Amnesty International Report 2012 - The State of the World's Human Rights

Amtliche Bezeichnung: Königreich Marokko
Staatsoberhaupt: König Mohammed VI.
Regierungschef: Abdelilah Benkirane
(löste Abbas El Fassi im November im Amt ab)
Todesstrafe: in der Praxis abgeschafft
Einwohner: 32,3 Mio.
Lebenserwartung: 72,2 Jahre
Kindersterblichkeit: 37,5 pro 1000 Lebendgeburten
Alphabetisierungsrate: 56,1%

Sicherheitskräfte gingen 2011 mit exzessiver Gewalt gegen Demonstrierende vor. Kritiker der Monarchie und anderer staatlicher Einrichtungen sahen sich strafrechtlicher Verfolgung und Inhaftierung ausgesetzt. Dies betraf auch sahrauische Aktivisten, die sich für eine Selbstbestimmung der Westsahara einsetzten. Es gingen weiterhin Berichte über Folter und Misshandlung von Gefangenen ein. Mehrere gewaltlose politische Gefangene und ein Opfer willkürlicher Inhaftierung wurden im Rahmen einer königlichen Amnestie begnadigt. Die Anklagen gegen einige sahrauische Aktivisten wurden jedoch aufrechterhalten. Es gab keine Hinrichtungen.

Hintergrund

Am 20. Februar 2011 demonstrierten Tausende Menschen in Rabat, Casablanca und anderen Städten und verlangten Reformen. Die Kundgebungen waren genehmigt und verliefen überwiegend friedlich. Die Demonstrierenden, die sich schnell zur Bewegung 20. Februar (Mouvement du 20février) zusammenschlossen, forderten mehr Demokratie, eine neue Verfassung, ein Ende der Korruption, bessere wirtschaftliche Bedingungen, bessere Gesundheitsvorsorge und andere Leistungen. Angesichts der anhaltenden Proteste wurde am 3. März ein neuer nationaler Menschenrechtsrat (Conseil National des Droits de l'Homme) gegründet, der den beratenden Menschenrechtsrat (Conseil Consultatif des Droits de l'Homme) ablösen sollte. Am 9. März kündigte der König einen Reformprozess für die Verfassung an, welcher jedoch von den Anführern der Proteste boykottiert wurde. Der Entwurf für eine neue Verfassung wurde per Volksentscheid am 1. Juli bestätigt.

Die neue Verfassung sieht vor, das Recht des Königs, Regierungsbeamte zu ernennen und das Parlament aufzulösen, auf den Ministerpräsidenten zu übertragen. Der König bleibt jedoch Oberbefehlshaber der Armee, Vorsitzender des Ministerrats und höchster religiöser Würdenträger. Weitere Verfassungsänderungen garantieren das Recht auf freie Meinungsäußerung und die Gleichberechtigung von Männern und Frauen. Folter ist fortan strafbar, ebenso wie willkürliche Inhaftierung und Verschwindenlassen. Die islamistische Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (Parti de la Justice et du Développement - PJD) errang bei den Parlamentswahlen am 25. November die Mehrheit der Sitze. Am 29. November nahm eine neue Regierung unter der Führung von Abdelilah Benkirane die Amtsgeschäfte auf.

Im April 2011 nahm Marokko alle seine Vorbehalte gegen das UN-Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) zurück. Die Vorbehalte bezogen sich auf Themen wie die Staatsangehörigkeit von Kindern und Diskriminierung in der Ehe.

Die Regierung kündigte zudem an, die Fakultativprotokolle zum UN-Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung und Strafe sowie zum CEDAW-Übereinkommen zu ratifizieren.

Die Verhandlungen zwischen Marokko und der Frente Polisario um den Status der Westsahara stagnierten 2011. Marokko hatte das Gebiet 1975 annektiert. Die Frente Polisario fordert einen unabhängigen Staat. Der UN-Sicherheitsrat verlängerte am 27. April erneut das Mandat der UN-Mission für einen Volksentscheid in der Westsahara. Das Mandat enthält keine Bestimmungen zur Beobachtung der Menschenrechtslage.

Unterdrückung Andersdenkender

Obwohl die meisten der Protestaktionen für Reformen friedlich verliefen, sollen Sicherheitskräfte bei mehreren Gelegenheiten Demonstrierende angegriffen haben. Mindestens eine Person kam ums Leben, viele weitere wurden verletzt. Hunderte von Protestteilnehmern kamen in Haft. Die meisten wurden wieder freigelassen, aber einige von ihnen mussten sich vor Gericht verantworten und erhielten Freiheitsstrafen. Berichten zufolge schikanierten die Sicherheitskräfte Familienangehörige von Demonstrierenden der Bewegung 20. Februar. Zahlreiche Aktivisten, die zu einem Boykott der Parlamentswahlen aufgerufen hatten, wurden zum Verhör einbestellt.

