Dokument #1243521
AI – Amnesty International (Autor)
Amtliche Bezeichnung: Libyen
Staatsoberhaupt: Mustafa Mohammed Abdul Dschalil (löste faktisch Mu'ammar al-Gaddafi im August im Amt ab)
Regierungschef: Abdelrahim al-Kib (löste Mahmod Dschibril im Oktober im Amt
ab, der das Amt im August von Al-Baghdadi Ali al-Mahmudi übernommen hatte)
Todesstrafe: nicht abgeschafft
Einwohner: 6,4 Mio.
Lebenserwartung: 74,8 Jahre
Kindersterblichkeit: 18,5 pro 1000 Lebendgeburten
Alphabetisierungsrate: 88,9%
Sicherheitskräfte des libyschen Staatschefs Mu'ammar al-Gaddafi töteten und verletzten mehrere Tausend Menschen, unter ihnen auch friedliche Demonstrierende und Passanten, nachdem Mitte Februar 2011 Proteste ausgebrochen waren, die sich zu einem rund achtmonatigen bewaffneten Konflikt ausweiteten. Im Verlauf des Konflikts griffen internationale Streitkräfte, die im Rahmen eines UN-Mandats die Zivilbevölkerung schützen sollten, Gaddafis Truppen aus der Luft an und trugen dazu bei, dass die oppositionellen Kräfte die Oberhand gewinnen konnten. Die Truppen Gaddafis beschossen Wohngegenden mit Mörsern, Artillerie und Raketen und setzten Antipersonenminen, Streumunition und andere Waffen ein. Diese wahllosen Angriffe kosteten vor allem in Misrata, der drittgrößten Stadt Libyens, zahlreiche Zivilpersonen das Leben. Tausende Menschen wurden von Gaddafis Sicherheitskräften entführt, gefoltert oder anderweitig misshandelt. Gefangengenommene oppositionelle Kämpfer und andere Personen fielen außergerichtlichen Hinrichtungen zum Opfer.
Die Streitkräfte der Opposition feuerten ebenfalls Raketen und andere unterschiedslos wirkende Waffen in Wohngebiete. Der Nationale Übergangsrat (National Transitional Council - NTC), ein Ende Februar gegründeter loser Zusammenschluss von Oppositionellen gegen Staatschef al-Gaddafi, übte zwar ab Ende August die Kontrolle über einen Großteil des Landes aus, es gelang ihm aber nicht, die Milizen in den Griff zu bekommen, die sich im Laufe des Konflikts gebildet hatten. Während der bewaffneten Auseinandersetzungen wurden auf beiden Seiten Kriegsverbrechen und Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht und die Menschenrechte begangen, die zu dem düsteren Erbe an Menschenrechtsverletzungen aus den vergangenen Jahren hinzugezählt werden müssen. Durch den Konflikt verstärkten sich rassistische Tendenzen und eine bereits bestehende Fremdenfeindlichkeit. Oppositionelle Milizen nahmen Tausende vermeintlicher Gaddafi-Anhänger, Soldaten und mutmaßliche "afrikanische Söldner" gefangen. Viele von ihnen wurden in der Haft geschlagen und misshandelt. Sie wurden ohne Anklageerhebung und Gerichtsverfahren festgehalten und hatten selbst Ende 2011, Monate nach dem Ende der Kampfhandlungen, keine Möglichkeit, die Rechtmäßigkeit ihrer Haft anzufechten. Zahlreiche weitere mutmaßliche Unterstützer von Mu'ammar al-Gaddafi wurden bei ihrer Festnahme durch oppositionelle Kämpfer oder unmittelbar danach getötet. Unter den Opfern befanden sich auch der gestürzte libysche Staatschef selbst und einer seiner Söhne.
Oppositionelle Kräfte plünderten und brandschatzten Häuser und verübten Vergeltungsmaßnahmen und Racheakte an mutmaßlichen Gaddafi-Anhängern.
Hunderttausende Menschen ergriffen aufgrund des Konflikts die Flucht. Sie suchten an anderen Orten innerhalb des Landes oder in den Nachbarländern Zuflucht. Dadurch wurden größere Evakuierungen ausländischer Staatsangehöriger ausgelöst. Die Verantwortlichen für schwere Menschenrechtsverletzungen der Vergangenheit gingen weiterhin straffrei aus. Dasselbe galt für die fortdauernden Verstöße durch Milizen. Frauen wurden nach wie vor durch die Gesetzgebung sowie im täglichen Leben diskriminiert.
