Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Informationen zur Praxis Baccha Baazi ("tanzende Jungs") (regionale Verbreitung, Altersgruppe, Zwangsrekrutierung, staatlicher Schutz, Unterstützung durch Familie, Gesellschaft, Strafen) [a-8340]

19. April 2013
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Detaillierte Informationen zu Baccha Baazi entnehmen Sie bitte auch folgender Auskunft der SFH-Länderanalyse:
Regionale Verbreitung der Praxis
Die Zeitung Die Welt berichtet in einem Artikel vom August 2010 Folgendes zur Praxis Baccha Baazi („tanzende Jungen“):
„Nazir Alimi, ein Kinderrechts-Aktivist aus Mazar i-Sharif, verfasste im Auftrag von Kinderschutzorganisation UNICEF einen Bericht über das Baccha-Baazi-System. Alimi recherchierte, dass die Jungentänze vor allem im Norden Afghanistans stattfinden, im Einflussgebiet tadschikischer und usbekischer Warlords. Aber auch in südlichen Regionen, und in der Hauptstadt Kabul sei es weit verbreitet.
Im Einsatzgebiet der deutschen Bundeswehr, in den Regionen Kunduz und Mazar i-Sharif, so bestätigte auch die UN, gehört Baccha Baazi zum Alltag und werde offen ausgelebt: ‚Hunderte Männer kommen dort zusammen. Einige bringen ihre Jungen, die dann nacheinander tanzen. Nach der Party, gegen 2 Uhr nachts, haben die Jungen dann Sex mit ihren Herren.‘“ (Die Welt, 27. August 2010)
Laut einem Artikel des Institute for War and Peace Reporting (IWPR) vom Oktober 2011 habe der Vorsitzende des Jugendinformationszentrum in der Provinz Balkh die Verwicklung von mächtigen Personen in die Praxis „Baacha Baazi“ bestätigt. Der Sprecher der Polizei der Provinz Balkh, Sher Jan Doranai, habe angegeben, dass sexueller Missbrauch und Kinderhandel in der Provinz Balkh nicht existiere, möglicherweise gebe es derartige Fälle in den nördlichen Provinzen:
“Mohammad Nazer Alemi, a child protection campaigner who heads the Youth Information Centre in Balkh province, confirmed that powerful individuals and officials were sometimes implicated in the abuse. He said he was in possession of a documentary film which no media outlet would agree to air, because it showed the involvement of powerful individuals. He referred to the tradition of ‘bacha bazi’ or dancing boys, kept by powerful older men and made to perform at private parties. ‘They not only force them to dance but also sexually abuse them,’ he said. Sher Jan Doranai, spokesman for police headquarters in Balkh, said sexual abuse and child trafficking did not exist in Balkh province at all. ‘Perhaps such cases exist in other northern provinces, but not in Balkh,’ he said, insisting that the police carried out their duties of child protection to the full.” (IWPR, 15. Oktober 2011)
Laut einem Artikel von BBC vom September 2010 habe der stellvertretende Polizeichef der Provinz Jowzjan bestritten, dass es weiterhin zur Praxis von Baccha Baazi komme. Laut einem Parlamentsabgeordneten aus Nordafghanistan würde die Praxis in fast jeder Region Afghanistan vermehrt auftreten. Er habe die Behörden aufgefordert, die Praxis zu unterbinden, jedoch würden diese nicht einschreiten. Die Beamten seien zu beschämt, um die Existenz der Praxis einzugestehen. Der Vorsitzende der Independent Human Rights Commission in Kabul, Musa Mahmudi, habe angegeben, dass die Praxis in vielen Teilen Afghanistans alltäglich sei, jedoch gebe es keine Studien zur Anzahl der landesweit missbrauchten Kinder. Der Autor des Artikels schreibt, dass jedem Afghanen, mit dem er gesprochen habe, die Praxis bekannt gewesen sei. Viele hätten ihn zu überzeugen versucht, dass die Praxis nur in abgelegenen Gebieten ausgeübt werde. Er habe jedoch auf einer Feier in Kabul, die weniger als eine Meile vom Hauptquartier der Regierung entfernt stattgefunden habe, einen 40-jährigen Mann getroffen, der drei “tanzende Jungen“, im Alter zwischen 15 und 18 Jahren gehabt habe:
„There have been very few attempts by the authorities to clamp down on the bachabaze tradition. Muhammad Ibrahim, deputy Police Chief of Jowzjan province, denies that the practice continues. ‘We haven't had any cases of bachabaze in the last four-to-five years. It doesn't exist here any more,’ he says. ‘If we find any man practising it we'll punish them.’ According to Abdulkhabir Uchqun, an MP from northern Afghanistan, the tradition is not just alive, but steadily growing. ‘Unfortunately it is the on the increase in almost every region of Afghanistan. I asked local authorities to act to stop this practice but they don't do anything,’ he says. ‘Our officials are too ashamed to admit that it even exists.’ […]
The Independent Human Rights Commission in Kabul is one of the few organisations that has attempted to address the bachabaze practice.
