Anfragebeantwortung zu Libyen: Lage von Mensche, die im Verdacht stehen, UnterstützerInnen des Gaddafi-Regimes zu sein 2014 bis heute [a-9987-2 (10002)]

19. Jänner 2017

Diese Anfragebeantwortung wurde für die Veröffentlichung auf ecoi.net abgeändert.

Das vorliegende Dokument beruht auf einer zeitlich begrenzten Recherche in öffentlich zugänglichen Dokumenten, die ACCORD derzeit zur Verfügung stehen sowie gegebenenfalls auf Expertenauskünften, und wurde in Übereinstimmung mit den Standards von ACCORD und den Common EU Guidelines for processing Country of Origin Information (COI) erstellt.

Diese Antwort stellt keine Meinung zum Inhalt eines Ansuchens um Asyl oder anderen internationalen Schutz dar. Alle Übersetzungen stellen Arbeitsübersetzungen dar, für die keine Gewähr übernommen werden kann.

Wir empfehlen, die verwendeten Materialien im Original durchzusehen. Originaldokumente, die nicht kostenfrei oder online abrufbar sind, können bei ACCORD eingesehen oder angefordert werden.

 

Die internationale Menschenrechtsorganisation Amnesty International (AI) berichtet im Juli 2012, dass während und in unmittelbarer Folge der Revolution 2011 bewaffnete Milizen tausende Anhänger und Soldaten Al-Gaddafis (bzw. Personen, von denen sie annahmen, sie seien Anhänger oder Soldaten Al-Gaddafis), sowie vermutete „ausländische Milizionäre“ festgenommen hätten. Milizen hätten weiterhin Personen außerhalb der Gesetzgebung festgenommen und sie in geheimen Hafteinrichtungen festgehalten, dies sei jedoch bedeutend weniger häufig vorgekommen. Die Behörden hätten allerdings nicht vermocht, die Probleme ganzer Gemeinschaften zu lösen, die im Konflikt vertrieben worden seien. Diese hätten nicht zurückkehren können, da ihre Häuser von Vergeltung suchenden Milizen geplündert und niedergebrannt worden seien. Ganze Kleinstädte seien von Milizen unbewohnbar gemacht worden. Diese Milizen hätten die vertriebenen Einwohner beschuldigt, die gestürzte Regierung zu unterstützen oder in ihrem Namen Verbrechen zu begehen. Die geschätzt 30.000 Einwohner der Stadt Tawargha seien von Milizen aus Misrata vertrieben worden und seien nun im ganzen Land verteilt, darunter in unterversorgten Flüchtlingslagern in Tripolis und Bengasi. Der Maschaschija-Gemeinschaft aus den Regionen Awanija, Zawijat al-Badschul und Omer in den Nafousa-Bergen sei ähnliches durch Milizen aus Zintan widerfahren:

„During and in the immediate aftermath of the conflict, armed militias captured thousands of suspected al-Gaddafi soldiers and loyalists, as well as alleged foreign ‘mercenaries‘. Militias continue to seize people outside the framework of the law and hold them in secret detention facilities, albeit on a significantly reduced scale. (AI, 5. Juli 2012, S. 6)

The authorities have also failed to resolve the situation of entire communities displaced during the conflict and unable to return to their homes, which were looted and burned by armed militias seeking revenge. Entire towns and villages were deliberately rendered uninhabitable by the militias, which accused the displaced communities of supporting the toppled government and of committing crimes on its behalf. The entire population of the city of Tawargha, estimated at 30,000, was driven out by Misratah militias and remains scattered across Libya, including in poorly resourced camps in Tripoli and Benghazi. The Mashashiya community from the areas of Awaniya, Zawiyat al-Bajoul and Omer in the Nafousa Mountain faces a similar plight at the hands of Zintan militias. (AI, 5. Juli 2012, S. 8)

Die internationale Nachrichtenagentur Reuters berichtet im August 2015, dass Unterstützer des gestürzten libyschen Diktators Muammar Gaddafi eine seltene Demonstration in der östlichen Stadt Bengasi abgehalten hätten. Demonstranten hätten Bilder von Gaddafi, der 42 Jahre lang regiert habe, hochgehalten und die Freilassung seines Sohnes, Saif al-Islam gefordert, der eine Woche zuvor von einem Gericht in Tripolis in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden sei. Sie hätten „Muammar“ gerufen, hätten sich aber bald darauf wieder zerstreut, nachdem Gegner auf die Demonstranten geschossen und sie mit Steinen beworfen hätten. Es habe dem Anschein nach keine Verletzten unter den Gaddafi-Unterstützern gegeben:

„Supporters of toppled Libyan dictator Muammar Gaddafi staged a rare demonstration in the eastern city of Benghazi on Tuesday, shouting ‘Muammar, Muammar‘, but dispersed after opponents opened fire with guns and hurled rocks. No-one appeared to have been hurt among dozens of supporters of Gaddafi, who was toppled in 2011 and killed, dictatorship then giving way to today's chaos as two rival governments fight for power and Islamist militants build their influence. The Gaddafi supporters waved pictures of the man who had ruled for 42 years, and demanded the release of his most prominent son Saif al-Islam, whom a Tripoli court sentenced to death in absentia last week for crimes during the uprising.“ (Reuters, 4. August 2015)

Die in den USA erscheinende Zeitschrift Foreign Policy (FP), die sich der Außenpolitik der Vereinigten Staaten sowie internationalen Themen widmet, berichtet im August 2015, dass ein Gericht in Tripolis am 28. Juli den Sohn von Gaddafi sowie acht weitere führende Beamte des alten Regimes zum Tode verurteilt habe. Dieses Urteil sei weitläufig kritisiert worden, man habe dabei auf ein mangelhaftes Strafverfahren verwiesen, dass nicht die akzeptierten Normen eines fairen Verfahrens eingehalten habe. Menschenrechtsaktivisten hätten die Behandlung der Gefangenen durch das Gericht attackiert und eine angebliche Misshandlung von Saadi Gaddafi, dem Sohn des ehemaligen Diktators, registriert. Dieses Verfahren könne Auswirkungen auf die Unterstützer des alten Regimes haben. Eine Woche nach Verkündung des Urteils hätten diese im ganzen Land Straßenproteste abgehalten und die Freilassung prominenter Vertreter des alten Regimes gefordert, die noch immer von Milizen, die den Diktator 2011 gestürzt hätten, festgehalten würden. In den letzten vier Jahren hätten Unterstützer Gaddafis keine große Rolle im öffentlichen Leben gespielt. Nun aber sähen sie sich durch das Chaos, das im Lande seit dem Sturz Gaddafis herrsche, gestärkt und das fragwürdige Gerichtsverfahren in Tripolis gebe ihnen jetzt den perfekten Vorwand, die Revolution von 2011 zu untergraben. Pro-Gaddafi-Demonstranten seien im Osten, Westen und Süden des Landes auf die Straße gegangen, was ein Beweis dafür sei, dass das alte Regime in weiten Teilen des Landes Befürworter habe. Libysche Fernsehkanäle hätten Videomaterial gezeigt, demzufolge diese Proteste in beiden, von rivalisierenden Regierungen in Tripolis und Tobruk gehaltenen Landesteilen stattgefunden hätten. Die Proteste seien weitgehen friedlich verlaufen und unter den Demonstranten seien Männer und Frauen unterschiedlicher Altersgruppen gewesen. Im östlichen Teil Libyens seien beispielsweise in Tobruk, Bengasi und Adschdabija Gegenproteste organisiert worden, die ebenfalls friedlich und von kleinem Ausmaß gewesen seien. Im Süden und im Westen seien die Proteste jedoch anders verlaufen. Die Behörden in Gegenden, die von Islamisten gehalten würden, die mit der Regierung in Tripolis verbündet seien, seien den zunächst friedlichen Protesten mit Schusswaffen und Raketen begegnet. In Gaddafis Heimatstadt Sirte hätten Aufständische der Gruppe IS versucht, die Demonstration zu beenden, indem sie auf die Demonstranten geschossen hätten. In mehreren Fällen seien die pro-Gaddafi-Demonstranten dann auch gewalttätig geworden. In Sebha, der Hauptstadt der südlichen Region Fezzan und einer Hochburg der Unterstützer des alten Regimes, seien die Proteste bald in bewaffnete Auseinandersetzungen übergegangen, als bewaffnete, mit der Regierung in Tripolis verbündete Gruppen versucht hätten, die Demonstrationen zu unterbinden.

Diese pro-Gaddafi-Demonstrationen, so FP weiters, hätten das Potential, sich zu einer nationalen Bewegung gegen die Revolution von 2011 zu entwickeln. Das liege auch daran, dass eine steigende Anzahl an Libyern hinsichtlich der Ergebnisse der Revolution zutiefst desillusioniert sei. Nach vier Jahren, in denen sich die Sicherheit immer weiter verschlechtert habe und öffentliche Dienstleistungen beinah zum Erliegen gekommen seien, würden viele Libyer die Logik hinter dem Sturz Gaddafis in Frage stellen. Obwohl viele noch ihre Verärgerung über das alte Regime zum Ausdruck bringen würden, bilde sich nun der Konsens heraus, dass die Grausamkeiten der Post-Gaddafi-Gruppierungen seit der Revolution weit über die Taten hinausgehen würden, die das Gaddafi-Regime während seiner Regierungszeit verübt habe:

„On July 28, a Tripoli court sentenced the son of Libya’s ex-President Muammar al-Qaddafi and eight other prominent former regime officials to death. The verdict prompted widespread denunciation. Critics cited flaws in the legal proceedings, which clearly fell short of accepted standards of due process. Human rights activists assailed the court’s treatment of the prisoners, noting allegations of abuse of Saadi Qaddafi, the former dictator’s son.