Die für den 17. Februar 2011 geplanten Protestaktionen gegen die Regierung brachen in Libyens zweitgrößter Stadt Bengasi bereits zwei Tage früher aus, nachdem Sicherheitskräfte zwei bekannte Aktivisten festgenommen hatten. Die Behörden setzten die Männer bald wieder auf freien Fuß, die Protestaktionen breiteten sich jedoch sehr schnell im ganzen Land aus. Die Sicherheitskräfte gingen mit exzessiver und tödlicher Gewalt gegen Demonstrierende vor, um die Kundgebungen niederzuschlagen. Innerhalb von zwei Wochen weiteten sich die Proteste zu einem bewaffneten Konflikt aus. Oppositionelle Kämpfer überwältigten die Regierungskräfte im Osten Libyens, in den Nafusa-Bergen und in der Küstenstadt Misrata mit Waffengewalt. Die bewaffneten Zusammenstöße verschärften sich, als Gaddafis Truppen versuchten, die an die Opposition verlorenen Gebiete wieder unter ihre Kontrolle zu bringen. Gleichzeitig setzte die Opposition ihren Eroberungszug fort. Am 17. März verabschiedete der UN-Sicherheitsrat die Resolution 1973. Diese beinhaltete die Einrichtung einer Flugverbotszone über Libyen und die Umsetzung aller notwendigen Maßnahmen zum Schutz von Zivilpersonen, mit Ausnahme einer Besetzung durch ausländische Truppen. Zwei Tage später begann eine internationale Allianz mit Luftangriffen gegen Gaddafis Streitkräfte, die in die Außenbezirke von Bengasi vorrückten, und unterstützte damit die Bemühungen der oppositionellen Kräfte, die regierungstreuen Truppen zurückzudrängen. Ab Ende März koordinierte die NATO die Militäroperationen. Bis 31. Oktober wurden Tausende von Luftangriffen gegen die Streitkräfte Gaddafis und die Infrastruktur des Landes geflogen. Ende August kontrollierte die Opposition fast ganz Libyen, einschließlich der Hauptstadt Tripolis.
Die Kampfhandlungen dauerten jedoch an, vor allem in Bani Walid und Sirte. Am 23. Oktober verkündete der Vorsitzende des Nationalen Übergangsrats offiziell die "Befreiung Libyens".
Der Nationale Übergangsrat versprach die Schaffung eines demokratischen Mehrparteienstaates, der auf der Achtung der fundamentalen Menschenrechte basieren werde. In einer "Verfassungserklärung" vom 3. August wurden grundlegende Menschenrechtsprinzipien verankert, wie z.B. die Anerkennung von Grundfreiheiten, der Grundsatz der Gleichbehandlung sowie das Recht auf ein faires Gerichtsverfahren.
Exzessive Gewaltanwendung Sicherheitskräfte Mu'ammar al-Gaddafis wandten exzessive und tödliche Gewalt an, um die im Februar ausgebrochenen Proteste niederzuschlagen. Sie feuerten mit automatischen Schnellfeuergewehren auf unbewaffnete Demonstrierende. Zwischen dem 16. und dem 21. Februar 2011 kamen in Bengasi und al-Baida etwa 170 Personen ums Leben, mehr als 1500 erlitten Verletzungen. Die Protestaktionen am 20. Februar 2011 in Tripolis und Umgebung schlugen die Sicherheitskräfte ebenfalls nieder, indem sie scharfe Munition einsetzten. Es gab zahlreiche Tote und Verletzte, darunter auch friedliche Demonstrierende und Passanten.
Beim Versuch, die von der Opposition eingenommenen Städte zurückzuerobern, begingen Gaddafis Truppen schwere Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht, darunter auch Kriegsverbrechen. Unter anderem in Misrata, Ajdabiya, al-Zawiya und in den Nafusa-Bergen gab es wahllose Angriffe sowie Angriffe, die sich gezielt gegen Zivilpersonen richteten. Die Sicherheitskräfte schossen mit Artillerie, Mörsern und Raketen auf Wohngebiete. Auch unterschiedslos wirkende Waffen wie Antipersonenminen und Streubomben wurden in Wohngegenden eingesetzt. Diese rechtswidrigen Angriffe töteten und verletzten Hunderte von Zivilpersonen, die nicht an den Kampfhandlungen beteiligt waren.
