Dokument #1166241
AI – Amnesty International (Autor)
Amtliche Bezeichnung: Königreich Marokko
Staatsoberhaupt: König Mohammed VI.
Regierungschef: Abdelilah Benkirane
(löste Abbas El Fassi im November im Amt ab)
Todesstrafe: in der Praxis abgeschafft
Einwohner: 32,3 Mio.
Lebenserwartung: 72,2 Jahre
Kindersterblichkeit: 37,5 pro 1000 Lebendgeburten
Alphabetisierungsrate: 56,1%
Sicherheitskräfte gingen 2011 mit exzessiver Gewalt gegen Demonstrierende vor. Kritiker der Monarchie und anderer staatlicher Einrichtungen sahen sich strafrechtlicher Verfolgung und Inhaftierung ausgesetzt. Dies betraf auch sahrauische Aktivisten, die sich für eine Selbstbestimmung der Westsahara einsetzten. Es gingen weiterhin Berichte über Folter und Misshandlung von Gefangenen ein. Mehrere gewaltlose politische Gefangene und ein Opfer willkürlicher Inhaftierung wurden im Rahmen einer königlichen Amnestie begnadigt. Die Anklagen gegen einige sahrauische Aktivisten wurden jedoch aufrechterhalten. Es gab keine Hinrichtungen.
Am 20. Februar 2011 demonstrierten Tausende Menschen in Rabat, Casablanca und anderen Städten und verlangten Reformen. Die Kundgebungen waren genehmigt und verliefen überwiegend friedlich. Die Demonstrierenden, die sich schnell zur Bewegung 20. Februar (Mouvement du 20février) zusammenschlossen, forderten mehr Demokratie, eine neue Verfassung, ein Ende der Korruption, bessere wirtschaftliche Bedingungen, bessere Gesundheitsvorsorge und andere Leistungen. Angesichts der anhaltenden Proteste wurde am 3. März ein neuer nationaler Menschenrechtsrat (Conseil National des Droits de l'Homme) gegründet, der den beratenden Menschenrechtsrat (Conseil Consultatif des Droits de l'Homme) ablösen sollte. Am 9. März kündigte der König einen Reformprozess für die Verfassung an, welcher jedoch von den Anführern der Proteste boykottiert wurde. Der Entwurf für eine neue Verfassung wurde per Volksentscheid am 1. Juli bestätigt.
Die neue Verfassung sieht vor, das Recht des Königs, Regierungsbeamte zu ernennen und das Parlament aufzulösen, auf den Ministerpräsidenten zu übertragen. Der König bleibt jedoch Oberbefehlshaber der Armee, Vorsitzender des Ministerrats und höchster religiöser Würdenträger. Weitere Verfassungsänderungen garantieren das Recht auf freie Meinungsäußerung und die Gleichberechtigung von Männern und Frauen. Folter ist fortan strafbar, ebenso wie willkürliche Inhaftierung und Verschwindenlassen. Die islamistische Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (Parti de la Justice et du Développement - PJD) errang bei den Parlamentswahlen am 25. November die Mehrheit der Sitze. Am 29. November nahm eine neue Regierung unter der Führung von Abdelilah Benkirane die Amtsgeschäfte auf.
Im April 2011 nahm Marokko alle seine Vorbehalte gegen das UN-Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) zurück. Die Vorbehalte bezogen sich auf Themen wie die Staatsangehörigkeit von Kindern und Diskriminierung in der Ehe.
Die Regierung kündigte zudem an, die Fakultativprotokolle zum UN-Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung und Strafe sowie zum CEDAW-Übereinkommen zu ratifizieren.
Die Verhandlungen zwischen Marokko und der Frente Polisario um den Status der Westsahara stagnierten 2011. Marokko hatte das Gebiet 1975 annektiert. Die Frente Polisario fordert einen unabhängigen Staat. Der UN-Sicherheitsrat verlängerte am 27. April erneut das Mandat der UN-Mission für einen Volksentscheid in der Westsahara. Das Mandat enthält keine Bestimmungen zur Beobachtung der Menschenrechtslage.
Obwohl die meisten der Protestaktionen für Reformen friedlich verliefen, sollen Sicherheitskräfte bei mehreren Gelegenheiten Demonstrierende angegriffen haben. Mindestens eine Person kam ums Leben, viele weitere wurden verletzt. Hunderte von Protestteilnehmern kamen in Haft. Die meisten wurden wieder freigelassen, aber einige von ihnen mussten sich vor Gericht verantworten und erhielten Freiheitsstrafen. Berichten zufolge schikanierten die Sicherheitskräfte Familienangehörige von Demonstrierenden der Bewegung 20. Februar. Zahlreiche Aktivisten, die zu einem Boykott der Parlamentswahlen aufgerufen hatten, wurden zum Verhör einbestellt.