  • Am 15. Mai 2011 wurden Kundgebungen und Demonstrationen, die von der Bewegung 20. Februar in Rabat, Tanger und Témara organisiert worden waren, von Sicherheitskräften mit Gewalt aufgelöst. Die Sicherheitskräfte schlugen mit Knüppeln auf die Demonstrierenden ein und traktierten sie mit Fußtritten.
  • Am 29. Mai lösten Sicherheitskräfte eine Demonstration der Bewegung 20. Februar in der Stadt Safi unter Einsatz von Gewalt auf. Einer der Aktivisten, Kamel Ammari, starb einige Tage später an den Folgen seiner Verletzungen.
  • Am 20. November stürmten Sicherheitskräfte Berichten zufolge die Geschäftsräume des Marokkanischen Menschenrechtsvereins (Association Marocaine des Droits de l'Homme - AMDH) in der Stadt Bou-Arafa. Mehrere Angestellte sowie junge Menschen, die sich gerade einer Protestkundgebung anschließen wollten, wurden geschlagen.

Recht auf freie Meinungsäußerung

Nach wie vor wurden Journalisten und andere Personen festgenommen und angeklagt, weil sie kritisch über die Monarchie oder staatliche Einrichtungen berichtet oder sich zu Themen geäußert hatten, die von den Behörden als politisch brisant eingestuft wurden.

  • Am 2. März 2011 begnadigte der König den pensionierten hohen Armeeangehörigen Kaddour Terhzaz. Er verbüßte eine Freiheitsstrafe, weil er "Marokkos äußere Sicherheit" bedroht haben soll. In einem Brief an den König hatte er sich über die Situation ehemaliger Piloten der Luftwaffe beschwert.
  • Am 14. April begnadigte der König den Menschenrechtsverteidiger und Journalisten Chekib El Khiari, der zu drei Jahren Gefängnis verurteilt worden war, weil er im Jahr 2009 Korruptionsfälle angeprangert hatte.
  • Am 9. Juni wurde Rachid Nini, der Herausgeber der Tageszeitung al-Massa, zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Die Anklage lautete auf Verbreitung von "falschen Informationen" und "Bedrohung der nationalen Sicherheit". Er war am 28. April festgenommen worden, nachdem er Artikel veröffentlicht hatte, in denen er die Antiterrormaßnahmen der Sicherheitsdienste kritisiert hatte. Sein Urteil wurde im Oktober von einem Berufungsgericht bestätigt.
  • Im Dezember wurde der Kickboxer Zakaria Moumni, der nach einem unfairen Gerichtsverfahren wegen Betrugs ins Gefängnis gekommen war, in einem Wiederaufnahmeverfahren erneut für schuldig befunden und zu 20 Monaten Haft verurteilt. Zakaria Moumni war im September 2010 festgenommen worden, nachdem er Sportverbände in Marokko kritisiert hatte. Er versuchte mehrere Male, eine Audienz beim König zu erhalten. Seine Verurteilung erfolgte aufgrund eines "Geständnisses", das nach seinen Angaben unter Folter zustande gekommen war.
  • Am 9. September wurde der Rapper Mouad Belrhouate festgenommen. Offensichtlich waren einige seiner Songs als Majestätsbeleidigung eingestuft worden. Sein Prozess wurde mehrere Male verschoben, und er befand sich Ende 2011 nach wie vor in Haft.

Unterdrückung Andersdenkender - Sahrauische Aktivisten

Sahrauische Aktivisten, die sich für die Selbstbestimmung der Menschen auf dem Gebiet der Westsahara einsetzten, wurden weiterhin an der Ausübung ihrer Rechte auf freie Meinungsäußerung, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit gehindert. Führenden Aktivisten drohte nach wie vor strafrechtliche Verfolgung.

  • Am 14. April kamen die sahrauischen Aktivisten Ahmed Alnasiri, Brahim Dahane und Ali Salem Tamek auf Kaution frei. Sie waren seit dem 8. Oktober 2009 in Haft gehalten worden. Zusammen mit vier weiteren sahrauischen Männern und Frauen wird ihnen noch immer zur Last gelegt, mit ihren friedlichen Aktionen im Zusammenhang mit der Forderung nach Selbstbestimmung der Westsahara Marokkos "innere Sicherheit" bedroht zu haben.
  • Rund 23 Sahrauis blieben weiterhin im Salé-Gefängnis inhaftiert. Ihnen droht ein unfaires Gerichtsverfahren vor einem Militärgericht, weil man ihnen zur Last legt, Ende 2010 an Gewaltakten im Gdim-Izik-Protestcamp in der Nähe von Laayoune beteiligt gewesen zu sein. Ende Oktober traten die Gefangenen in einen Hungerstreik, um gegen ihre Haftbedingungen und ihre andauernde Haft ohne Anklage oder Gerichtsverfahren zu protestieren. Bis zum Jahresende hatte noch kein Verfahren gegen sie stattgefunden.