In Misrata waren die Verluste unter der Zivilbevölkerung besonders hoch. Die Bevölkerung war ab Ende Februar 2011 von der Außenwelt abgeschnitten, da Gaddafis Sicherheitskräfte die Stadt belagerten und Raketen auf den Hafen abschossen - den einzig verbliebenen Zugang, um humanitäre Hilfsgüter anzuliefern und Kranke und Verwundete zu evakuieren. Die willkürlichen Angriffe hörten im Mai auf, begannen aber Mitte Juni aufs Neue und wurden bis Anfang August sporadisch fortgeführt. Nach Angaben des medizinischen Personals vor Ort wurden während der Belagerung der Stadt mehr als 1000 Menschen getötet.
Mu'ammar al-Gaddafis Truppen schossen auch auf Bewohner von Misrata, Ajdabiya, al-Zawiya und anderen Dörfern und Städten, die vor den Kampfhandlungen fliehen wollten. Dabei kamen neben scharfer Munition auch Artilleriegeschosse und Panzerfäuste zum Einsatz.
Auch die Kämpfer der Opposition schossen "Grad"-Raketen von ihren Positionen im Osten Libyens, in Misrata und in Sirte ab. Es ist nicht bekannt, inwieweit diese Angriffe zu zivilen Opfern führten.
Mu'ammar al-Gaddafis Regierung beschuldigte die NATO, zivile Objekte angegriffen und dadurch Hunderte von Opfern unter der Zivilbevölkerung verursacht zu haben. Diese Angaben waren übertrieben und wurden nicht durch eindeutige Beweise untermauert. Es gab jedoch glaubwürdige Berichte, dass bei NATO-Angriffen zwischen Juni und Oktober 2011 einige Dutzend Zivilpersonen ums Leben kamen, u.a. in Majer, Tripolis, Surman und Sirte. Es ist nicht bekannt, ob es seitens der NATO unparteiische und unabhängige Untersuchungen gab, um festzustellen, ob alle notwendigen Vorkehrungen getroffen wurden, um zivile Ziele zu schonen und zivile Opfer zu vermeiden, wie dies das humanitäre Völkerrecht vorschreibt.
Die Sicherheitskräfte Gaddafis inhaftierten in ganz Libyen Tausende von Menschen. Einige von ihnen fielen dem Verschwindenlassen zum Opfer. Die Festnahmen erfolgten bereits vor Beginn der Proteste im Februar und weiteten sich im Zuge des Konflikts immer stärker aus. Zu den Inhaftierten zählten tatsächliche oder mutmaßliche Anhänger und Kämpfer der Opposition sowie Personen, die in den Kampfgebieten oder in deren Umgebung gefangen genommen wurden. Manche wurden in ihren Häusern festgenommen, andere auf der Straße oder auf öffentlichen Plätzen in Gebieten, die von der Opposition kontrolliert wurden, in die Gaddafi-treue Truppen aber immer wieder einfielen. Dies betraf vor allem Misrata und Städte in den Nafusa-Bergen. Die Inhaftierten durften meist keinen Kontakt zur Außenwelt aufnehmen. Einige von ihnen wurden von den Gaddafi-Streitkräften freigelassen, die überwiegende Mehrheit kam jedoch erst frei, nachdem die oppositionellen Kämpfer Ende August die Kontrolle über Tripolis gewonnen hatten. Die genaue Anzahl der Menschen, die im Laufe des Konflikts vermisst wurden, stand nicht fest. Zahlreiche Häftlinge wurden in Gewahrsam getötet (siehe unten).
Ein großer Teil der Häftlinge stammte aus afrikanischen Ländern südlich der Sahara. Einige von ihnen waren ab Februar im Osten des Landes und in Misrata inhaftiert worden, weil man sie für Söldner al-Gaddafis hielt, andere wurden im August in Tripolis und in den Städten im Westen des Landes aufgegriffen, als die Opposition dort die Kontrolle übernahm. Im Osten Libyens und in Misrata ließ man die meisten dieser Häftlinge wieder frei, wenn es keine Beweise für ihre Beteiligung an den Kampfhandlungen gab. Hunderte Männer aus Tawargha, einem Gebiet, das als Gaddafi-treu galt, wurden verfolgt, aus ihren Wohnhäusern, aus provisorischen Unterkünften und an Kontrollpunkten entführt. Sie wurden inhaftiert, gefoltert oder misshandelt.