All this would be bad enough in itself. Yet the most ominous consequence of the trial may well turn out to be its effect on supporters of the old order. One week after the announcement of the verdict, adherents of the toppled Qaddafi regime staged street protests throughout the country to demand the release of prominent regime figures still being held by the militias who toppled the dictator in 2011. By and large, supporters of Qaddafi’s government have played little role in public life over the past four years. Now, however, they are clearly feeling emboldened by the turmoil that has engulfed the country since Qaddafi’s fall. And the dubious trial in Tripoli has supplied them with a perfect pretext to undermine the 2011 revolution. The pro-Qaddafi protesters took to the streets in the east, west, and south — evidence that the old regime enjoys support over a wide swath of the country. According to live TV footage shown on Libyan TV channels, the protests took place in communities under the control of both rival governments (one based in Tripoli, the other in Tobruk). The protests were largely peaceful, and the participants included men and women as well as a cross-section of ages. In eastern Libya, the protests were met with small (and equally peaceful) counter-demonstrations in cities such as Tobruk, Benghazi, and Ajdabiya. In the south and west, however, the protests took a different course. The authorities in areas governed by Islamists loyal to the Tripoli government responded to the initially peaceful protests with gunfire and rockets. In Qaddafi’s hometown of Sirte, Islamic State militants tried to end the demonstrations by opening fire on them. In several cases, the pro-Qaddafi protesters then appeared to have turned to violence themselves. In Sebha, the capital of the southern region of Fezzan, a hotbed of support for the old regime, the protests soon turned into armed clashes when armed groups aligned with the Tripoli government tried to stop them from taking place. […]

These pro-Qaddafi protests have the potential to turn into a national movement against the 2011 revolution, not least because a growing number of Libyans are deeply disillusioned by its outcome. After four years of deteriorating security and the near collapse of public services, many are questioning the logic behind the overthrow of the Qaddafi regime — which, after all, was supposed to make life better. While many still express anger at the Qaddafi regime, arguing that the developments in post-Qaddafi Libya are the direct result of 42 years of dictatorship, there is now a building consensus that the atrocities and abuses committed by post-Qaddafi groups since the revolution exceed by far those committed by the Qaddafi regime during its rule.“ (FP, 11. August 2015)

Die britische Tageszeitung The Telegraph schreibt im Mai 2016, dass frühere Gefolgsleute Gaddafis rekrutiert würden, um an der vom Westen unterstützten Operation zur Befreiung Libyens von der Gruppe Islamischer Staat (IS) teilzunehmen. Kommandeure, die während der Revolution von 2011 an Gaddafis Seite gekämpft hätten, hätten sich nun der Koalition angeschlossen, die sich darauf vorbereite, den IS aus Gaddafis Heimatstadt Sirte zu vertreiben. Die Kommandeure, von denen manche nach der Revolution ins Ausland geflohen seien, würden diesen Schritt als eine Chance sehen, sich in den Augen ihrer Landsleute zu rehabilitieren:

„Former henchmen of Colonel Gaddafi are being recruited to join the Western-backed battle to drive the Islamic State from Libya, the Telegraph has learned. Commanders who fought on Gaddafi's side during the revolution in 2011 have signed up to a coalition now gearing up to push Islamic State of Iraq and the Levant (Isil) from his home city of Sirte. The commanders - some of whom fled Libya after the revolution - see the move as a chance to redeem themselves in the eyes of their fellow countrymen.“ (The Telegraph, 7. Mai 2016)

Der in Doha ansässige arabische Nachrichtensender Al Jazeera schreibt im Juni 2016, dass nur wenige Tage nach ihrer Freilassung aus dem Gefängnis die Leichen von 12 Anhängern des ehemaligen Regimeführers Muammar Gaddafi in der Hauptstadt Tripolis aufgefunden worden seien. Die international anerkannte libysche Regierung Nationaler Einheit (Government of National Accord, GNA) habe die Morde verurteilt und Ermittlungen angeordnet:

„The bodies of at least 12 loyalists to the former Libyan leader Muammar Gaddafi have been found in the country's capital, Tripoli, only days after they were released from prison. The victims were part of a group who had been held at the al-Ruwaimi prison, Tripoli's general prosecutor confirmed. Libya's internationally backed Government of National Accord (GNA) issued a statement condemning the murders and ordered an investigation into the deaths.“ (Al Jazeera, 12. Juni 2016)

