Dokument #1237033
Amnesty International (Autor)
Amtliche Bezeichnung: Tunesische Republik
Staatsoberhaupt: Moncef Marzouki (löste im Dezember Fouad Mebazaa im Amt ab, der im Januar Zine el-Abidine Ben 'Ali im Amt gefolgt war)
Regierungschef: Hamadi Jebali (löste im Dezember Béji Cad Essebsi im Amt ab, der im Februar Mohamed Ghannouchi im Amt gefolgt war)
Todesstrafe: in der Praxis abgeschafft
Einwohner: 10,6 Mio.
Lebenserwartung: 74,5 Jahre
Kindersterblichkeit: 20,7 pro 1000 Lebendgeburten
Alphabetisierungsrate: 77,6%
Während der wochenlangen Massenproteste, die am 14. Januar 2011 zum Sturz von Präsident Zine el-Abidine Ben 'Ali und seiner Flucht ins Ausland führten, kamen bei Übergriffen der Sicherheitskräfte rund 300 Menschen ums Leben, Hunderte wurden verletzt. Viele der friedlichen Demonstrierenden starben durch den Einsatz von scharfer Munition seitens der Sicherheitskräfte. Nach Ben 'Alis Sturz begann ein grundlegender Reformprozess: Politische Gefangene, darunter auch gewaltlose politische Gefangene, wurden freigelassen und rechtliche Beschränkungen der Arbeit von politischen Parteien und NGOs gelockert. Die Abteilung für Staatssicherheit (Direction de la sûreté de l'État - DSE) wurde aufgelöst. Diese Einrichtung war berüchtigt für die Folterung von Gefangenen, ohne dass die dafür Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen wurden. Tunesien trat weiteren internationalen Menschenrechtsabkommen bei. Die neu gewählte Verfassunggebende Versammlung nahm ihre Arbeit auf und begann mit der Ausarbeitung einer neuen Verfassung. Trotzdem kam es auch weiterhin zu Menschenrechtsverletzungen. Die Sicherheitskräfte gingen mit exzessiver Gewalt gegen Demonstrierende vor, die gegen die Verschleppung der angekündigten Reformen protestierten. Einige Demonstrierende wurden bei ihrer Festnahme und während der Haft geschlagen oder anderweitig misshandelt. Trotz einiger Fortschritte wurden Frauen auch weiterhin vor dem Gesetz und im täglichen Leben diskriminiert. Die Todesstrafe blieb in Kraft. Es gab jedoch keine Berichte über Todesurteile, und es fanden keine Hinrichtungen statt.
Nach wochenlangen landesweiten Protestkundgebungen gegen seine 23 Jahre währende Unterdrückungsherrschaft floh Präsident Zine el-Abidine Ben 'Ali am 14. Januar 2011 nach Saudi-Arabien, wo er politisches Asyl erhielt. Über 230 Demonstrierende verloren bei den Kundgebungen ihr Leben, 700 erlitten Verletzungen, über 70 der Protestierenden starben im Gefängnis. Ministerpräsident Mohamed Ghannouchi ernannte sich selbst zum amtierenden Präsidenten, wurde jedoch binnen weniger Stunden von Fouad Mebazaa abgelöst und kehrte in sein ursprüngliches Amt zurück. Am 15. Januar rief Fouad Mebazaa den nationalen Notstand aus, welcher im August und November und dann nochmals im Dezember bis zum 12. März 2012 verlängert wurde. Außerdem ernannte er eine Übergangsregierung. Im Februar musste er nach öffentlichen Protestaktionen zurücktreten. Neuer Ministerpräsident wurde Béji Cad Essebsi. Nach den Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung im Oktober 2011 trat Moncef Marzouki im Dezember sein Amt als Präsident an. Ebenfalls im Dezember wurde Hamadi Jebali zum Ministerpräsidenten gewählt.