The group's head, Musa Mahmudi, says while it is common in many parts of Afghanistan there have been no studies to determine how many children are abused across the country. […]
Every Afghan I spoke to knew about bachabaze. Many tried to convince me that it exists only in remote areas. But I went to a party late at night in the old quarter of Kabul, less than a mile from the government's headquarters. It was there that I met Zabi (again not his real name), a 40-year-old man who is proud to have three dancing boys. ‘My youngest bacha is 15 and the oldest is 18. It wasn't easy to find them. But if you want it badly - you will find them,’ he says.“ (BBC, 7. September 2010)
General Asadollah Amarkhil, der Sicherheitschef der Provinz Kundus, habe laut einem Artikel von Reuters vom November 2007 angegeben, dass die Praxis seit Jahren in der Provinz verbreitet sei:
„’It is sad to state that this practice that includes making boys dance, sexual abuse and sometimes even selling boys, has been going on for years,’ said General Asadollah Amarkhil, the security chief of Kunduz province. ‘We have taken steps to stop it to the extent that we are able,’ he said.“ (Reuters, 19. November 2007)
Gefährdete Altersgruppe
Die FAZ berichtet im Mai 2011 Folgendes:
„In Afghanistan halten sich einflussreiche Männer Jungs im Alter zwischen elf und sechzehn Jahren zum erotischen Zeitvertreib. Die UN wollen dagegen vorgehen. Doch das ‚Knabenspiel‘ hat Tradition.“ (FAZ, 23. Mai 2011)
„Der Bacha, ein elf Jahre alter Junge, sei von sich aus gekommen, sagt der Leibwächter, so wie sich schon viele Jungen aus mittellosen Familien angeboten hätten. Er habe seinen Eltern vorgelogen, dass er als Wanderarbeiter nach Iran gehe. Alle drei Monate kehre er heim, bringe seiner Familie Geld.“ (FAZ, 23. Mai 2011)
Die Welt schreibt im August 2010 Folgendes:
„Der Jungen-Tanz (Baccha Baazi) wird nach Angaben von Unicef seit Jahrhunderten praktiziert. Kleine Jungen bis zum Alter der Pubertät werden demnach versklavt und zu Tänzern für Sexpartys ausgebildet. […]
‚Es handelt sich um Kindersklaverei‘, sagt ein UN-Mitarbeiter. ‚Einige Kinder werden von ihrem Zuhause oder von den Straßen verschleppt und dann einem Mann gegeben, um ihn sexuell zu befriedigen.‘ […]
Sobald bei den tanzenden Jungen der Bartwuchs einsetzt, tauscht ihr Besitzer sie gegen einen jüngeren Knaben (baccha bereesh – ‚Junge ohne Bart‘) aus. Der pubertierende Bacchi wird dann nach jahrelangem Missbrauch verstoßen und oft mit einer älteren Frau verheiratet, die keine Jungfrau mehr ist und kaum Chancen hätte, in der streng islamischen Gesellschaft einen Ehemann zu finden.“ (Die Welt, 27. August 2010)
„Oft würden die Jungen, im Alter zwischen 10 und 15 Jahren, offiziell für die Polizei- und Armeekräfte rekrutiert und dienten nebenbei als Sexsklaven der Polizeichefs oder Militärs.“ (Die Welt, 27. August 2010)
BBC berichtet im September 2010, dass die Jungen bis zu 12 Jahre jung sein könnten. BBC zitiert im selben Artikel jedoch einen Jungen, der angegeben habe, im Alter von zehn Jahren mit dem Tanzen auf Hochzeitsfeiern begonnen zu haben, als sein Vater gestorben sei:
