisierungsrate: 88,9%

Sicherheitskräfte des libyschen Staatschefs Mu'ammar al-Gaddafi töteten und verletzten mehrere Tausend Menschen, unter ihnen auch friedliche Demonstrierende und Passanten, nachdem Mitte Februar 2011 Proteste ausgebrochen waren, die sich zu einem rund achtmonatigen bewaffneten Konflikt ausweiteten. Im Verlauf des Konflikts griffen internationale Streitkräfte, die im Rahmen eines UN-Mandats die Zivilbevölkerung schützen sollten, Gaddafis Truppen aus der Luft an und trugen dazu bei, dass die oppositionellen Kräfte die Oberhand gewinnen konnten. Die Truppen Gaddafis beschossen Wohngegenden mit Mörsern, Artillerie und Raketen und setzten Antipersonenminen, Streumunition und andere Waffen ein. Diese wahllosen Angriffe kosteten vor allem in Misrata, der drittgrößten Stadt Libyens, zahlreiche Zivilpersonen das Leben. Tausende Menschen wurden von Gaddafis Sicherheitskräften entführt, gefoltert oder anderweitig misshandelt. Gefangengenommene oppositionelle Kämpfer und andere Personen fielen außergerichtlichen Hinrichtungen zum Opfer.

Die Streitkräfte der Opposition feuerten ebenfalls Raketen und andere unterschiedslos wirkende Waffen in Wohngebiete. Der Nationale Übergangsrat (National Transitional Council - NTC), ein Ende Februar gegründeter loser Zusammenschluss von Oppositionellen gegen Staatschef al-Gaddafi, übte zwar ab Ende August die Kontrolle über einen Großteil des Landes aus, es gelang ihm aber nicht, die Milizen in den Griff zu bekommen, die sich im Laufe des Konflikts gebildet hatten. Während der bewaffneten Auseinandersetzungen wurden auf beiden Seiten Kriegsverbrechen und Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht und die Menschenrechte begangen, die zu dem düsteren Erbe an Menschenrechtsverletzungen aus den vergangenen Jahren hinzugezählt werden müssen. Durch den Konflikt verstärkten sich rassistische Tendenzen und eine bereits bestehende Fremdenfeindlichkeit. Oppositionelle Milizen nahmen Tausende vermeintlicher Gaddafi-Anhänger, Soldaten und mutmaßliche "afrikanische Söldner" gefangen. Viele von ihnen wurden in der Haft geschlagen und misshandelt. Sie wurden ohne Anklageerhebung und Gerichtsverfahren festgehalten und hatten selbst Ende 2011, Monate nach dem Ende der Kampfhandlungen, keine Möglichkeit, die Rechtmäßigkeit ihrer Haft anzufechten. Zahlreiche weitere mutmaßliche Unterstützer von Mu'ammar al-Gaddafi wurden bei ihrer Festnahme durch oppositionelle Kämpfer oder unmittelbar danach getötet. Unter den Opfern befanden sich auch der gestürzte libysche Staatschef selbst und einer seiner Söhne.

Oppositionelle Kräfte plünderten und brandschatzten Häuser und verübten Vergeltungsmaßnahmen und Racheakte an mutmaßlichen Gaddafi-Anhängern.

Hunderttausende Menschen ergriffen aufgrund des Konflikts die Flucht. Sie suchten an anderen Orten innerhalb des Landes oder in den Nachbarländern Zuflucht. Dadurch wurden größere Evakuierungen ausländischer Staatsangehöriger ausgelöst. Die Verantwortlichen für schwere Menschenrechtsverletzungen der Vergangenheit gingen weiterhin straffrei aus. Dasselbe galt für die fortdauernden Verstöße durch Milizen. Frauen wurden nach wie vor durch die Gesetzgebung sowie im täglichen Leben diskriminiert.

