Amnesty International Report 2011 - Zur weltweiten Lage der Menschenrechte

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Amnesty Report 2011

Frankreich


Amtliche Bezeichnung: Französische Republik
Staatsoberhaupt: Nicolas Sarkozy
Regierungschef: François Fillon
Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft
Einwohner: 62,6 Mio.
Lebenserwartung: 81,6 Jahre
Kindersterblichkeit (m/w): 5/4 pro 1000 Lebendgeburten

Die Vorwürfe wegen polizeilicher Misshandlungen rissen auch 2010 nicht ab, während die Ermittlungen in diesen Fällen nur schleppende Fortschritte machten. Ein Gesetzentwurf über Migration und Asyl war unvereinbar mit dem Recht, Asyl zu beantragen. Der Verfassungsrat (Conseil constitutionnel) stellte fest, dass die Bestimmungen über Haft vor der Anklageerhebung für gewöhnliche Straftaten verfassungswidrig waren. Roma und Fahrende waren stigmatisiert und wurden zu Opfern von Zwangsräumungen und Vertreibungen.

Folter und andere Misshandlungen

In seinen abschließenden Bemerkungen am 14. Mai 2010 äußerte sich der UN-Ausschuss gegen Folter besorgt hinsichtlich der anhaltenden Beschwerden über Misshandlungen durch französische Polizeibeamte und drängte die Behörden, schnelle, nachvollziehbare und unabhängige Ermittlungen in Bezug auf solche Vorwürfe einzuleiten sowie angemessene Strafen gegen die Täter zu verhängen.

  • Am 4. November stellte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte fest, dass Frankreich im Fall Darraj vs. Frankreich das in der Europäischen Menschenrechtskonvention verankerte Verbot von Folter und anderen Misshandlungen verletzt hatte. Im Juli 2001 war Yassine Darraj, ein 16-jähriger französischer Staatsbürger, zur Überprüfung seiner Identität auf eine Polizeiwache gebracht worden. Dort hatten Polizisten ihm Handschellen angelegt und Gewalt zugefügt, mit der Folge, dass er sich einer Notoperation unterziehen musste und 21 Tage lang arbeitsunfähig war. Das Gericht entschied, dass die Strafe von 800 Euro wegen "fahrlässiger Körperverletzung", zu der die beiden Polizisten in einem Berufungsverfahren verurteilt worden waren, unangemessen war.

Tod in Gewahrsam

Ermittlungen in Bezug auf Todesfälle in Gewahrsam schienen 2010 weder unabhängig noch unparteiisch zu verlaufen und machten nur schleppende Fortschritte.

  • Am 17. Mai forderte die Nationale Kommission für Ethik in Sicherheitsfragen (Commission Nationale de Déontologie de la Sécurité - CNDS) Disziplinarmaßnahmen gegen die Polizeibeamten einzuleiten, die nach der Festnahme des 69-jährigen Algeriers Ali Ziri am 9. Juni 2009 in Argenteuil dem Vernehmen nach unverhältnismäßige Gewalt gegen diesen angewandt hatten. Ali Ziri war mit seinem Freund Arezki Kerfali in dessen Auto unterwegs, als sie von der Polizei angehalten wurden. Arezki Kerfali sagte aus, die Polizisten hätten sie geschlagen. Anschließend wurden beide Männer in ein Krankenhaus gebracht, wo Ali Ziri verstarb. Arezki Kerfali wurde beschuldigt, einen Polizeibeamten beleidigt zu haben. Daraufhin setzte man für den 24. Juni eine Verhandlung an, die jedoch vertagt wurde, da noch keine Entscheidung im Fall Ali Ziri ergangen war.
  • Im Fall von Abou Bakari Tandia, der im Januar 2005 infolge von im Polizeigewahrsam erlittenen Verletzungen ums Leben gekommen war, befragte der ermittelnde Richter im März drei Rechtsmediziner. Sie hatten im Juli 2009 einen Bericht veröffentlicht, welcher der polizeilichen Version der Ereignisse widersprach. Die Ärzte hatten festgestellt, dass es zwischen Abou Bakari Tandia und den an seiner Festnahme beteiligten Polizeibeamten zu einer Auseinandersetzung gekommen war. Diese Feststellung ließ die Behauptung der Polizisten, seine Verletzungen seien dadurch entstanden, dass er sich selbst gegen die Wände seiner Zelle geworfen habe, noch fragwürdiger erscheinen. Im November befragte der zuständige Richter die Polizeibeamten als Zeugen des Vorfalls.
  • Im September hob das Berufungsgericht Aix-en-Provence die Entscheidung der Ermittlungsrichter auf, die Ermittlungen gegen zwei Polizeibeamte einzustellen, welche der fahrlässigen Tötung von Abdelhakim Ajimi verdächtigt werden. Abdelhakim Ajimi kam ums Leben, nachdem er im Zuge seiner Festnahme im Mai 2008 von der Polizei fixiert worden war. Im April hatte die CNDS Disziplinarmaßnahmen gegen die Polizeibeamten wegen unverhältnismäßiger und unnötiger Gewaltanwendung empfohlen.
  • Über ein Jahr nach Beginn der strafrechtlichen Ermittlungen wegen der "fahrlässigen Tötung" von Mohamed Boukrourou waren die an seiner Festnahme beteiligten Polizisten noch immer nicht vernommen worden, und es waren auch keine Disziplinarmaßnahmen gegen sie eingeleitet worden. Am 12. November 2009 hatten vier Polizeibeamte Mohamed Boukrourou nach einer Auseinandersetzung in der Apotheke in seinem Viertel festgenommen, ihm Handschellen angelegt und ihn aufgefordert, sie zu begleiten. Zeugen sagten aus, die Polizisten hätten ihn auf seine Weigerung hin aus der Apotheke gezerrt und in ihren Transporter geworfen, wo er geschlagen und getreten wurde. Kaum zwei Stunden später war er tot. Seinen Angehörigen zufolge, die den Leichnam gesehen hatten, war sein Gesicht bedeckt von Blutergüssen, die Lippe geplatzt und eine Wange aufgerissen. Zwei rechtsmedizinische Gutachten, von denen eines im November 2009 auf Anordnung der Staatsanwaltschaft erstellt wurde und eines im Juni 2010 auf Betreiben seiner Angehörigen, registrierten Verletzungen an seinem Körper, die von Schlägen herrühren könnten, und gaben Herzversagen als wahrscheinliche Todesursache an. Beide Gutachter forderten weitere medizinische Untersuchungen, um die Umstände seines Todes aufzuklären, doch deren Ergebnisse waren bis Ende des Jahres noch nicht bekanntgeworden. Die CNDS und die Generalinspektion der Nationalpolizei hatten ihrerseits im November 2009 bzw. im Dezember 2009 Ermittlungen eingeleitet, die jeweils noch andauerten.

