Amnesty International Report 2015/16 - The State of the World's Human Rights - Venezuela

 

Menschenrechtsverteidiger und Journalisten waren weiterhin Angriffen und Einschüchterungsversuchen ausgesetzt. Politische Gegner der Regierung wurden in unfairen Verfahren vor Gericht gestellt und inhaftiert. Es gab nach wie vor Berichte über die Anwendung exzessiver Gewalt durch die Sicherheitskräfte, welche zahlreiche Todesopfer zur Folge hatte. Die Umstände, unter denen einige dieser Personen ums Leben kamen, deuten darauf hin, dass es sich um außergerichtliche Hinrichtungen gehandelt haben könnte. Die meisten der Verantwortlichen für die bei den Protesten im Jahr 2014 verübten schweren Menschenrechtsverletzungen wurden nicht vor Gericht gestellt, und es gab Zweifel an der Unabhängigkeit der Justiz. Kolumbianische Flüchtlinge und Asylsuchende wurden abgeschoben, aus ihren Unterkünften vertrieben und misshandelt. In den Gefängnissen herrschten weiterhin Überbelegung und Gewalt. Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt standen beim Zugang zur Justiz vor hohen Hürden.

Hintergrund

Bei den Parlamentswahlen im Dezember 2015 errang das Wahlbündnis Mesa de la Unidad Democrática zwei Drittel der Gesamtzahl der Sitze.

Im Juli 2015 wurde der Entwurf für einen Nationalen Menschenrechtsplan veröffentlicht und allen Sektoren der Gesellschaft zur Konsultation vorgelegt. Er enthält Vorschläge zur Reform des Justizwesens, des Strafvollzugssystems und der Sicherheitskräfte wie auch Vorschläge zur Beendigung der Diskriminierung und Verbesserung der Rechte von schutzbedürftigen Gruppen wie indigene und afro-venezolanische Gemeinschaften, Frauen, Kinder, Hausangestellte sowie Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgeschlechtliche und Intersexuelle (LGBTI). Zum Ende des Jahres war die Konsultation noch nicht abgeschlossen.

Die im Jahr 2012 von Venezuela getroffene Entscheidung, sich aus der Gerichtsbarkeit des Interamerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte zurückzuziehen, führte auch weiterhin dazu, dass Opfern von Menschenrechtsverletzungen und ihren Angehörigen der Zugang zur Justiz versperrt blieb, wenn ihre Rechte auf nationaler Ebene nicht geschützt waren.

Die Einmischung höchstrangiger Regierungsbeamter in das Justizwesen weckte Zweifel daran, dass sie sich der Unabhängigkeit der Justiz und Rechtsstaatlichkeit verpflichtet fühlten. Die Tatsache, dass sich 60 % der Richter in befristeten Beschäftigungsverhältnissen befanden, gab Anlass zu der Befürchtung, dass sie sich durch politischen Druck beeinflussen lassen könnten.

Meinungsfreiheit

Im Juni 2015 wies der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte Venezuela an, die dem privaten Fernsehsender Radio Caracas Televisión (RCTV) im Jahr 2007 entzogene Sendelizenz zu erneuern. Bis zum Jahresende hatten die Behörden das Urteil noch nicht umgesetzt.

Eigentümer von Medienunternehmen sowie Journalisten, die den Behörden kritisch gegenüberstanden, liefen Gefahr, wegen Verleumdung angeklagt, angegriffen und eingeschüchtert zu werden.

Menschenrechtsverteidiger

Menschenrechtsverteidiger wurden angegriffen und eingeschüchtert.
Hochrangige Repräsentanten des Staates, unter ihnen Präsident Nicolás Maduro und der Präsident der Nationalversammlung (Asamblea Nacional), beschuldigten im Fernsehen namentlich genannte Menschenrechtsverteidiger, den Ruf des Landes zu verunglimpfen und die Regierung zu destabilisieren. Mehrere Menschenrechtler wurden daraufhin drangsaliert. So wurden z. B. im März 2015 Marco Antonio Ponce von der Venezolanischen Beobachtungsstelle sozialer Konflikte (Observatorio Venezolano de Conflictividad Social) und elf weitere Menschenrechtsverteidiger am Flughafen Caracas von Unbekannten verfolgt, fotografiert und gefilmt, als sie von einer Reise zurückkamen, deren Ziel es war, der Interamerikanischen Menschenrechtskommission ihre Einschätzung der Menschenrechtslage in Venezuela vorzutragen.
Im April 2015 wurde der Menschenrechtsverteidiger und Dozent des Zentrums für Menschenrechte an der Katholischen Universität Andrés Bello, Carlos Lusverti, zum zweiten Mal innerhalb von 15 Monaten angeschossen. Offenbar handelte es sich um einen versuchten Raubüberfall.