Hintergrund

Die für den 17. Februar 2011 geplanten Protestaktionen gegen die Regierung brachen in Libyens zweitgrößter Stadt Bengasi bereits zwei Tage früher aus, nachdem Sicherheitskräfte zwei bekannte Aktivisten festgenommen hatten. Die Behörden setzten die Männer bald wieder auf freien Fuß, die Protestaktionen breiteten sich jedoch sehr schnell im ganzen Land aus. Die Sicherheitskräfte gingen mit exzessiver und tödlicher Gewalt gegen Demonstrierende vor, um die Kundgebungen niederzuschlagen. Innerhalb von zwei Wochen weiteten sich die Proteste zu einem bewaffneten Konflikt aus. Oppositionelle Kämpfer überwältigten die Regierungskräfte im Osten Libyens, in den Nafusa-Bergen und in der Küstenstadt Misrata mit Waffengewalt. Die bewaffneten Zusammenstöße verschärften sich, als Gaddafis Truppen versuchten, die an die Opposition verlorenen Gebiete wieder unter ihre Kontrolle zu bringen. Gleichzeitig setzte die Opposition ihren Eroberungszug fort. Am 17. März verabschiedete der UN-Sicherheitsrat die Resolution 1973. Diese beinhaltete die Einrichtung einer Flugverbotszone über Libyen und die Umsetzung aller notwendigen Maßnahmen zum Schutz von Zivilpersonen, mit Ausnahme einer Besetzung durch ausländische Truppen. Zwei Tage später begann eine internationale Allianz mit Luftangriffen gegen Gaddafis Streitkräfte, die in die Außenbezirke von Bengasi vorrückten, und unterstützte damit die Bemühungen der oppositionellen Kräfte, die regierungstreuen Truppen zurückzudrängen. Ab Ende März koordinierte die NATO die Militäroperationen. Bis 31. Oktober wurden Tausende von Luftangriffen gegen die Streitkräfte Gaddafis und die Infrastruktur des Landes geflogen. Ende August kontrollierte die Opposition fast ganz Libyen, einschließlich der Hauptstadt Tripolis.

Die Kampfhandlungen dauerten jedoch an, vor allem in Bani Walid und Sirte. Am 23. Oktober verkündete der Vorsitzende des Nationalen Übergangsrats offiziell die "Befreiung Libyens".

Der Nationale Übergangsrat versprach die Schaffung eines demokratischen Mehrparteienstaates, der auf der Achtung der fundamentalen Menschenrechte basieren werde. In einer "Verfassungserklärung" vom 3. August wurden grundlegende Menschenrechtsprinzipien verankert, wie z.B. die Anerkennung von Grundfreiheiten, der Grundsatz der Gleichbehandlung sowie das Recht auf ein faires Gerichtsverfahren.
Exzessive Gewaltanwendung Sicherheitskräfte Mu'ammar al-Gaddafis wandten exzessive und tödliche Gewalt an, um die im Februar ausgebrochenen Proteste niederzuschlagen. Sie feuerten mit automatischen Schnellfeuergewehren auf unbewaffnete Demonstrierende. Zwischen dem 16. und dem 21. Februar 2011 kamen in Bengasi und al-Baida etwa 170 Personen ums Leben, mehr als 1500 erlitten Verletzungen. Die Protestaktionen am 20. Februar 2011 in Tripolis und Umgebung schlugen die Sicherheitskräfte ebenfalls nieder, indem sie scharfe Munition einsetzten. Es gab zahlreiche Tote und Verletzte, darunter auch friedliche Demonstrierende und Passanten.

  • Naji Jerdano, der sich in Bengasi an Protestaktionen gegen die Regierung beteiligt hatte, wurde am 17. Februar von Gaddafis Sicherheitskräften geschlagen und erschossen. Er und zwei weitere Männer wurden nahe der al-Nasr-Moschee während des Abendgebets durch Scharfschützen getötet, die sich auf der Jalyana-Brücke verschanzt hatten.
  • Am 18. Februar wurde die achtjährige Roqaya Fawzi Mabrouk durch einen Schuss tödlich getroffen, der ihr Schlafzimmerfenster durchschlug. Das Geschoss war vom Hussein-al-Jaweifi-Militärlager in Shahat in der Nähe von al-Baida abgefeuert worden, wo Berichten zufolge Gaddafi-treue Truppen stationiert waren.