In einem Artikel vom November 2016 auf der Website Middle East Eye (MEE), einer unabhängig finanzierten Online-Nachrichtenorganisation, die Artikel freiberuflicher Journalisten und Beiträge von Think Tanks veröffentlicht, wird über das erneute Erstarken der Befürworter des alten Regimes berichtet. Laut einem Libyen-Spezialisten gebe es drei Arten von Gaddafi-Anhängern: die Unterstützer seines Sohnes Saif al-Islam, der seit 2011 in der Stadt Zentan im Westen des Landes festgehalten werde, die Unterstützer des Generals Khalifa Haftar im Osten des Landes, und die traditionellen Unterstützer der Dschamahiriya [Nationalideologie Muammar al-Gaddafis, Anm. ACCORD]. Diejenigen, die sich Haftar angeschlossen hätten, würden von einem Amnestiegesetz für während der Revolution im Jahr 2011 begangene Verbrechen profitieren, das das Parlament in Tobruk verabschiedet habe. Der Gesetzestext ziele darauf ab, eine Anzahl von 1,5 bis 3 Millionen Personen aus dem Exil zurückzubringen, unter denen auch die Mehrheit von Gaddafi-Unterstützern sei, die nach Ägypten oder Tunesien geflohen seien. Der Klan von Saif al-Islam sei wahrscheinlich am besten organisiert und versammle einen Teil der traditionellen Unterstützer des alten Regimes. Obwohl Saif al-Islam am 28. Juli 2015 in Abwesenheit in Tripolis zum Tode verurteilt worden sei, sei dieser immer noch am Leben und befinde sich in Zentan. Dort sei er offiziell Gefangener der örtlichen Miliz, erfreue sich aber sehr lockerer Haftbedingungen. Berichten zufolge dürfe er sich in der Stadt frei bewegen und kommuniziere über sein Handy mit der Außenwelt. Der Artikel erwähnt ebenfalls die zwölf im Juni [2016] in Tripolis ermordeten Regime-Loyalisten und berichtet, dass eine der revolutionärsten Milizen in Tripolis für die Ermordungen verantwortlich gewesen sei:

„Mattia Toaldo, a specialist on Libya at the European Council on international relations, has identified three types of Gaddafi loyalists: the supporters of Saif el-Islam, the favourite son of Gaddafi, detained since 2011 in the city of Zentan in the west of the country; the supporters of General Khalifa Haftar, in the east of the country; and the orthodox supporters of the Jamahiriya. […]

Those who joined with Haftar benefited from the amnesty law passed by the Tobruk parliament for perpetrators of crimes during the uprising in 2011. A text aims to bring back those in exile, which number between 1.5m and 3m, including a majority of Gaddafi loyalists who sought refuge in Tunisia and Egypt. The clan of Saif al-Islam is probably the best organised and brings together a portion of orthodox supporters. Although sentenced to death on 28 July 2015 in absentia in Tripoli, al-Islam is still alive in Zentan. Officially a prisoner of the local militia, he enjoys very lax conditions of detention and is reportedly free to travel around the city. He communicates a lot, usually using the Viber smartphone app. […]

The most revolutionary militia in Tripoli has understood the potential danger of such a rampant nostalgia to develop. In June, they assassinated 12 loyalists in Tripoli from the Jamahiriya who had just completed their prison sentences for crimes committed in 2011.“ (MEE, 11. November 2016)

 

image001.gif 

 

Quellen: (Zugriff auf alle Quellen am 19. Jänner 2017)

·      AI - Amnesty International: Libya: Rule of law or rule of militias? [MDE 19/012/2012], 5. Juli 2012
http://www.refworld.org/docid/4ffe8aa72.html

·      Al Jazeera: Freed Gaddafi loyalists found dead in Libya's Tripoli, 12. Juni 2016
http://www.aljazeera.com/news/2016/06/libyan-forces-retake-port-isil-bastion-sirte-160611131347272.html

·      FP - Foreign Policy: Qaddafi Supporters Reemerge in a Disillusioned Libya, 11. August 2015
http://foreignpolicy.com/2015/08/11/qaddafi-supporters-reemerge-in-a-disillusioned-libya/

·      MEE – Middle East Eye: Libya: Why the Gaddafi loyalists are back, 11. November 2016
http://www.middleeasteye.net/news/libya-why-gadhafi-loyalists-are-back-2138316983

·      Reuters: Gaddafi loyalists stage rare protest in eastern Libya, 4. August 2015
http://www.reuters.com/article/us-libya-security-idUSKCN0Q91WT20150804

·      The Telegraph: Gaddafi loyalists join West in battle to push Islamic State from Libya, 7. Mai 2016
http://www.telegraph.co.uk/news/2016/05/07/gaddafi-loyalists-join-west-in-battle-to-push-islamic-state-from/