Dokument #1107662
AI – Amnesty International (Autor)
Die Vorwürfe wegen polizeilicher Misshandlungen rissen auch 2010 nicht ab, während die Ermittlungen in diesen Fällen nur schleppende Fortschritte machten. Ein Gesetzentwurf über Migration und Asyl war unvereinbar mit dem Recht, Asyl zu beantragen. Der Verfassungsrat (Conseil constitutionnel) stellte fest, dass die Bestimmungen über Haft vor der Anklageerhebung für gewöhnliche Straftaten verfassungswidrig waren. Roma und Fahrende waren stigmatisiert und wurden zu Opfern von Zwangsräumungen und Vertreibungen.
In seinen abschließenden Bemerkungen am 14. Mai 2010 äußerte sich der UN-Ausschuss gegen Folter besorgt hinsichtlich der anhaltenden Beschwerden über Misshandlungen durch französische Polizeibeamte und drängte die Behörden, schnelle, nachvollziehbare und unabhängige Ermittlungen in Bezug auf solche Vorwürfe einzuleiten sowie angemessene Strafen gegen die Täter zu verhängen.
Ermittlungen in Bezug auf Todesfälle in Gewahrsam schienen 2010 weder unabhängig noch unparteiisch zu verlaufen und machten nur schleppende Fortschritte.
Am 26. Februar 2010 ordnete das Kassationsgericht die Wiederaufnahme eines Verfahrens wegen mit Terrorismus in Zusammenhang stehender Straftaten gegen fünf französische Staatsbürger an, die in Guantánamo Bay inhaftiert und 2004 bzw. 2005 nach Frankreich überstellt worden waren. Im Februar 2009 hatte das Pariser Berufungsgericht eine Verurteilung des Pariser Strafgerichts wegen "krimineller Vereinigung in Bezug auf ein terroristisches Vorhaben" aufgehoben, weil das Strafgericht widerrechtlich vom französischen Geheimdienst beschaffte Informationen benutzt hatte, die Verhören aus der Haftzeit der Männer in Guantánamo Bay entstammten.
Im Juli 2010 annullierte der Staatsrat (Conseil d'État), das oberste Verwaltungsgericht des Landes, teilweise die Entscheidung der Behörde für den Schutz von Flüchtlingen und Staatenlosen (OFPRA), die bei der Überprüfung von Asylanträgen 17 Länder als "sicher" eingestuft hatte. Von Asylsuchenden aus "sicheren" Ländern eingereichte Asylanträge werden anhand eines beschleunigten Verfahrens bearbeitet, dem zufolge Asylsuchende abgeschoben werden können, ohne dass ihr Antrag geprüft wird. Der Staatsrat entschied, dass Armenien, Madagaskar und die Türkei nicht die nötigen Menschenrechtskriterien erfüllten, um auf der Liste der "sicheren" Herkunftsländer zu stehen, und erachtete Mali als sicher für Männer, aber nicht für Frauen.
Ein Gesetzentwurf über Migration und Asyl, der seit September im Parlament debattiert wurde, wäre unvereinbar mit internationalen Menschenrechtsstandards. Unter dem Gesetz würden Gruppen von zehn oder mehr Migranten ohne regulären Aufenthaltsstatus, die in der Nähe der französischen Grenze abgefangen werden, in einer "Transitzone" zwischen dem Ort der Festnahme und der Grenze festgesetzt. Ihre Anträge, das restliche Frankreich zu betreten und dort Asyl zu beantragen, würden überprüft werden. Sollten diese als "offensichtlich unbegründet" erachtet werden, würden die Betroffenen in ihr Herkunftsland zurückgeführt und hätten nur 48 Stunden Zeit, um die Entscheidung anzufechten.
Im Juni begann der Senat über den Gesetzentwurf zu Mandat und Befugnissen der neuen Institution des Hüters der Menschenrechte (Défenseur des droits) zu beraten. Unter deren Dach sollen die CNDS, die Ombudsperson für Kinder, die Nationale Ombudsperson, die Hohe Behörde zum Kampf gegen Diskriminierung und für Gleichheit (Haute autorité de lutte contre les discriminations et pour l'égalité) sowie das Amt des Generalkontrolleurs für Orte des Freiheitsentzugs (Contrôleur général des lieux de privation de liberté) zusammengefasst werden. Es gab Befürchtungen, dass dies zu einem Verlust der Fachkompetenz und der Unabhängigkeit dieser Institutionen führen würde.