Menschenrechtsverstöße während des bewaffneten Konflikts

Beim Versuch, die von der Opposition eingenommenen Städte zurückzuerobern, begingen Gaddafis Truppen schwere Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht, darunter auch Kriegsverbrechen. Unter anderem in Misrata, Ajdabiya, al-Zawiya und in den Nafusa-Bergen gab es wahllose Angriffe sowie Angriffe, die sich gezielt gegen Zivilpersonen richteten. Die Sicherheitskräfte schossen mit Artillerie, Mörsern und Raketen auf Wohngebiete. Auch unterschiedslos wirkende Waffen wie Antipersonenminen und Streubomben wurden in Wohngegenden eingesetzt. Diese rechtswidrigen Angriffe töteten und verletzten Hunderte von Zivilpersonen, die nicht an den Kampfhandlungen beteiligt waren.

In Misrata waren die Verluste unter der Zivilbevölkerung besonders hoch. Die Bevölkerung war ab Ende Februar 2011 von der Außenwelt abgeschnitten, da Gaddafis Sicherheitskräfte die Stadt belagerten und Raketen auf den Hafen abschossen - den einzig verbliebenen Zugang, um humanitäre Hilfsgüter anzuliefern und Kranke und Verwundete zu evakuieren. Die willkürlichen Angriffe hörten im Mai auf, begannen aber Mitte Juni aufs Neue und wurden bis Anfang August sporadisch fortgeführt. Nach Angaben des medizinischen Personals vor Ort wurden während der Belagerung der Stadt mehr als 1000 Menschen getötet.

  • Die einjährige Rudaina Shami und ihr dreijähriger Bruder Mohamed Mostafa Shami kamen am 13. Mai 2011 ums Leben, als Truppen al-Gaddafis "Grad"-Raketen auf Wohnhäuser im Ruissat-Viertel von Misrata abfeuerten. Die fünfjährige Schwester der beiden Opfer, Malak, wurde bei dem Angriff so schwer verletzt, dass ihr rechtes Bein amputiert werden musste.

Mu'ammar al-Gaddafis Truppen schossen auch auf Bewohner von Misrata, Ajdabiya, al-Zawiya und anderen Dörfern und Städten, die vor den Kampfhandlungen fliehen wollten. Dabei kamen neben scharfer Munition auch Artilleriegeschosse und Panzerfäuste zum Einsatz.

  • Miftah al-Tarhouni und sein erwachsener Sohn Mohammed wurden am 20. März 2011 in der Nähe des Osttors von Ajdabiya getötet, als ihr Auto von einem Geschoss getroffen wurde. Es schien sich um eine Rakete oder um eine Artilleriegranate zu handeln, die offenbar von Gaddafi-Truppen abgefeuert worden war.

Auch die Kämpfer der Opposition schossen "Grad"-Raketen von ihren Positionen im Osten Libyens, in Misrata und in Sirte ab. Es ist nicht bekannt, inwieweit diese Angriffe zu zivilen Opfern führten.

Mu'ammar al-Gaddafis Regierung beschuldigte die NATO, zivile Objekte angegriffen und dadurch Hunderte von Opfern unter der Zivilbevölkerung verursacht zu haben. Diese Angaben waren übertrieben und wurden nicht durch eindeutige Beweise untermauert. Es gab jedoch glaubwürdige Berichte, dass bei NATO-Angriffen zwischen Juni und Oktober 2011 einige Dutzend Zivilpersonen ums Leben kamen, u.a. in Majer, Tripolis, Surman und Sirte. Es ist nicht bekannt, ob es seitens der NATO unparteiische und unabhängige Untersuchungen gab, um festzustellen, ob alle notwendigen Vorkehrungen getroffen wurden, um zivile Ziele zu schonen und zivile Opfer zu vermeiden, wie dies das humanitäre Völkerrecht vorschreibt.