„The men behind the practice are often wealthy and powerful. Some of them keep several bachas (boys) and use them as status symbols - a display of their riches. The boys, who can be as young as 12, are usually orphans or from very poor families. […] Omid (not his real name) is 15 years old. His father died in the fields, when he stepped on a landmine. As the eldest son, it's his job to look after his mother - who begs on the streets - and two younger brothers. ‘I started dancing at wedding parties when I was 10, when my father died,’ says Omid.“ (BBC, 7. September 2010)
Reuters zitiert im November 2007 Shir Mohammad aus der Provinz Sar-e Pol. Er sei erst 14 Jahre alt gewesen, als er von einem usbekischen Kommandanten zum Geschlechtsverkehr gezwungen worden sei. Ein weiterer Junge, Ahmad Jawad, der 17 Jahre alt sei, sei seit zwei Jahren bei einem wohlhabenden Grundstücksbesitzer, um zu tanzen und „mit seinem Eigner zu spielen“:
„’I was only 14-years-old when a former Uzbek commander forced me to have sex with him,’ said Shir Mohammad in Sar-e Pol province. ‘Later, I quit my family and became his secretary. I have been with him for 10 years, I am now grown up, but he still loves me and I sleep with him.’ Ahmad Jawad, aged 17, has been with a wealthy landowner for the past two years. ‘I am used to it. I love my lord. I love to dance and act like a woman and play with my owner,’ he said.“ (Reuters, 19. November 2007)
Konkrete Gefährdungslage für Baccha Baazi
Die FAZ schreibt im Mai 2011 Folgendes:
„Wenn überhaupt einmal gegen das System der Bacha Bazi vorgegangen wird, dann trifft es meistens nur die Knaben, nie ihre Peiniger. Einem Bericht der afghanischen Menschenrechtskommission zufolge verbüßen zwölf Prozent der männlichen Insassen von Jugendgefängnissen eine Strafe wegen Homosexualität oder Ehebruchs, keiner von ihnen ist älter als dreizehn Jahre. Im Jugendgefängnis von Kundus saß bis vor kurzem ein Tanzknabe ein, der von zwei rivalisierenden Milizchefs begehrt wurde. Er galt als besonders prestigeträchtig. Der Streit eskalierte, zwei Kämpfer wurden getötet. Das brachte dem Jungen eine Haftstrafe von sechs Jahren ein. Er sei schließlich der Grund für den Mord gewesen, hieß es.“ (FAZ, 23. Mai 2011)
Die Welt schreibt im August 2010 Folgendes:
„Der Jungen-Tanz (Baccha Baazi) wird nach Angaben von Unicef seit Jahrhunderten praktiziert. Kleine Jungen bis zum Alter der Pubertät werden demnach versklavt und zu Tänzern für Sexpartys ausgebildet. Meist stammten sie aus ärmlichen Familien auf dem Land, würden als Waisen von der Straße geholt oder schlichtweg entführt. Die ‚Bacchis‘, so der Name der tanzenden Jungen, würden zum Eigentum mächtiger Kriegsfürsten, lokaler Polizeichefs und reicher Geschäftsmänner.“ (Die Welt, 27. August 2010)