Guantánamo-Häftlinge

Am 26. Februar 2010 ordnete das Kassationsgericht die Wiederaufnahme eines Verfahrens wegen mit Terrorismus in Zusammenhang stehender Straftaten gegen fünf französische Staatsbürger an, die in Guantánamo Bay inhaftiert und 2004 bzw. 2005 nach Frankreich überstellt worden waren. Im Februar 2009 hatte das Pariser Berufungsgericht eine Verurteilung des Pariser Strafgerichts wegen "krimineller Vereinigung in Bezug auf ein terroristisches Vorhaben" aufgehoben, weil das Strafgericht widerrechtlich vom französischen Geheimdienst beschaffte Informationen benutzt hatte, die Verhören aus der Haftzeit der Männer in Guantánamo Bay entstammten.

Flüchtlinge und Asylsuchende

Im Juli 2010 annullierte der Staatsrat (Conseil d'État), das oberste Verwaltungsgericht des Landes, teilweise die Entscheidung der Behörde für den Schutz von Flüchtlingen und Staatenlosen (OFPRA), die bei der Überprüfung von Asylanträgen 17 Länder als "sicher" eingestuft hatte. Von Asylsuchenden aus "sicheren" Ländern eingereichte Asylanträge werden anhand eines beschleunigten Verfahrens bearbeitet, dem zufolge Asylsuchende abgeschoben werden können, ohne dass ihr Antrag geprüft wird. Der Staatsrat entschied, dass Armenien, Madagaskar und die Türkei nicht die nötigen Menschenrechtskriterien erfüllten, um auf der Liste der "sicheren" Herkunftsländer zu stehen, und erachtete Mali als sicher für Männer, aber nicht für Frauen.
Ein Gesetzentwurf über Migration und Asyl, der seit September im Parlament debattiert wurde, wäre unvereinbar mit internationalen Menschenrechtsstandards. Unter dem Gesetz würden Gruppen von zehn oder mehr Migranten ohne regulären Aufenthaltsstatus, die in der Nähe der französischen Grenze abgefangen werden, in einer "Transitzone" zwischen dem Ort der Festnahme und der Grenze festgesetzt. Ihre Anträge, das restliche Frankreich zu betreten und dort Asyl zu beantragen, würden überprüft werden. Sollten diese als "offensichtlich unbegründet" erachtet werden, würden die Betroffenen in ihr Herkunftsland zurückgeführt und hätten nur 48 Stunden Zeit, um die Entscheidung anzufechten.