  • Am 8. August 2011 kamen bei einem NATO-Luftangriff 18 Männer, acht Frauen und acht Kinder ums Leben, als zwei Häuser in der Gegend von Majer, nahe Zlitan, getroffen wurden. Dem Vernehmen nach handelte es sich bei allen Opfern um Zivilpersonen.

Willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen

Die Sicherheitskräfte Gaddafis inhaftierten in ganz Libyen Tausende von Menschen. Einige von ihnen fielen dem Verschwindenlassen zum Opfer. Die Festnahmen erfolgten bereits vor Beginn der Proteste im Februar und weiteten sich im Zuge des Konflikts immer stärker aus. Zu den Inhaftierten zählten tatsächliche oder mutmaßliche Anhänger und Kämpfer der Opposition sowie Personen, die in den Kampfgebieten oder in deren Umgebung gefangen genommen wurden. Manche wurden in ihren Häusern festgenommen, andere auf der Straße oder auf öffentlichen Plätzen in Gebieten, die von der Opposition kontrolliert wurden, in die Gaddafi-treue Truppen aber immer wieder einfielen. Dies betraf vor allem Misrata und Städte in den Nafusa-Bergen. Die Inhaftierten durften meist keinen Kontakt zur Außenwelt aufnehmen. Einige von ihnen wurden von den Gaddafi-Streitkräften freigelassen, die überwiegende Mehrheit kam jedoch erst frei, nachdem die oppositionellen Kämpfer Ende August die Kontrolle über Tripolis gewonnen hatten. Die genaue Anzahl der Menschen, die im Laufe des Konflikts vermisst wurden, stand nicht fest. Zahlreiche Häftlinge wurden in Gewahrsam getötet (siehe unten).

  • Jamal al-Haji, ein langjähriger Kritiker Mu'ammar al-Gaddafis, wurde am 1. Februar 2011 in Tripolis von Sicherheitsbeamten in Zivil festgenommen, nachdem er auf einer Internetseite, die vom Ausland aus betrieben wurde, zu Protestaktionen aufgerufen hatte. Er wurde fast sieben Monate lang unter entsetzlichen Bedingungen ohne Kontakt zur Außenwelt in einer Einrichtung des Geheimdienstes im Stadtteil Nasr sowie im Abu-Salim-Gefängnis in Tripolis festgehalten. Eine Zeitlang saß er in Einzelhaft. Kämpfer des Nationalen Übergangsrats befreiten ihn am 24. August.
    Oppositionskämpfer nahmen während und nach dem Konflikt Tausende tatsächlicher bzw. vermeintlicher Gaddafi-Anhänger und Soldaten gefangen, darunter auch Personen, die verdächtigt wurden, ausländische Söldner zu sein. Viele wurden von Gruppen schwer bewaffneter Männer zu Hause aufgegriffen, andere auf der Straße oder an Kontrollpunkten. In vielen Fällen wurden sie bei ihrer Festnahme geschlagen oder anderweitig misshandelt, ihre Häuser wurden geplündert und zerstört. Die Häftlinge bekamen keinen Zugang zu Rechtsanwälten. Unter dem Nationalen Übergangsrat hatten weder das Ministerium für Justiz und Menschenrechte noch die Staatsanwaltschaft eine wirksame Kontrolle oder Übersicht über die Mehrzahl der Hafteinrichtungen. Tausende Inhaftierte befanden sich Ende 2011 noch immer in Haftzentren - ohne Anklageerhebung und ohne dass man ihnen die Gelegenheit gegeben hatte, die Rechtmäßigkeit ihrer Haft anzufechten.

Ein großer Teil der Häftlinge stammte aus afrikanischen Ländern südlich der Sahara. Einige von ihnen waren ab Februar im Osten des Landes und in Misrata inhaftiert worden, weil man sie für Söldner al-Gaddafis hielt, andere wurden im August in Tripolis und in den Städten im Westen des Landes aufgegriffen, als die Opposition dort die Kontrolle übernahm. Im Osten Libyens und in Misrata ließ man die meisten dieser Häftlinge wieder frei, wenn es keine Beweise für ihre Beteiligung an den Kampfhandlungen gab. Hunderte Männer aus Tawargha, einem Gebiet, das als Gaddafi-treu galt, wurden verfolgt, aus ihren Wohnhäusern, aus provisorischen Unterkünften und an Kontrollpunkten entführt. Sie wurden inhaftiert, gefoltert oder misshandelt.