Von den Truppen al-Gaddafis festgenommene Personen wurden gefoltert und anderweitig misshandelt, vor allem bei ihrer Gefangennahme und während der ersten Verhöre. Sie wurden mit Gürteln, Peitschen, Metalldrähten und Gummischläuchen geschlagen und in schmerzhaften Positionen über lange Zeiträume hinweg aufgehängt. Man verweigerte ihnen die notwendige medizinische Versorgung, auch wenn sie aufgrund der Folter Verletzungen erlitten hatten oder Schusswunden aufwiesen. Einige von ihnen wurden mit Elektroschocks gefoltert. Auf mehrere Personen wurde nach ihrer Ergreifung geschossen, obwohl von ihnen keine Gefahr ausging. Einige Personen wurden in Metallcontainer eingesperrt, in denen sie erstickten.
Eine Reihe von männlichen Gefangenen wurde von ihren Entführern oder vom Gefängnispersonal vergewaltigt.
Anhänger des Nationalen Übergangsrats erhoben in zahlreichen Fällen den Vorwurf, die Truppen Gaddafis hätten Vergewaltigungen verübt. Einige Frauen, die von bewaffneten Einheiten des Nationalen Übergangsrats in al-Zawiya, Tripolis und Misrata inhaftiert wurden, gaben an, sie seien sexuell missbraucht worden.
In Gebieten, die unter der Kontrolle des Nationalen Übergangsrats standen, erlitten Gefangene Folter und andere Misshandlungen durch Milizen, die die Hafteinrichtungen beherrschten, ohne dass diese Übergriffe geahndet worden wären. Dies betraf sowohl den Zeitraum bis August, in dem der Nationale Übergangsrat Teile des Landes kontrollierte, als auch die Zeit nach der Einnahme von Tripolis. Die Gefangenen sollten offenbar für angebliche Vergehen bestraft oder zu "Geständnissen" gezwungen werden. Zu den am häufigsten berichteten Foltermethoden zählten Schläge mit Gürteln, Stöcken, Gewehrkolben und Gummischläuchen auf den ganzen Körper, Faustschläge, Fußtritte und Morddrohungen. Personen mit dunkler Hautfarbe waren besonders stark von Misshandlungen betroffen. Dabei machte es keinen Unterschied, ob sie libysche Staatsangehörige oder Ausländer waren.
Einige Häftlinge starben in Gewahrsam der Milizen unter Umständen, die vermuten ließen, dass ihr Tod auf Folter zurückzuführen war.
Gaddafi-treue Soldaten töteten in Ostlibyen und Misrata oppositionelle Kämpfer nach ihrer Gefangennahme. Man fand Leichen, deren Hände auf dem Rücken zusammengebunden waren und die zahlreiche Schussverletzungen am Oberkörper aufwiesen.
Im Westen Libyens wurden zwischen Juni und August ebenfalls zahlreiche Gefangene von Sicherheitskräften Gaddafis außergerichtlich hingerichtet. Die meisten der Opfer wurden erschossen.
Es kam zu Vergeltungsmaßnahmen, die sich gegen Angehörige der Sicherheitskräfte Gaddafis und andere mutmaßliche Anhänger des Staatschefs richteten. Einige von ihnen wurden tot aufgefunden, nachdem schwer bewaffnete Männer sie ergriffen hatten. Einige der Leichen wurden mit auf den Rücken gefesselten Händen aufgefunden.
Vor Ausbruch des Konflikts lebten mindestens 2 Mio. Ausländer in Libyen oder hielten sich dort vorübergehend auf. Viele von ihnen benötigten internationalen Schutz. Als sich der Konflikt verschärfte, flohen Hunderttausende Ausländer und Libyer außer Landes - viele ausländische Staatsangehörige im Zuge organisierter Evakuierungen. Viele wurden auf der Flucht ausgeraubt, manche wurden festgenommen, stunden- oder tagelang inhaftiert und geschlagen, ehe ihnen die Weiterreise erlaubt wurde. Dies betraf vor allem Menschen aus den Ländern südlich der Sahara. Die große Mehrheit floh nach Tunesien und Ägypten (siehe Länderberichte Tunesien und Ägypten sowie das einleitende Kapitel über Europa).
Hunderttausende Menschen wurden innerhalb von Libyen vertrieben. Nach dem Ende der Kampfhandlungen gelang es einigen von ihnen, in ihre Heimatorte zurückzukehren. Einwohner von Orten, die als Gaddafi-treu galten, fürchteten allerdings Vergeltungsmaßnahmen nach ihrer Rückkehr und waren Ende 2011 noch immer Binnenflüchtlinge. Zu ihnen zählten Angehörige der Volksgruppe der Mashashiya in den Nafusa-Bergen sowie 30000 ehemalige Bewohner von Tawargha. Sie hatten ihre Heimatstadt verlassen, als die Kämpfer der Opposition im August aus Misrata nach Tawargha vorrückten. In Misrata und anderen Gebieten hinderten Milizen einige mutmaßliche Gaddafi-Anhänger an der Rückkehr in ihre Häuser. Darüber hinaus kam es zu Plünderungen und Zerstörungen von Häusern, für die niemand zur Rechenschaft gezogen wurde.