Nach wie vor wurden Journalisten und andere Personen festgenommen und angeklagt, weil sie kritisch über die Monarchie oder staatliche Einrichtungen berichtet oder sich zu Themen geäußert hatten, die von den Behörden als politisch brisant eingestuft wurden.
Sahrauische Aktivisten, die sich für die Selbstbestimmung der Menschen auf dem Gebiet der Westsahara einsetzten, wurden weiterhin an der Ausübung ihrer Rechte auf freie Meinungsäußerung, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit gehindert. Führenden Aktivisten drohte nach wie vor strafrechtliche Verfolgung.
Die Ereignisse von Gdim Izik und Laayoune im November 2010 waren im Berichtsjahr nach wie vor nicht durch eine unparteiische und unabhängige Untersuchung geklärt worden. Im November 2010 hatten Sicherheitskräfte ein Protestcamp der Sahrauis zerstört, woraufhin es zu Ausbrüchen von Gewalt kam. Dabei wurden 13 Menschen getötet, darunter auch elf Angehörige der Sicherheitskräfte.
Im Jahr 2011 trafen neue Meldungen über Folterungen und andere Misshandlungen von Gefangenen ein, die vor allem von Angehörigen des Geheimdienstes (Direction de la Surveillance du Territoire - DST) begangen wurden. Die Übergriffe richteten sich hauptsächlich gegen vermeintliche Islamisten sowie gegen Angehörige der Bewegung 20. Februar. Häftlinge wurden weiterhin ohne Kontakt zur Außenwelt gehalten, in einigen Fällen sogar über den gesetzlich erlaubten Zeitraum von zwölf Tagen hinaus.
Am 28. April 2011 kamen 17 Männer und Frauen, die meisten davon Touristen, bei einem Bombenattentat auf ein Café in Marrakesch ums Leben. Niemand übernahm die Verantwortung für den Anschlag, die Behörden schrieben die Tat jedoch Al-Qaida im islamischen Maghreb (AQIM) zu. Die Gruppe wies die Vorwürfe jedoch zurück.
Fünf Männer, die wegen terroristischer Straftaten im Zusammenhang mit dem Fall der Belliraj Cell im Jahr 2009 verurteilt worden waren, kamen im Rahmen einer Generalamnestie am 14. April frei. Der Fall hatte erhebliche juristische Mängel aufgewiesen. Unter anderem hatten die Behörden keine Maßnahmen zur Untersuchung der Foltervorwürfe der Angeklagten eingeleitet.
Die Behörden hatten noch immer keine konkreten Schritte zur Umsetzung der wichtigsten Empfehlungen der marokkanischen Wahrheits- und Versöhnungskommission (Instance Equité et Réconciliation) eingeleitet, welche die Kommission in ihrem Bericht 2005 gegeben hatte. Opfer und Überlebende der schweren Menschenrechtsverletzungen, die zwischen Marokkos Unabhängigkeit 1956 und dem Tod von König Hassan II. 1999 verübt worden waren, hatten weiterhin keinen effektiven Zugang zu rechtlichen Verfahren.
Marokkanische Gerichte verhängten weiterhin Todesurteile. Zuletzt hatte 1993 in Marokko eine Hinrichtung stattgefunden. Im April 2011 wurden im Zuge einer Amnestie des Königs die Todesurteile gegen fünf Männer in Haftstrafen umgewandelt.
Angehörige der Frente Polisario unternahmen nichts gegen die Straffreiheit von Personen, denen Menschenrechtsverstöße in den 1970er und 1980er Jahren in den von der Frente Polisario verwalteten Flüchtlingslagern von Tindouf in der algerischen Region Mhiriz zur Last gelegt werden.
Im Oktober wurden drei Angehörige von Hilfsorganisationen - eine Italienerin, eine Spanierin und ein Spanier - aus einem Polisario-Flüchtlingslager von einer Gruppe Bewaffneter entführt. Sie waren Ende 2011 noch nicht freigelassen worden.
© Amnesty International
Amnesty International Report 2012 - The State of the World's Human Rights (Periodischer Bericht, Englisch)