Die Ereignisse von Gdim Izik und Laayoune im November 2010 waren im Berichtsjahr nach wie vor nicht durch eine unparteiische und unabhängige Untersuchung geklärt worden. Im November 2010 hatten Sicherheitskräfte ein Protestcamp der Sahrauis zerstört, woraufhin es zu Ausbrüchen von Gewalt kam. Dabei wurden 13 Menschen getötet, darunter auch elf Angehörige der Sicherheitskräfte.

Folter und andere Misshandlungen

Im Jahr 2011 trafen neue Meldungen über Folterungen und andere Misshandlungen von Gefangenen ein, die vor allem von Angehörigen des Geheimdienstes (Direction de la Surveillance du Territoire - DST) begangen wurden. Die Übergriffe richteten sich hauptsächlich gegen vermeintliche Islamisten sowie gegen Angehörige der Bewegung 20. Februar. Häftlinge wurden weiterhin ohne Kontakt zur Außenwelt gehalten, in einigen Fällen sogar über den gesetzlich erlaubten Zeitraum von zwölf Tagen hinaus.

  • Am 16. und 17. Mai kam es zu einem Aufstand von Gefangenen, die wegen terroristischer Straftaten im Salé-Gefängnis inhaftiert waren. Die Häftlinge protestierten damit gegen ihre unfairen Gerichtsverfahren und die Anwendung von Folter im geheimen Haftzentrum von Témara. Bei Zusammenstößen mit dem Gefängnispersonal nahmen die Insassen vorübergehend Geiseln, bis die Gefängnisbehörden scharfe Munition einsetzten, um die Unruhen niederzuschlagen. Mehrere Gefangene wurden verletzt.
  • Ende Mai musste der Deutsch-Marokkaner Mohamed Hajib, der eine zehnjährige Haftstrafe verbüßt, in ein Krankenhaus eingeliefert und behandelt werden. Das Aufsichtspersonal im Toulal-Gefängnis in Meknès, in das er nach den Unruhen im Salé-Gefängnis verlegt worden war, hatte ihn brutal geschlagen und ihm mit Vergewaltigung gedroht.

Antiterrormaßnahmen und Sicherheit

Am 28. April 2011 kamen 17 Männer und Frauen, die meisten davon Touristen, bei einem Bombenattentat auf ein Café in Marrakesch ums Leben. Niemand übernahm die Verantwortung für den Anschlag, die Behörden schrieben die Tat jedoch Al-Qaida im islamischen Maghreb (AQIM) zu. Die Gruppe wies die Vorwürfe jedoch zurück.

  • Gegen Adel Othmani erging im Oktober ein Todesurteil. Er war für schuldig befunden worden, den Bombenanschlag auf das Café in Marrakesch verübt zu haben.

Fünf Männer, die wegen terroristischer Straftaten im Zusammenhang mit dem Fall der Belliraj Cell im Jahr 2009 verurteilt worden waren, kamen im Rahmen einer Generalamnestie am 14. April frei. Der Fall hatte erhebliche juristische Mängel aufgewiesen. Unter anderem hatten die Behörden keine Maßnahmen zur Untersuchung der Foltervorwürfe der Angeklagten eingeleitet.

Übergangsjustiz

Die Behörden hatten noch immer keine konkreten Schritte zur Umsetzung der wichtigsten Empfehlungen der marokkanischen Wahrheits- und Versöhnungskommission (Instance Equité et Réconciliation) eingeleitet, welche die Kommission in ihrem Bericht 2005 gegeben hatte. Opfer und Überlebende der schweren Menschenrechtsverletzungen, die zwischen Marokkos Unabhängigkeit 1956 und dem Tod von König Hassan II. 1999 verübt worden waren, hatten weiterhin keinen effektiven Zugang zu rechtlichen Verfahren.

Todesstrafe

Marokkanische Gerichte verhängten weiterhin Todesurteile. Zuletzt hatte 1993 in Marokko eine Hinrichtung stattgefunden. Im April 2011 wurden im Zuge einer Amnestie des Königs die Todesurteile gegen fünf Männer in Haftstrafen umgewandelt.

Polisario-Flüchtlingslager

Angehörige der Frente Polisario unternahmen nichts gegen die Straffreiheit von Personen, denen Menschenrechtsverstöße in den 1970er und 1980er Jahren in den von der Frente Polisario verwalteten Flüchtlingslagern von Tindouf in der algerischen Region Mhiriz zur Last gelegt werden.

Im Oktober wurden drei Angehörige von Hilfsorganisationen - eine Italienerin, eine Spanierin und ein Spanier - aus einem Polisario-Flüchtlingslager von einer Gruppe Bewaffneter entführt. Sie waren Ende 2011 noch nicht freigelassen worden.

Amnesty International: Berichte

Verknüpfte Dokumente