Im Oktober 2015 wurden Marino Alvarado Betancourt von der Menschenrechtsorganisation PROVEA (Programa Venezolano de Educación y Acción en Derechos Humanos) und sein neunjähriger Sohn von drei bewaffneten Männern in ihrem Haus angegriffen und ausgeraubt.

Im April 2015 bedrohten zwei bewaffnete Männer Víctor Martínez vor seinem Haus in Barquisimeto im Bundesstaat Lara. Er war aktiver Teilnehmer einer Kampagne, die sich gegen Korruption und die von der Polizei des Bundesstaates Lara verübten Menschenrechtsverletzungen richtete. Der Angriff war offensichtlich eine Reaktion auf seine Kritik an der Polizei. Zum Zeitpunkt des Vorfalls befand sich Víctor Martínez aufgrund vorheriger Übergriffe bereits in einer Situation, in der er zwar unter Polizeischutz stand, ihm dieser aber seinen Angaben zufolge nur sporadisch tatsächlich zuteil wurde.

Exzessive Gewaltanwendung

Im Januar 2015 erließ das Verteidigungsministerium die Verordnung 008 610, die es ermöglichte, alle Teile der Streitkräfte bei Einsätzen zur öffentlichen Sicherheit einzusetzen. Auf Grundlage der Verordnung konnte zudem der Gebrauch von Schusswaffen während der polizeilichen Überwachung von öffentlichen Protestveranstaltungen autorisiert werden. Die Verordnung ließ aber die klare Aussage vermissen, dass der exzessive Einsatz von Gewalt bei solchen Operationen nicht toleriert wird.

Es gab weiterhin Berichte über unverhältnismäßige Gewaltanwendung seitens der Sicherheitskräfte. Im Bundesstaat Táchira wurde der 14-jährige Kluiberth Roa Núñez von einem Gummigeschoss der Sicherheitskräfte getötet, als er sich in der Nähe einer Protestkundgebung aufhielt.

Willkürliche Inhaftierungen

Im September 2015 wurde Leopoldo López Mendoza, ein gewaltloser politischer Gefangener und führendes Mitglied der Oppositionspartei Voluntad Popular (Wille des Volkes), wegen Verabredung zu einer Straftat, Aufwiegelung, Brandstiftung und Beschädigung öffentlichen Eigentums während der Proteste im Jahr 2014 verurteilt. Er erhielt eine Haftstrafe von 13 Jahren und neun Monaten. Es lagen keine glaubwürdigen Beweise für die gegen ihn erhobenen Anklagepunkte vor, und auch die von den Behörden vor dem Urteil gemachten öffentlichen Erklärungen zu seinem Fall waren haltlos. Präsident Maduro hatte noch vor Verfahrensende die Inhaftierung von Leopoldo López gefordert und damit in schwerwiegender Weise dessen Recht auf ein faires Verfahren untergraben.

Im Januar 2015 wurde Rosmit Mantilla, ein Mitglied der Oppositionspartei Voluntad Popular und Verfechter der Rechte von LGBTI, u. a. wegen Aufwiegelung, Brandstiftung und Verabredung zu einer Straftat während der Proteste im Jahr 2014 angeklagt, obwohl keine stichhaltigen Beweise für die ihm zur Last gelegten Straftaten vorlagen. Zum Jahresende befand er sich noch immer in Untersuchungshaft.

Im März 2015 wurden Emilio Baduel Cafarelli und Alexander Tirado Lara zu jeweils acht Jahren Haft verurteilt. Sie waren der Aufwiegelung, der Störung der öffentlichen Ordnung durch Einsatz von Sprengkörpern und der Verabredung zu einer Straftat während der Proteste im Jahr 2014 für schuldig befunden worden. Die Staatsanwaltschaft legte keine Beweise zur Untermauerung der Anklagen vor, und der Richter ließ gerichtsmedizinische Beweise außer Acht, die belegten, dass die beiden Männer weder mit einem Sprengkörper noch mit brennbaren Substanzen in Berührung gekommen waren.