„‘Es handelt sich um Kindersklaverei‘, sagt ein UN-Mitarbeiter. ‚Einige Kinder werden von ihrem Zuhause oder von den Straßen verschleppt und dann einem Mann gegeben, um ihn sexuell zu befriedigen.‘ Als Statussymbole besäßen mächtige Männer häufig sogar mehrere solcher Jungen: ‚Es ist nicht ungewöhnlich dass diese Jungen bei solchen Events herumgereicht werden, um Sex mit den erwachsenen Männern zu haben.‘ […] Zur Zeiten der Taliban-Herrschaft seien die Jungentänze offiziell verboten worden. Mittlerweile aber floriert dieses ‚Unterhaltungsgewerbe‘ wieder. Die UN berichtet von Händlern, die DVDs von Baccha-Baazi-Abende anböten. Einige Zuhälter hätten sich auf das Tanz-Training der Jungen spezialisiert und zwängen die Kinder nach dem Tanz zur Prostitution.“ (Die Welt, 27. August 2010)
„Den ‚Herren‘ noch vor der Pubertät zu verlassen, gelingt nur sehr wenigen Bacchis. Häufig hat dies tödliche Konsequenzen. Nicht wenige Bacchis werden von ihren Schändern umgebracht, die Mörder tarnen es meist als Unfall. ‚Es gab einen Fall in Kandahar im vergangenen Jahr, wo ein Junge vor dem Mann geflohen ist, der ihn besaß‘, sagt ein Menschenrechtler WELT ONLINE. ‚Es endete darin, dass sieben Jungen aus Rache umgebracht wurden.‘“ (Die Welt, 27. August 2010)
Human Rights Watch (HRW) berichtet im Februar 2013, dass in der Provinz Herat kürzlich ein Fall aus dem Oktober 2012 bekannt geworden sei, bei dem ein 13-jähriger Junge, nachdem er des Geschlechtsverkehrs mit zwei erwachsenen Männern in einem Park beschuldigt worden sei, zu einer einjährigen Haftstrafe verurteilt worden. Laut einem Vorsitzenden von HRW müsse die afghanische Regierung umgehend Schritte zum Schutz von Kindern vor sexuellen Übergriffen, darunter durch die Praxis Baacha Baazi, einleiten. Die Behandlung von vergewaltigten Jungen als Verbrecher unterminiere alle Regierungsmaßnahmen zum Schutz von Kindern:
“In Afghanistan’s western Herat province, in an October 2012 case that only recently came to light, a court convicted a 13-year-old boy on moral crimes charges, and sentenced him to one year in juvenile detention after he was accused of having sex with two adult men in a public park. […]
‘When a man has sex with a 13-year-old child, the child is a victim of rape, not a criminal offender,’ said Brad Adams, Asia director. ‘The Afghan government should never have victimized this boy a second time, but instead should have released him immediately with urgent protection and assistance.’ […]
In spite of Afghanistan’s strict prohibitions on sex outside of marriage, the United Nations and other organizations have documented numerous instances of sexual abuse of boys through a practice known as ‘bacha bazi.’ The phrase, which translates as ‘boy play,’ refers to boys who work as dancers, performing at parties attended by men, and typically living under the protection of a military commander or other patron. Afghan culture typically prohibits women or girls from dancing for a male audience. While their role as entertainers can be innocent, in many instances these boys are also the victims of sexual assault and abuse.