Entwicklungen in Justiz, Verfassung und Institutionen

Im Juni begann der Senat über den Gesetzentwurf zu Mandat und Befugnissen der neuen Institution des Hüters der Menschenrechte (Défenseur des droits) zu beraten. Unter deren Dach sollen die CNDS, die Ombudsperson für Kinder, die Nationale Ombudsperson, die Hohe Behörde zum Kampf gegen Diskriminierung und für Gleichheit (Haute autorité de lutte contre les discriminations et pour l'égalité) sowie das Amt des Generalkontrolleurs für Orte des Freiheitsentzugs (Contrôleur général des lieux de privation de liberté) zusammengefasst werden. Es gab Befürchtungen, dass dies zu einem Verlust der Fachkompetenz und der Unabhängigkeit dieser Institutionen führen würde.
Am 30. Juli 2010 entschied das französische Verfassungsgericht (Conseil constitutionnel), dass das Gesetz über die Haft vor der Anklageerhebung (garde à vue) verfassungswidrig ist, weil es den Inhaftierten nicht das Recht auf Verteidigung garantiert, wie etwa wirksamen Beistand durch einen Anwalt sowie die Unterrichtung über das Recht zu schweigen. Das Gericht legte in seiner Entscheidung indes fest, dass das Gesetz bis zum 1. Juli 2011 in Kraft bleiben solle. Noch strengere Bestimmungen, anwendbar auf Personen, die verdächtigt werden, an terrorismusähnlichen Handlungen, schwerem organisiertem Verbrechen oder Drogenhandel beteiligt zu sein, wurden nicht vom Verfassungsgericht überprüft.
Ein späterer Vorschlag zur Veränderung des Systems der Haft vor der Anklageerhebung, der nicht sämtliche menschenrechtlichen Bedenken ausräumen konnte, wurde im Oktober von der Regierung verabschiedet. Wenige Tage später entschied das Kassationsgericht, dass das gesamte System der Haft vor der Anklageerhebung ungesetzlich sei, einschließlich der Bestimmungen für Personen, die verdächtigt werden, an terrorismusähnlichen Handlungen, schwerem organisiertem Verbrechen oder Drogenhandel beteiligt zu sein.

Rassismus und Diskriminierung

Roma und Fahrende wurden von Regierungsvertretern stigmatisiert. Bei einem Ministertreffen im Juli zur Diskussion über "die Probleme im Zusammenhang mit dem Verhalten gewisser Roma und Fahrender" bezog sich Staatspräsident Nicolas Sarkozy auf von Roma bewohnte "illegale Lager" als Brutstätten der Kriminalität und forderte die Regierung auf, diese Lager binnen dreier Monate aufzulösen. Am 5. August 2010 wies das Innenministerium die Präfekten an, "illegale Lager" systematisch aufzulösen, wobei den von Roma bewohnten Lagern ausdrücklich Priorität eingeräumt wurde, sowie für "die unverzügliche Abschiebung von Ausländern ohne regulären Aufenthaltsstatus" zu sorgen. Nach der Verbreitung durch die Medien wurde die Anweisung zurückgezogen und am 13. September durch eine zweite ersetzt, die "alle illegalen Siedlungen, egal, wer sie bewohnt", einbezieht. Indes blieben Befürchtungen bestehen, dass Roma ausgegrenzt und zu Opfern von Zwangsräumungen und Vertreibungen werden könnten. Im September legte die Regierung dem Parlament einen Gesetzesvorschlag vor, mit dem die Ausweisung von Ausländern erleichtert werden soll, eingeschlossen auch EU-Bürger, die "ihr Recht auf einen kurzen Aufenthalt missbrauchen", indem sie Frankreich immer wieder verlassen und neu einreisen.
Im August äußerte sich der UN-Ausschuss für die Beseitigung von Rassendiskriminierung (CERD) besorgt über diskriminierende politische Reden. Er äußerte auch Besorgnis in Bezug auf die Zunahme rassistischer Gewalt gegen Roma und die Schwierigkeiten, mit denen Fahrende konfrontiert sind, wenn sie ihr Recht auf Freizügigkeit und ihr Wahlrecht ausüben wollen sowie hinsichtlich ihres Zugangs zu Bildung und angemessenem Wohnraum.
Im Oktober entschied das Verfassungsgericht, dass ein im September vom Parlament verabschiedetes Gesetz, welches in der Öffentlichkeit das Tragen von Kleidung verbietet, die das Gesicht verdeckt, die Persönlichkeitsrechte nicht unverhältnismäßig einschränkt. Daneben stellte es indes auch fest, dass das Verbot nicht für öffentliche Gotteshäuser gelten könne. Das Gesetz gab Anlass zu Befürchtungen, dass das Verbot die Rechte auf freie Meinungsäußerung und Religion von Frauen verletzen könnte, die die Burka oder den Nikab als Ausdruck ihrer Identität oder ihres Glaubens tragen wollen.

Amnesty International: Missionen und Bericht

Vertreterinnen von Amnesty International besuchten Frankreich im September und Oktober.

France: Briefing to the UN Committee against Torture, April 2010 (EUR 21/002/2010)

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