Flüchtlinge und Asylsuchende

Im August 2015 wurden fast 2000 kolumbianische Staatsbürger, unter ihnen auch Flüchtlinge und Asylsuchende, innerhalb weniger Tage abgeschoben. Ihnen war keine Möglichkeit eingeräumt worden, Rechtsmittel gegen ihre Abschiebung einzulegen oder ihr Hab und Gut mitzunehmen. In einigen Fällen wurden Kinder von ihren Eltern getrennt. Zahlreiche Personen wurden Opfer von rechtswidrigen Zwangsräumungen oder mussten mit ansehen, wie ihre Häuser zerstört wurden. Einige wurden in Gewahrsam misshandelt.

Die Abschiebungen waren eine Reaktion auf den Tod von drei Beamten und einer Zivilperson im Zusammenhang mit Sicherheits- und Antischmuggel-Operationen in der Grenzregion zu Kolumbien. Zum Jahresende war in neun Verwaltungsbezirken des grenznahen Bundesstaates Táchira der Ausnahmezustand ausgerufen worden, und in den Bundesstaaten Zulia, Táchira und Apure sowie in Teilen des Bundesstaates Amazonas blieben die Grenzen geschlossen.

Polizei und Sicherheitskräfte

Obwohl keine neuen offiziellen Daten vorlagen, meldete die NGO Observatorio Venezolano de Violencia, dass das Land die zweithöchste Mordrate in der Region aufwies.

Im Juli 2015 führten die Sicherheitskräfte den Großeinsatz Operación de Liberación y Protección del Pueblo (Operation zur Befreiung und zum Schutz des Volkes) durch, um gegen die hohe Kriminalitätsrate vorzugehen. In der Folge trafen Berichte ein, wonach mutmaßliche Straftäter und deren Familien Opfer möglicher außergerichtlicher Hinrichtungen, exzessiver Gewaltanwendung, willkürlicher Festnahmen und Zwangsräumungen geworden waren.

Nach Angaben des Justizministeriums waren einen Monat nach Beginn dieser Operation 52 Zivilpersonen bei bewaffneten Zusammenstößen mit den Sicherheitskräften getötet worden. Da eine große Anzahl von Zivilpersonen zu Tode gekommen war, hingegen kein Polizist Verletzungen erlitten hatte oder getötet wurde, lag die Vermutung nahe, dass die Sicherheitskräfte exzessive Gewalt angewandt oder außergerichtliche Hinrichtungen verübt hatten.

Menschenrechtsorganisationen zufolge wurden 90 % der mehr als 4000 Personen, die während der ersten drei Monate der Operation festgenommen worden waren, anschließend ohne Anklage wieder freigelassen. Dies lässt den Schluss zu, dass es eine hohe Anzahl willkürlicher Festnahmen gegeben hatte.

Im August 2015 sollen die Sicherheitskräfte in einer südlich von Valencia im Bundesstaat Carabobo gelegenen Gemeinde alle über 15-jährigen männlichen Bewohner festgenommen und alle Häuser zerstört haben, wodurch mindestens 200 Familien obdachlos wurden.

Straflosigkeit

Es gab nur geringe Fortschritte bezüglich der strafrechtlichen Verfolgung derer, die für die Tötung von 43 Personen - unter ihnen auch Angehörige der Sicherheitskräfte - und die Misshandlung von Teilnehmern der Proteste im Jahr 2014 verantwortlich waren. Im Februar 2015 liefen nach Angaben der Staatsanwaltschaft 238 Ermittlungsverfahren, doch nur in 13 Fällen war Anklage erhoben worden.

Für die Tötung von acht Mitgliedern der Familie Barrios und die Bedrohung und Einschüchterung anderer Mitglieder dieser Familie im Bundesstaat Aragua seit 1998 ist auch 2015 niemand vor Gericht gestellt worden.