‘The Afghan government needs to take urgent steps to protect children from sexual assault, including boys who are abused through the practice of bacha bazi,’ Adams said. ‘Treating boys who have been raped as criminals undermines all government efforts to protect children from abuse.’” (HRW, 10. Februar 2013)
Schutzwilligkeit der Behörden und Einschreiten der Behörden
Die FAZ schreibt im Mai 2011 Folgendes:
„Die Versuche, diesen Kindesmissbrauch zu bekämpfen, sind so alt wie die Anfänge des modernen afghanischen Staates. Da die meisten Knabenspieler einflussreiche Männer sind, war das nie sonderlich erfolgreich. Die Vereinten Nationen (UN) haben dennoch einen neuen Versuch unternommen. Die UN-Sondergesandte für Kinder in bewaffneten Konflikten, Radhika Coomaraswamy, hat die afghanische Polizei auf eine schwarze Liste gesetzt. Auf ihr sind Kriegsparteien verzeichnet, die Kinder rekrutieren oder sexuell missbrauchen. In Coomaraswamys Jahresbericht 2010 werden die vom Westen unterstützten afghanischen Sicherheitskräfte nun in einem Atemzug mit Al Qaida im Irak und der obskuren Lord's Resistance Army in Uganda genannt. Das ist zwar peinlich für die Regierung in Kabul, aber weil die UN nur von der ‚Rekrutierung Minderjähriger‘ sprechen und nicht von systematischem Kindesmissbrauch durch die afghanischen Sicherheitskräfte, kann Präsident Hamid Karzai sein Gesicht wahren. Im Kleingedruckten des Berichts herrscht aber doch Klarheit: ‚Manche Kommandeure auf Distriktebene umgehen den formalen Rekrutierungsprozess und heuern Jungen an, darunter auch für sexuelle Zwecke.‘ […]
Ende Januar hat die Regierung in Kabul sich mit den UN auf einen Aktionsplan geeinigt. Mit dessen Hilfe sollen die Rekrutierung von Minderjährigen und deren sexueller Missbrauch verhindert werden. Kabul verpflichtet sich, den UN-Inspekteuren freien Zugang zu allen Polizeistationen zu gewähren, auch unangemeldet. Täter sollen vor Gericht gestellt werden können. […]
Dee Brillenburg Wurth ist für den Schutz von Kindern bei der UN-Mission in Afghanistan zuständig. Drei Tage nach der Vereinbarung des Aktionsplanes reiste sie in die entlegene Provinz Urusgan. ‚Dort wusste jeder von dem Aktionsplan‘, sagt sie. Der Führer einer Stammesmiliz habe ihr berichtet, dass er sieben minderjährige Kämpfer nach Hause geschickt habe, ein lokaler Polizeichef habe ihr versichert, dass der Teejunge mit den kindlichen Gesichtszügen tatsächlich schon 22 Jahre alt sei. Frau Wurth glaubt, dass die Regierung es ernst meint, an schnelle Erfolge glaubt sie aber nicht. Die Opfer müssten um ihr Leben fürchten, wenn sie ihre Peiniger anzeigten. ‚Solange es kein Reintegrationsprogramm für diese Kinder gibt, können wir ihren Schutz nicht sicherstellen.‘
Die Mühlen der afghanischen Justiz mahlen langsam. Das musste auch der ehemalige Staatsanwalt von Kundus, Hafizullah Khaliqyar, erleben, der das System der Bacha Bazi bekämpften wollte. Vor zwei Jahren veranlasste er zahlreiche Razzien. Dabei ließ er auch den Musiker Feruz Kunduzi festnehmen, der mit illegalen Bacha-Bazi-Videos berühmt geworden ist. Der Lautenspieler verkehrt in höchsten gesellschaftlichen Kreisen. Für saftige Gagen spielt er auf Bacha-Bazi-Partys. Er blieb nicht lange im Gefängnis. Einflussreiche Männer wie Maulana Saidkhili, der inzwischen ermordete Polizeichef von Kundus, Khalil Andarabi, der Polizeichef der Provinz Fariyab, und der afghanische Vizepräsident, Mohammad Qasim Fahim, machten sich für ihn stark. Wenig später war Staatsanwalt Khaliqyar seinen Posten los. ‚Dieser Fall ist der Grund, warum ich noch immer keinen Job habe‘, sagt er.“ (FAZ, 23. Mai 2011)
„Vor dem Krieg gegen die Sowjetunion war es üblich, dass der Vater eines Tanzknaben um Einverständnis gefragt werden musste. Im Krieg jedoch wurden viele Jungen entführt, die Mudschahedin-Kämpfer nahmen sich ihre Bachas mit Gewalt, und Knabentanz entwickelte sich zu einem beliebten Zeitvertreib für Krieger, die ihre Familien über viele Monate nicht zu Gesicht bekamen. Die Mudschahedin von damals sind heute afghanische Polizisten.“ (FAZ, 23. Mai 2011)
Die Welt schreibt im August 2010 Folgendes:
„‘Offenbar waren und sind die Warlords, besonders die der Nordallianz, die Haupttäter‘, berichtet der UN-Mitarbeiter. ‚Aber es gibt genug Beweise dafür, dass auch die afghanischen Sicherheitskräfte die ‚tanzenden Jungen‘ benutzen.‘ Oft würden die Jungen, im Alter zwischen 10 und 15 Jahren, offiziell für die Polizei- und Armeekräfte rekrutiert und dienten nebenbei als Sexsklaven der Polizeichefs oder Militärs. Bis in die hohen Kreise der afghanischen Politik wisse man um die Baccha-Baazi-Partys und entschuldige diese als kulturelle Tradition. ‚Wenn ich das Thema Baccha Baazi bei Gesprächen in diplomatischen Runden angesprochen habe, war es, als hätte ich ein Tabu gebrochen‘, sagt Radhika Coomaraswamy, die UN-Sonderbeauftragte für Kinder in bewaffneten Konflikten. Baccha Baazi werde nie geleugnet, es sei lediglich etwas worüber man nicht spreche.“ (Die Welt, 27. August 2010)
BBC schreibt in einem Artikel vom September 2010, dass ein Junge, der von der Praxis Baccha Baazi betroffen sei, angegeben habe, dass er nicht zur Polizei gehen könne, da es sich um mächtige Männer handle. Die Polizei könne nichts gegen sie machen:
„I ask him what happens when people take him to hotels. He bows his head and pauses for a long time before answering. Omid says he is paid about $2 for the night. Sometimes he is gang raped. I ask him why he doesn't go to the police for help. ‘They are powerful and rich men. The police can't do anything against them.’“ (BBC, 7. September 2010)
Der UNO-Generalsekretär schreibt in seinem Bericht an den UNO-Sicherheitsrat (UN Security Council, UNSC) vom Februar 2011, dass es Berichte über sexuelle Misshandlung und Ausbeutung insbesondere von Jungen durch bewaffnete Gruppen gegeben habe, darunter in Form der Praxis von Baacha Baazi. Derartige Zwischenfälle und ihr Zusammenhang seien schwer zu dokumentieren. Am 16. Juni 2009 seien Berichten zufolge zwei Polizeibeamte in der Provinz Ghazni wegen der Entführung eines 12-jährigen Jungen verhaftet worden. Es sei berichtet worden, dass der Junge an einem Kontrollpunkt festgehalten und gezwungen worden sei, nachts für die Männer zu tanzen. Im September 2009 sei ein Soldat der afghanischen nationalen Armee verhaftet und beschuldigt worden, einen 15-jährigen Jungen in Kabul vergewaltigt zu haben. Am 6. November 2009 sei ein 16-jähriger Junge Berichten zufolge in der Provinz Herat von Grenzpolizisten vergewaltigt worden:
„Isolated reports were received of sexual violence committed against children by members of the Afghan National Security Forces. Moreover, there continued to be reports of children, especially boys, being sexually abused and exploited by armed groups, including through the practice of baccha baazi (dancing boys). Such incidents and their context were difficult to document, and further efforts will be made to fully research and investigate these allegations. On 16 June 2009, in Qara Bagh district, Ghazni province, it was reported that police officials from a police checkpoint on the Kabul-Kandahar Highway were arrested for the kidnapping of a 12-year-old boy. It was reported that the boy had been kept at the checkpoint and forced to dance for the men during the nights. In September 2009, an Afghan National Army soldier was arrested and accused of raping a 15-year-old boy in Kabul city. On 6 November 2009, a 16-year-old boy was reportedly raped by border police at the Islam Qala border in Herat province.” (UNSC, 3. Februar 2011, S. 10)
Grundsätzlich vorgesehene Strafen
Die Welt berichtet im August 201 Folgendes:
„Bislang folgten in Afghanistan auf den systematischen sexuellen Missbrauch der Tanzjungen kaum juristische Konsequenzen. Ab und an wurde ein Mann der Vergewaltigung für schuldig befunden, in der Regel erhielt er aber nur eine geringe Haftstrafe.
Erst nachdem die UN-Kinderschutzbeauftragte Radhika Coomaraswamy die Baccha-Baazi-Praxis im Februar 2010 bei einer Pressekonferenz in Afghanistan ansprach, reagierte die Regierung in Kabul. Am 18. Juli 2010 nahm eine Kommission ihre Arbeit auf, die den Schutz von Kindern in Afghanistan verbessern soll. Der Missbrauch und die sexuelle Ausbeutung von Jungen, auch durch Afghanistans Sicherheitskräfte, steht auf der Agenda.