Im Februar 2011 verkündete die Übergangsregierung eine Amnestie und setzte gewaltlose politische Gefangene und andere politische Gefangene auf freien Fuß. Drei Kommissionen wurden im Zuge des Reformprozesses ins Leben gerufen: die Hohe Kommission zur Umsetzung der Ziele der Revolution, politischer Reformen und des Übergangs zur Demokratie, das nationale Komitee zur Untersuchung von Bestechungs- und Korruptionsvorwürfen und ein Untersuchungsausschuss, der die staatlichen Übergriffe in der Endphase der Herrschaft von Ben 'Ali aufklären soll. Dies betrifft insbesondere die Tötung von Demonstrierenden durch die Sicherheitskräfte während der Protestaktionen, die dem Sturz Präsident Ben 'Alis vorangegangen waren. Bis Ende 2011 hatte der letztgenannte Ausschuss noch keinen Bericht vorgelegt, aber gegen 139 ehemalige Behördenvertreter, darunter die beiden ehemaligen Innenminister Rafik Haj Kacem und Ahmed Friaa sowie Ben 'Ali selbst, wurde im Zusammenhang mit den Tötungen und Verletzungen von Demonstrierenden in den Wochen vor dem 14. Januar Anklage erhoben. Ihr Verfahren begann im November und dauerte zum Ende des Jahres noch an. Dem ehemaligen Präsidenten Ben 'Ali und einigen Angehörigen seiner Familie wurde in Abwesenheit der Prozess gemacht. Sie waren wegen Korruption und Drogendelikten angeklagt worden.
Im März löste die Übergangsregierung die Abteilung für Staatssicherheit (Direction de la sûreté de l'État - DSE) auf, die unter Präsident Ben 'Ali berüchtigt für Folterungen und andere schwere Menschenrechtsverletzungen gewesen war.
Die Übergangsregierung änderte zudem das hochgradig restriktive Versammlungsgesetz und ließ bisher verbotene politische Parteien wie die islamistische Partei Ennahda ("Wiedergeburt"), die Kommunistische Arbeiterpartei Tunesiens (Parti communiste des ouvriers de Tunisie) sowie Menschenrechtsorganisationen und andere NGOs zu. Nach Angaben des Innenministeriums hatten bis September insgesamt 1366 Vereinigungen und 111 politische Parteien die offizielle Zulassung erhalten. Die Partei des ehemaligen Präsidenten Ben 'Ali, die Konstitutionelle Demokratische Partei (Rassemblement constitutionnel démocratique - RCD), wurde im März aufgelöst.
Die Regierung ratifizierte wichtige internationale Menschenrechtspakte, darunter das Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte, das Fakultativprotokoll zum UN-Übereinkommen gegen Folter, das Internationale Übereinkommen zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen und das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs. Alle Vorbehalte gegen das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) wurden zurückgenommen.
Die ersten Wahlen nach den Protesten fanden am 23. Oktober 2011 statt. Die Bürger wählten eine nationale Verfassunggebende Versammlung mit 217 Sitzen, deren Ziel die Ausarbeitung einer neuen Verfassung und die Ernennung einer neuen Regierung war. Ennahda konnte die meisten Mandate erringen, verfehlte jedoch die absolute Mehrheit. Die Versammlung trat am 22. November zum ersten Mal zusammen und ernannte aus den Reihen der drei stärksten Parteien einen neuen Präsidenten, den Ministerpräsidenten und einen Sprecher. Die drei Berufenen traten ihre Ämter im Dezember an.
Im Mai statteten der UN-Sonderberichterstatter über Folter sowie der Sonderberichterstatter über die Förderung und den Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten bei der Bekämpfung des Terrorismus Tunesien einen Besuch ab.