Folter und andere Misshandlungen

Von den Truppen al-Gaddafis festgenommene Personen wurden gefoltert und anderweitig misshandelt, vor allem bei ihrer Gefangennahme und während der ersten Verhöre. Sie wurden mit Gürteln, Peitschen, Metalldrähten und Gummischläuchen geschlagen und in schmerzhaften Positionen über lange Zeiträume hinweg aufgehängt. Man verweigerte ihnen die notwendige medizinische Versorgung, auch wenn sie aufgrund der Folter Verletzungen erlitten hatten oder Schusswunden aufwiesen. Einige von ihnen wurden mit Elektroschocks gefoltert. Auf mehrere Personen wurde nach ihrer Ergreifung geschossen, obwohl von ihnen keine Gefahr ausging. Einige Personen wurden in Metallcontainer eingesperrt, in denen sie erstickten.

  • Am 6. Juni 2011 reagierten die Wachen nicht auf die Bitten von Gefangenen, die nach Wasser und Luft verlangten. Die Männer wurden in der Nähe von al-Khums in zwei Metallcontainern festgehalten; 19 Männer erstickten.

Eine Reihe von männlichen Gefangenen wurde von ihren Entführern oder vom Gefängnispersonal vergewaltigt.

  • Ein 50-jähriger Mann wurde von Sicherheitskräften Gaddafis Ende Februar 2011 in der Tajoura-Herzklinik in Tripolis während einer medizinischen Behandlung festgenommen. Im Ain-Zara-Gefängnis, das sich ebenfalls in Tripolis befindet, trat man ihn, schlug ihn mit Stöcken und Gewehrkolben, verabreichte ihm Elektroschocks und fesselte ihn an einen Baum. Er wurde während seiner Haft zweimal mit Gegenständen vergewaltigt.

Anhänger des Nationalen Übergangsrats erhoben in zahlreichen Fällen den Vorwurf, die Truppen Gaddafis hätten Vergewaltigungen verübt. Einige Frauen, die von bewaffneten Einheiten des Nationalen Übergangsrats in al-Zawiya, Tripolis und Misrata inhaftiert wurden, gaben an, sie seien sexuell missbraucht worden.

  • Eman al-Obeidi sagte internationalen Journalisten am 26. März, sie sei von Gaddafi-treuen Soldaten vergewaltigt worden. Nachdem sie einige Zeit in Gewahrsam der Gaddafi-Truppen verbracht hatte, wurde sie freigelassen und floh im Mai aus Libyen. Im Juni wurde sie von Katar nach Bengasi abgeschoben, durfte aber später das vom Nationalen Übergangsrat kontrollierte Gebiet verlassen.

In Gebieten, die unter der Kontrolle des Nationalen Übergangsrats standen, erlitten Gefangene Folter und andere Misshandlungen durch Milizen, die die Hafteinrichtungen beherrschten, ohne dass diese Übergriffe geahndet worden wären. Dies betraf sowohl den Zeitraum bis August, in dem der Nationale Übergangsrat Teile des Landes kontrollierte, als auch die Zeit nach der Einnahme von Tripolis. Die Gefangenen sollten offenbar für angebliche Vergehen bestraft oder zu "Geständnissen" gezwungen werden. Zu den am häufigsten berichteten Foltermethoden zählten Schläge mit Gürteln, Stöcken, Gewehrkolben und Gummischläuchen auf den ganzen Körper, Faustschläge, Fußtritte und Morddrohungen. Personen mit dunkler Hautfarbe waren besonders stark von Misshandlungen betroffen. Dabei machte es keinen Unterschied, ob sie libysche Staatsangehörige oder Ausländer waren.