‚Es ist ein Schritt in die richtige Richtung‘, so die Kinderschutz-Beraterin der UN in Afghanistan, Dee Brillenburg. Generell aber müsse mehr Aufklärung über das System Baccha Baazi stattfinden.“ (Die Welt, 27. August 2010)
HRW berichtet im Februar 2013, dass 2009 das Gesetz zur “Eliminierung von Gewalt gegen Frauen” verabschiedet worden sei, das den Begriff „Vergewaltigung“ als Straftat eingeführt habe. Eine große Einschränkung sei, dass sich das Gesetz nur auf Vergewaltigung von Frauen oder Mädchen beziehe. Es gebe keine vergleichbaren Vorschriften betreffend eines Vergewaltigungsverbots gegenüber Männern und Jungen. HRW fordert die afghanischen Gesetzgeber auf, das Strafgesetz zu überarbeiten:
„In 2009, Afghanistan enacted the Law on Elimination of Violence Against Women, which for the first time introduced the term ‘rape’ as a criminal offense under Afghan law. The law imposed sentences similar to the 5-to-15-year sentences for pederasty and sex between people who are not married to each other. Although some alleged rapists have been prosecuted under this law, in 2012, Human Rights Watch documented repeated incidents in which prosecutors pursued criminal charges against alleged rape victims for engaging in extramarital sex. Prosecutors told Human Rights Watch that they had pursued criminal charges in such cases because they did not believe victims who said they had been raped, or they believed the victims were of ‘bad character.’
Since the law’s passage, specialized units responsible for prosecuting crimes against women and children have been established in several Afghan provinces with support from international donors. The UN in 2012 documented numerous cases of sexual assault of boys and girls, including sexual assault of boys by armed men and in detention centers.
A major limitation of the 2009 law is that it refers only to the rape of women or girls. There is no comparable specific prohibition on rape of men and boys. A wide-ranging revision of Afghanistan's penal code has been planned for several years, but there has been little progress in drafting a new law.
‘Afghan lawmakers should move forward promptly in revising the Penal Code to provide better protection for both victims and criminal suspects,’ Adams said. ‘The revision should ensure that rape is seen as a serious crime, whether committed against men and boys or women and girls, and that victims are not treated as criminals.’“ (HRW, 10. Februar 2013)
Akzeptanz von Baacha Baazi durch Familien und Gesellschaft
Die Welt berichtet im August 2010 Folgendes:
„Gegen eine geringe Geldsumme oder um sich Vorteile zu verschaffen, gäben die Familien ihre Söhne an die lokalen Kommandeure und Milizchefs ab. Die meisten afghanischen Eltern aber seien inzwischen froh, so ein UN-Mitarbeiter, wenn sie einen hässlichen Jungen bekämen, weil diesem dann das Schicksal eines ‚Bacchis‘ erspart bliebe. […]
‚Das Stigma haftet ihnen aber weiterhin an‘, so ein Kinderschutzbeauftragter der UN, ‚Viele verlassen daher ihre Gemeinden und Familien für immer.‘
In der Provinz Logar verstieß ein Hotelbesitzer seinen Bacchi nach fünf Jahren sexueller Ausbeutung. Die Familie des Teenagers hatte Geld für dessen Dienste erhalten, wurde aber von der Dorfgemeinde missachtet und verspottet. Daraufhin verließ der Junge sein Dorf und seine Familie.“ (Die Welt, 27. August 2010)
Folgende Quellen enthalten ebenfalls allgemeine Informationen zu Baccha Baazi:
 
Das Transkript eines Dokumentarfilms über „Tanzende Jungen“ vom afghanischen Journalisten Najubullah Quraishi findet sich unter folgendem Link:
 
Ein Dokumentarfilm der BBC zu Baacha Baazi ist unter folgendem Link zu finden:
 
 

Quellen: (Zugriff auf alle Quellen am 19. April 2013)