Die Verfassung wurde im März 2011 außer Kraft gesetzt. Viele Gesetze blieben gültig, einige davon wurden jedoch erheblich geändert, um die Restriktionen bezüglich der Menschenrechte zu lockern. Das Pressegesetz sowie ein Gesetz, welches die audiovisuelle Kommunikation regelt, enthalten weiterhin den Straftatbestand der Verleumdung, der jedoch nicht länger mit Haftstrafen geahndet wird. Das Versammlungsrecht wurde dahingehend geändert, dass die Gründung von und die Mitgliedschaft in Vereinigungen keinen Beschränkungen mehr unterliegen. Das Erbringen von Dienstleistungen für nicht genehmigte Vereinigungen ist nicht länger strafbar. Das Gesetz gegen die Folter wurde ebenfalls geändert. Das Strafgesetzbuch enthält nunmehr eine Definition von Folter, die eher der im Völkerrecht verankerten Definition entspricht. Eine strafrechtliche Verfolgung von Foltervorwürfen ist jedoch nur 15 Jahre lang möglich. Dies steht im Widerspruch zum völkerrechtlichen Anspruch der Opfer auf Einlegung von Rechtsmitteln und Wiedergutmachung. Weitere Gesetze müssen noch überarbeitet werden, vor allem das Gesetz zum Kampf gegen den Terrorismus, das Gesetz zur Regelung von Versammlungen, Prozessionen und Paraden sowie das Gesetz zur Organisation des Gerichtssystems.
Das Innenministerium legte einen Plan für eine Reform der Polizei vor. Diese Maßnahme sieht jedoch keine Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen vor, die in der Vergangenheit von der Polizei und Angehörigen des aufgelösten RCD begangen wurden. Die Verantwortlichen müssen jedoch zur Rechenschaft gezogen werden. Es blieb weiterhin unklar, ob die Regierung wirksame Sicherheitsüberprüfungen anwendet, um zu verhindern, dass ehemalige Mitglieder des RCD sowie Angehörige der Sicherheitskräfte und der Polizei, die Menschenrechtsverletzungen begangen haben, erneut in den Staatsdienst berufen werden oder in ihren Ämtern verbleiben.
Nach der Einsetzung der Übergangsregierung kam es erneut zu Protestaktionen, mit denen die Menschen u.a. gegen die schleppende Umsetzung von Reformen demonstrierten. Die Sicherheitskräfte gingen mit unverhältnismäßiger Gewalt gegen die Demonstrierenden vor.
Den Sicherheitskräften wurde vorgeworfen, sie hätten wiederholt nicht angemessen eingegriffen, als Angehörige von militanten religiösen Gruppierungen andere Menschen an der Ausübung ihres Rechts auf freie Meinungsäußerung hinderten.
Im Jahr 2011 gingen erneut Berichte über Folterungen und andere Misshandlungen ein, jedoch bedeutend weniger als in den vergangenen Jahren. In den meisten Fällen gaben die beschwerdeführenden Personen an, sie seien bei ihrer Festnahme während Protestkundgebungen oder während ihrer Haft auf Polizeiwachen von Polizeibeamten geschlagen worden.
Nach seinem Besuch in Tunesien Mitte Mai forderte der UN-Sonderberichterstatter über Folter die Regierung nachdrücklich auf, die Polizei und das Justizpersonal anzuweisen, sich daran zu halten, dass Folter und andere Misshandlungen verboten sind. Es sei sicherzustellen, dass die Verantwortlichen für solche Vergehen strafrechtlich verfolgt würden.