  • Ein 17-jähriger Arbeitsmigrant aus dem Tschad wurde im August 2011 von bewaffneten Männern zu Hause festgenommen. Sie legten ihm Handschellen an, schlugen ihn ins Gesicht und schleiften ihn auf dem Boden zu einer Schule, die als Haftanstalt diente. Dort wurde er mit Fäusten und Stöcken, Gürteln, Gewehrkolben und Gummikabeln auf den Kopf, ins Gesicht und auf den Rücken geschlagen. Die Folter endete erst, als er sich zu dem "Geständnis" bereit erklärte, er habe Zivilpersonen getötet und Frauen vergewaltigt.

Einige Häftlinge starben in Gewahrsam der Milizen unter Umständen, die vermuten ließen, dass ihr Tod auf Folter zurückzuführen war.

  • Abdelhakim Milad Jum'a Qalhud, der in der östlich von Tripolis gelegenen Stadt al-Qarabuli eine Schule leitete, wurde am 16. Oktober von örtlichen Milizen in seinem Haus festgenommen. An den folgenden Tagen wurde er zweimal von Ärzten untersucht. Sie stellten fest, dass er an mehreren Stellen seines Körpers Quetschungen aufwies, und empfahlen dringend eine Behandlung im Krankenhaus. Die Milizen ignorierten diese Empfehlungen und brachten am 25. Oktober seine Leiche in das örtliche Krankenhaus. Laut Obduktionsbericht starb Abdelhakim Milad Jum'a Qalhud vermutlich aufgrund von Schlägen mit einem Gegenstand. Es wurden keine wirksamen Ermittlungen eingeleitet, um die Todesumstände aufzuklären.

Außergerichtliche Hinrichtungen

Gaddafi-treue Soldaten töteten in Ostlibyen und Misrata oppositionelle Kämpfer nach ihrer Gefangennahme. Man fand Leichen, deren Hände auf dem Rücken zusammengebunden waren und die zahlreiche Schussverletzungen am Oberkörper aufwiesen.

  • Die Leichen von Walid Sa'ad Badr al-Obeidi und den Brüdern Walid und Hassan al-Sabr al-Obeidi - alle drei Kämpfer der Opposition - wurden am 21. März 2011 in der Nähe von Bengasi aufgefunden. Familienangehörige gaben später an, die Hände der Männer seien auf ihren Rücken gefesselt gewesen. Zwei der Leichen hätten sichtbare Verletzungen aufgewiesen, die darauf hindeuteten, dass sie geschlagen worden waren, bevor man sie getötet hatte.

Im Westen Libyens wurden zwischen Juni und August ebenfalls zahlreiche Gefangene von Sicherheitskräften Gaddafis außergerichtlich hingerichtet. Die meisten der Opfer wurden erschossen.

  • In einem Militärlager in Khilit al-Firjan in Tripolis schleuderten Wärter am 23. August fünf Handgranaten in einen Hangar, in dem rund 130 Gefangene festgehalten wurden. Dann eröffneten sie das Feuer. Später fand man ungefähr 50 verkohlte Leichen.
    Im Verlauf der erstmaligen Einnahme von Städten wie al-Baida, Bengasi, Derna und Sirte töteten Kämpfer und Anhänger der Opposition vorsätzlich Personen, die im Verdacht standen, Soldaten oder Unterstützer Gaddafis zu sein, sowie Personen, die sie für "afrikanische Söldner" hielten. Einige der Opfer wurden erschlagen, andere erhängt; manche wurden erschossen, nachdem sie sich ergeben hatten oder gefangen genommen worden waren.

Es kam zu Vergeltungsmaßnahmen, die sich gegen Angehörige der Sicherheitskräfte Gaddafis und andere mutmaßliche Anhänger des Staatschefs richteten. Einige von ihnen wurden tot aufgefunden, nachdem schwer bewaffnete Männer sie ergriffen hatten. Einige der Leichen wurden mit auf den Rücken gefesselten Händen aufgefunden.