Haftbedingungen

Trotz mehrerer Reformen seit dem Jahr 2013 waren die Gefängnisse weiterhin überbelegt. Laut Angaben der Venezolanischen Beobachtungsstelle für die Gefängnisse (Observatorio Venezolano de Prisiones - OVP) waren in den Hafteinrichtungen des Landes im Durchschnitt mehr als dreimal so viele Häftlinge untergebracht wie eigentlich vorgesehen. Angesichts dieser Situation waren die Gefängnisbehörden nicht in der Lage, die Rechte der Häftlinge - z. B. auf Gesundheit und körperliche Unversehrtheit - zu garantieren. Regelmäßig fanden Aufstände und Proteste statt, u. a. auch Selbstverletzungen, um bessere Haftbedingungen zu erreichen. Die OVP meldete über 1200 Fälle von Selbstverletzungen während der ersten sechs Monate des Jahres 2015. Zudem berichtete die Beobachtungsstelle, dass im selben Zeitraum als Folge von gewalttätigen Auseinandersetzungen in den Gefängnissen 109 Insassen getötet und mindestens 30 verletzt worden waren. Die große Anzahl von Waffen in den Hafteinrichtungen gab nach wie vor Anlass zu Besorgnis.

Gewalt gegen Frauen und Mädchen

Die Umsetzung der im Jahr 2007 erlassenen gesetzlichen Bestimmungen, die geschlechtsspezifische Gewalt als Straftat definiert hatten, verlief aufgrund von Ressourcenmangel weiterhin nur schleppend. Bis zum Jahresende 2015 waren Rechtshilfe und Zugang zur Justiz nicht vorhanden sowie andere wirksame Schutzmaßnahmen wie die Einrichtung von speziellen Anlaufstellen nicht verwirklicht worden.

Statistiken der Staatsanwaltschaft zeigten, dass im Jahr 2014 mehr als 70 000 Anzeigen wegen geschlechtsspezifischer Gewalt eingegangen waren, von denen weniger als 1 % vor Gericht gebracht wurde. Laut Angaben von Frauenrechtsorganisationen kam es in 96 % der Fälle, die vor Gericht verhandelt wurden, nicht zu einer Verurteilung.

Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgeschlechtlichen und Intersexuellen

LGBTI-Organisationen drückten ihre Besorgnis über tiefverwurzelte Diskriminierung aus. Es trafen nach wie vor Berichte über Gewalt gegen LGBTI ein. Die dafür Verantwortlichen wurden nur selten zur Rechenschaft gezogen, da Beschwerden weder Ermittlungen noch strafrechtliche Verfolgung nach sich zogen.

Hassverbrechen wegen der sexuellen Orientierung, Geschlechtsidentität oder Ausdruck der Geschlechtlichkeit waren nicht als eigenständiger Straftatbestand definiert.

Sexuelle und reproduktive Rechte

Der Zugang zu Verhütungsmitteln, auch zur Notfallverhütung, war eingeschränkt und im Allgemeinen nur den Personen zugänglich, die die nötigen finanziellen Mittel aufbringen konnten. Mit Ausnahme von Fällen, in denen das Leben der Frau oder des Mädchens gefährdet war, galten Schwangerschaftsabbrüche als Straftat.

Nach Angaben eines im Jahr 2015 veröffentlichten Berichts der Weltgesundheitsorganisation war die Müttersterblichkeit auf 110 von 100 000 Lebendgeburten angestiegen. Sie war deutlich höher als in anderen Ländern der Region, in denen die Müttersterblichkeit durchschnittlich bei 63 pro 100 000 Lebendgeburten lag.

Rechte indigener Bevölkerungsgruppen

Es gab keine gesetzliche Vorschrift zur Sicherung und Regelung der Konsultation indigener Bevölkerungsgruppen in Angelegenheiten, die ihre Lebensgrundlage betrafen. Personen und Organisationen, die die Rechte der indigenen Bevölkerungsgruppen verteidigten, berichteten, dass die Behörden das Recht auf freiwillige und vorherige Zustimmung nach Inkenntnissetzung bei der Vergabe von Lizenzen zur Ausbeutung natürlicher Ressourcen auf indigenen Territorien nicht respektierten.

Kritik rief der langsame Fortschritt bei der im Jahr 2011 begonnenen Demarkierung der Territorien indigener Bevölkerungsgruppen hervor. Schätzungen zufolge waren bis zum Jahresende 2015 lediglich 12 % der indigenen Territorien demarkiert worden.

Amnesty International: Berichte

 

             

 

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