Gegen mehrere ehemalige Behördenvertreter wurden Anklagen im Zusammenhang mit Tötungen von Demonstrierenden und anderen schweren Verstößen während der Protestkundgebungen erhoben. Die Regierung unternahm allerdings keine Schritte, um diejenigen zur Verantwortung zu ziehen, die während der 23-jährigen Herrschaft von Präsident Ben 'Ali schwere Menschenrechtsverletzungen begangen hatten. Die Familien der Opfer beklagten, dass ihnen keine Gerechtigkeit zuteil werde. Polizeibeamte, Angehörige des Geheimdienstes und andere Beamte, die schwere Menschenrechtsverletzungen begangen hätten, würden in ihren Ämtern verbleiben, auf andere Posten versetzt oder sogar befördert. Einige Familien versuchten, Verfahren gegen mutmaßliche Täter in die Wege zu leiten. Die Staatsanwaltschaft zeigte sich jedoch zögerlich oder nicht in der Lage, gegen Beamte vorzugehen. Offensichtlich verweigerte das Innenministerium die Zusammenarbeit. Ab Mai 2011 wurden alle Fälle von Menschenrechtsverletzungen während der Aufstände an Militärgerichte verwiesen.
Ein Untersuchungsausschuss, der im Februar eingesetzt wurde, um alle Vorwürfe über Menschenrechtsverletzungen in der Zeit der Proteste zu prüfen, hatte seine Arbeit bis Ende 2011 noch nicht abgeschlossen. Der Ausschuss teilte mit, er werde Beweismaterial nicht ungefragt an die Justizbehörden weitergeben. Dies ließ Zweifel an der Effektivität des Ausschusses aufkommen. Ausschussmitglieder gaben an, man habe mit allen Opfern von Menschenrechtsverletzungen während der Aufstände gesprochen. Viele der verletzten Personen widersprachen dem jedoch. Der Abschlussbericht und die Empfehlungen des Ausschusses wurden für Anfang 2012 erwartet.
Die Übergangsregierung zog Tunesiens Vorbehalte gegen die UN-Frauenkonvention zurück und unternahm weitere positive Schritte. Vor allem führte die Regierung das Prinzip der Gleichberechtigung von Männern und Frauen bei Wahlen ein. In der Praxis überwogen allerdings noch immer die Männer auf den Kandidatenlisten der Parteien. Frauen durften auf Fotos für ihre Personalausweise einen Kopfschleier (hijab) tragen. Vor dem Gesetz und im täglichen Leben wurden Frauen jedoch noch immer diskriminiert. So sah das Personenstandsgesetz noch keine Gleichberechtigung vor. Dies betraf vor allem Erbschaftsangelegenheiten und das Sorgerecht für die Kinder. Einige Frauenrechtlerinnen beklagten sich, sie seien Ziel von Schmähkampagnen geworden.
Ab Januar 2011 versuchten viele Tunesier, auf kleinen Booten außer Landes zu fliehen. Einige von ihnen kamen auf See ums Leben, andere erreichten die italienische Insel Lampedusa. Im April einigten sich die Regierungen von Tunesien und Italien auf die Rückführung von rund 20000 tunesischen Flüchtlingen in ihr Heimatland. Außerdem sollten die tunesischen Behörden die Kontrollen entlang der Küste verschärfen.
Eine große Zahl von Migranten und Flüchtlingen überquerte nach Ausbruch des Konfliktes in Libyen die Grenze nach Tunesien. Viele Migranten bekamen Hilfestellung bei der Rückkehr in ihre Heimatländer. 3800 Asylsuchende saßen Ende 2011 jedoch immer noch im Lager Choucha fest, einem der vier Flüchtlingslager in der Nähe des Grenzübergangs Ras Djir zu Libyen. Die meisten der Flüchtlinge stammten aus Ländern, in die sie nicht zurückkehren konnten, weil ihnen dort Verfolgung drohte. Dazu gehörten Eritrea, Somalia und der Sudan.
Die Todesstrafe blieb in Kraft. Es gab jedoch keine Berichte über Todesurteile oder Hinrichtungen. Damit hielt die Regierung ein De-facto-Moratorium für Hinrichtungen aufrecht, das seit 1991 gilt.
Delegierte von Amnesty International besuchten Tunesien im Januar, Februar, März, April und Oktober.
© Amnesty International
Amnesty International Report 2012 - The State of the World's Human Rights (Periodischer Bericht, Englisch)