  • Der ehemalige Mitarbeiter des Internen Sicherheitsdienstes Hussein Gaith Bou Shiha wurde am 8. Mai 2011 von bewaffneten Männern aus seinem Haus abgeführt. Am nächsten Morgen fand man ihn nahe Bengasi tot auf. Er trug Handschellen, und man hatte ihm in den Kopf geschossen.
  • Abdul Fatah Younes al-Obeidi, der ehemalige Vorsitzende des Allgemeinen Volkskomitees für Öffentliche Sicherheit (dem Amt eines Innenministers vergleichbar), der im Februar zur Opposition überlief, und seine Mitarbeiter Mohamed Khamis und Nasser Mathkur starben Ende Juli an Schussverletzungen. Sie waren am 27. Juli von schwer bewaffneten Männern zu einem Verhör in ein Militärlager in Gharyounes gebracht worden. Später sollen sie an einen anderen Ort verlegt worden sein.
  • Videomaterial und weitere Beweismittel deuteten darauf hin, dass Oberst al-Gaddafi am 20. Oktober 2011 lebend gefangen genommen worden war, als er aus Sirte fliehen wollte, und dann zusammen mit seinem Sohn Mu'tassim allem Anschein nach außergerichtlich hingerichtet worden war. Der Nationale Übergangsrat kündigte eine Untersuchung an. Ende 2011 waren jedoch noch keine Ergebnisse veröffentlicht worden.
  • Am 23. Oktober fand man im Mahari-Hotel in Sirte, einem Stützpunkt der Gaddafi-Gegner, die Leichen von 65 Männern. Es handelte sich sowohl um Zivilisten als auch um mögliche Kämpfer Gaddafis. Einigen von ihnen waren die Hände auf dem Rücken gefesselt worden. Viele der Toten wiesen Kopfschüsse auf. Videoaufnahmen, die drei Tage zuvor von Kämpfern der Opposition aufgenommen worden waren, zeigten, wie 29 Männer misshandelt und mit dem Tod bedroht wurden. Fast alle gehörten zu den später tot aufgefundenen 65 Männern. Es wurde keine Untersuchung der Tötungen eingeleitet.

Vertreibungen

Vor Ausbruch des Konflikts lebten mindestens 2 Mio. Ausländer in Libyen oder hielten sich dort vorübergehend auf. Viele von ihnen benötigten internationalen Schutz. Als sich der Konflikt verschärfte, flohen Hunderttausende Ausländer und Libyer außer Landes - viele ausländische Staatsangehörige im Zuge organisierter Evakuierungen. Viele wurden auf der Flucht ausgeraubt, manche wurden festgenommen, stunden- oder tagelang inhaftiert und geschlagen, ehe ihnen die Weiterreise erlaubt wurde. Dies betraf vor allem Menschen aus den Ländern südlich der Sahara. Die große Mehrheit floh nach Tunesien und Ägypten (siehe Länderberichte Tunesien und Ägypten sowie das einleitende Kapitel über Europa).

Hunderttausende Menschen wurden innerhalb von Libyen vertrieben. Nach dem Ende der Kampfhandlungen gelang es einigen von ihnen, in ihre Heimatorte zurückzukehren. Einwohner von Orten, die als Gaddafi-treu galten, fürchteten allerdings Vergeltungsmaßnahmen nach ihrer Rückkehr und waren Ende 2011 noch immer Binnenflüchtlinge. Zu ihnen zählten Angehörige der Volksgruppe der Mashashiya in den Nafusa-Bergen sowie 30000 ehemalige Bewohner von Tawargha. Sie hatten ihre Heimatstadt verlassen, als die Kämpfer der Opposition im August aus Misrata nach Tawargha vorrückten. In Misrata und anderen Gebieten hinderten Milizen einige mutmaßliche Gaddafi-Anhänger an der Rückkehr in ihre Häuser. Darüber hinaus kam es zu Plünderungen und Zerstörungen von Häusern, für die niemand zur Rechenschaft gezogen wurde.