Am 30. Juli 2010 entschied das französische Verfassungsgericht (Conseil constitutionnel), dass das Gesetz über die Haft vor der Anklageerhebung (garde à vue) verfassungswidrig ist, weil es den Inhaftierten nicht das Recht auf Verteidigung garantiert, wie etwa wirksamen Beistand durch einen Anwalt sowie die Unterrichtung über das Recht zu schweigen. Das Gericht legte in seiner Entscheidung indes fest, dass das Gesetz bis zum 1. Juli 2011 in Kraft bleiben solle. Noch strengere Bestimmungen, anwendbar auf Personen, die verdächtigt werden, an terrorismusähnlichen Handlungen, schwerem organisiertem Verbrechen oder Drogenhandel beteiligt zu sein, wurden nicht vom Verfassungsgericht überprüft.
Ein späterer Vorschlag zur Veränderung des Systems der Haft vor der Anklageerhebung, der nicht sämtliche menschenrechtlichen Bedenken ausräumen konnte, wurde im Oktober von der Regierung verabschiedet. Wenige Tage später entschied das Kassationsgericht, dass das gesamte System der Haft vor der Anklageerhebung ungesetzlich sei, einschließlich der Bestimmungen für Personen, die verdächtigt werden, an terrorismusähnlichen Handlungen, schwerem organisiertem Verbrechen oder Drogenhandel beteiligt zu sein.
Roma und Fahrende wurden von Regierungsvertretern stigmatisiert. Bei einem Ministertreffen im Juli zur Diskussion über "die Probleme im Zusammenhang mit dem Verhalten gewisser Roma und Fahrender" bezog sich Staatspräsident Nicolas Sarkozy auf von Roma bewohnte "illegale Lager" als Brutstätten der Kriminalität und forderte die Regierung auf, diese Lager binnen dreier Monate aufzulösen. Am 5. August 2010 wies das Innenministerium die Präfekten an, "illegale Lager" systematisch aufzulösen, wobei den von Roma bewohnten Lagern ausdrücklich Priorität eingeräumt wurde, sowie für "die unverzügliche Abschiebung von Ausländern ohne regulären Aufenthaltsstatus" zu sorgen. Nach der Verbreitung durch die Medien wurde die Anweisung zurückgezogen und am 13. September durch eine zweite ersetzt, die "alle illegalen Siedlungen, egal, wer sie bewohnt", einbezieht. Indes blieben Befürchtungen bestehen, dass Roma ausgegrenzt und zu Opfern von Zwangsräumungen und Vertreibungen werden könnten. Im September legte die Regierung dem Parlament einen Gesetzesvorschlag vor, mit dem die Ausweisung von Ausländern erleichtert werden soll, eingeschlossen auch EU-Bürger, die "ihr Recht auf einen kurzen Aufenthalt missbrauchen", indem sie Frankreich immer wieder verlassen und neu einreisen.
Im August äußerte sich der UN-Ausschuss für die Beseitigung von Rassendiskriminierung (CERD) besorgt über diskriminierende politische Reden. Er äußerte auch Besorgnis in Bezug auf die Zunahme rassistischer Gewalt gegen Roma und die Schwierigkeiten, mit denen Fahrende konfrontiert sind, wenn sie ihr Recht auf Freizügigkeit und ihr Wahlrecht ausüben wollen sowie hinsichtlich ihres Zugangs zu Bildung und angemessenem Wohnraum.
Im Oktober entschied das Verfassungsgericht, dass ein im September vom Parlament verabschiedetes Gesetz, welches in der Öffentlichkeit das Tragen von Kleidung verbietet, die das Gesicht verdeckt, die Persönlichkeitsrechte nicht unverhältnismäßig einschränkt. Daneben stellte es indes auch fest, dass das Verbot nicht für öffentliche Gotteshäuser gelten könne. Das Gesetz gab Anlass zu Befürchtungen, dass das Verbot die Rechte auf freie Meinungsäußerung und Religion von Frauen verletzen könnte, die die Burka oder den Nikab als Ausdruck ihrer Identität oder ihres Glaubens tragen wollen.
Vertreterinnen von Amnesty International besuchten Frankreich im September und Oktober.
France: Briefing to the UN Committee against Torture, April 2010 (EUR 21/002/2010)
© Amnesty International
Amnesty International Report 2011 - The State of the World's Human Rights (Periodischer Bericht, Englisch)
Amnesty International Report 2011 - Zur weltweiten Lage der Menschenrechte (Periodischer Bericht, Deutsch)