Der Nationale Übergangsrat sicherte zu, das Recht auf Asyl zu respektieren. Er unterzeichnete jedoch nicht die Genfer Flüchtlingskonvention und ihr Zusatzprotokoll von 1967. Im April kündigte der Vorsitzende des Nationalen Übergangsrats an, die "Grenzen gegenüber diesen Afrikanern zu schließen". Dies gab Anlass zu der Sorge, dass Flüchtlinge, Asylsuchende und Migranten in Libyen auch künftig diskriminiert, missbraucht und als unwillkommene Gäste betrachtet werden könnten. Im Juni unterzeichneten der Nationale Übergangsrat und Italien eine Absichtserklärung, in der sich beide Seiten verpflichteten, das "Phänomen der Migration" gemeinsam zu bewältigen, indem bereits bestehende Kooperationsvereinbarungen bezüglich "illegaler Migration" umgesetzt würden (siehe Länderbericht Italien). Dies erinnerte an frühere Verstöße gegen das Recht auf Asyl: Dazu zählten Operationen im Mittelmeer, bei denen ausländische Staatsangehörige aufgebracht und nach Libyen zurückgeführt wurden, wo ihnen Inhaftierung, Folter und Haft unter unzumutbaren Bedingungen drohten. Ende 2011 waren Hunderte von Afrikanern aus Ländern südlich der Sahara noch immer wegen mutmaßlicher "Vergehen bei der Einreise" unbegrenzt und ohne Gerichtsverfahren inhaftiert.
Der Nationale Übergangsrat versprach, die Frauenrechte zu verbessern, und schrieb das Prinzip des Diskriminierungsverbots - auch in Bezug auf das Geschlecht - in der "Verfassungserklärung" fest. Dennoch war die Diskriminierung von Frauen weiterhin ein fester Bestandteil sowohl der Gesetzgebung als auch des täglichen Lebens.
Am 23. Oktober 2011 kündigte der Vorsitzende des Nationalen Übergangsrats an, er wolle alle Gesetze ändern, die im Widerspruch zum Scharia-Recht stünden. Er bezog sich damit auf die libysche Gesetzgebung zur Eheschließung. Das Gesetz Nr. 10 aus dem Jahr 1984 über Eheschließung, Scheidung und deren Konsequenzen erlaubt die Vielehe. Es verlangt allerdings, dass ein Mann, der eine weitere Frau heiraten will, die Genehmigung eines speziellen Gerichts einholen muss, um sicherzustellen, dass er dazu geistig, sozial und finanziell in der Lage ist.
Mu'ammar al-Gaddafis Regierung unternahm nichts, um die schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen der Vergangenheit zu untersuchen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Der Nationale Übergangsrat versprach, diesen Forderungen nachzukommen, tat sich aber schwer mit der Beweissicherung, denn Archivmaterialien und Regierungsakten waren teilweise verbrannt oder Plünderungen zum Opfer gefallen.
Im Juni 2011 erließ der Internationale Strafgerichtshof einen Haftbefehl gegen Oberst Mu'ammar al-Gaddafi, seinen Sohn Saif al-Islam al-Gaddafi und gegen Sicherheitschef Abdallah al-Senussi wegen mutmaßlicher Verbrechen gegen die Menschlichkeit wie Mord und Verfolgung. Saif al-Islam al-Gaddafi wurde am 19. November gefangen genommen. Obwohl der Nationale Übergangsrat erklärt hatte, er strebe Verfahren vor libyschen Gerichten gegen Saif al-Islam al-Gaddafi an, lag bis Ende das Jahres noch kein Antrag beim Internationalen Strafgerichtshof vor, den Prozess in Libyen führen zu können.
Die Todesstrafe blieb weiterhin für eine große Anzahl von Vergehen in Kraft. Zu Todesurteilen und Hinrichtungen im Jahr 2011 lagen keine Informationen vor.
Delegationen von Amnesty International besuchten Libyen zwischen Ende Februar und Ende Mai sowie zwischen Mitte August und Ende September.
© Amnesty International
Amnesty International Report 2012 - The State of the World's Human Rights (Periodischer Bericht, Englisch)