Flüchtlinge, Asylsuchende und Migranten

Der Nationale Übergangsrat sicherte zu, das Recht auf Asyl zu respektieren. Er unterzeichnete jedoch nicht die Genfer Flüchtlingskonvention und ihr Zusatzprotokoll von 1967. Im April kündigte der Vorsitzende des Nationalen Übergangsrats an, die "Grenzen gegenüber diesen Afrikanern zu schließen". Dies gab Anlass zu der Sorge, dass Flüchtlinge, Asylsuchende und Migranten in Libyen auch künftig diskriminiert, missbraucht und als unwillkommene Gäste betrachtet werden könnten. Im Juni unterzeichneten der Nationale Übergangsrat und Italien eine Absichtserklärung, in der sich beide Seiten verpflichteten, das "Phänomen der Migration" gemeinsam zu bewältigen, indem bereits bestehende Kooperationsvereinbarungen bezüglich "illegaler Migration" umgesetzt würden (siehe Länderbericht Italien). Dies erinnerte an frühere Verstöße gegen das Recht auf Asyl: Dazu zählten Operationen im Mittelmeer, bei denen ausländische Staatsangehörige aufgebracht und nach Libyen zurückgeführt wurden, wo ihnen Inhaftierung, Folter und Haft unter unzumutbaren Bedingungen drohten. Ende 2011 waren Hunderte von Afrikanern aus Ländern südlich der Sahara noch immer wegen mutmaßlicher "Vergehen bei der Einreise" unbegrenzt und ohne Gerichtsverfahren inhaftiert.

Frauenrechte

Der Nationale Übergangsrat versprach, die Frauenrechte zu verbessern, und schrieb das Prinzip des Diskriminierungsverbots - auch in Bezug auf das Geschlecht - in der "Verfassungserklärung" fest. Dennoch war die Diskriminierung von Frauen weiterhin ein fester Bestandteil sowohl der Gesetzgebung als auch des täglichen Lebens.
Am 23. Oktober 2011 kündigte der Vorsitzende des Nationalen Übergangsrats an, er wolle alle Gesetze ändern, die im Widerspruch zum Scharia-Recht stünden. Er bezog sich damit auf die libysche Gesetzgebung zur Eheschließung. Das Gesetz Nr. 10 aus dem Jahr 1984 über Eheschließung, Scheidung und deren Konsequenzen erlaubt die Vielehe. Es verlangt allerdings, dass ein Mann, der eine weitere Frau heiraten will, die Genehmigung eines speziellen Gerichts einholen muss, um sicherzustellen, dass er dazu geistig, sozial und finanziell in der Lage ist.

Straflosigkeit

Mu'ammar al-Gaddafis Regierung unternahm nichts, um die schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen der Vergangenheit zu untersuchen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Der Nationale Übergangsrat versprach, diesen Forderungen nachzukommen, tat sich aber schwer mit der Beweissicherung, denn Archivmaterialien und Regierungsakten waren teilweise verbrannt oder Plünderungen zum Opfer gefallen.

Im Juni 2011 erließ der Internationale Strafgerichtshof einen Haftbefehl gegen Oberst Mu'ammar al-Gaddafi, seinen Sohn Saif al-Islam al-Gaddafi und gegen Sicherheitschef Abdallah al-Senussi wegen mutmaßlicher Verbrechen gegen die Menschlichkeit wie Mord und Verfolgung. Saif al-Islam al-Gaddafi wurde am 19. November gefangen genommen. Obwohl der Nationale Übergangsrat erklärt hatte, er strebe Verfahren vor libyschen Gerichten gegen Saif al-Islam al-Gaddafi an, lag bis Ende das Jahres noch kein Antrag beim Internationalen Strafgerichtshof vor, den Prozess in Libyen führen zu können.

Todesstrafe

Die Todesstrafe blieb weiterhin für eine große Anzahl von Vergehen in Kraft. Zu Todesurteilen und Hinrichtungen im Jahr 2011 lagen keine Informationen vor.

Amnesty International: Missionen und Berichte

Delegationen von Amnesty International besuchten Libyen zwischen Ende Februar und Ende Mai sowie zwischen Mitte August und Ende September.

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