Amnesty International Report 2012 - The State of the World's Human Rights

Amtliche Bezeichnung: Arabische Republik Ägypten
Staatsoberhaupt: Mohamed Hussein Tantawi (löste im Februar Muhammad Hosni Mubarak im Amt ab)
Regierungschef: Kamal Ganzouri (löste im Dezember Essam Sharaf im Amt ab; dieser hatte im März die Amtsgeschäfte von Ahmed Shafik übernommen, der wiederum im Januar auf Ahmed Nazif gefolgt war)
Todesstrafe:nicht abgeschafft
Einwohner: 82,5 Mio.
Lebenserwartung: 73,2 Jahre
Kindersterblichkeit: 21 pro 1000 Lebendgeburten
Alphabetisierungsrate: 66,4%

Während der "Revolution vom 25. Januar", die den Sturz von Präsident Hosni Mubarak im Februar 2011 zur Folge hatte, kamen mindestens 840 Menschen ums Leben, mehr als 6000 Personen wurden verletzt, die meisten davon bei Übergriffen durch die Polizei und andere Sicherheitskräfte. Der Oberste Militärrat unter dem Vorsitz von Mohamed Hussein Tantawi übernahm die Regierungsgeschäfte von Hosni Mubarak, der zusammen mit seinen Söhnen und anderen Behördenvertretern vor Gericht gestellt wurde. Die Proteste dauerten jedoch weiter an. Armee und Polizei gingen in einigen Fällen mit exzessiver Gewalt gegen die Demonstrierenden vor. Der Oberste Militärrat ließ politische Gefangene frei und genehmigte bislang verbotene politische Parteien und unabhängige Gewerkschaften, der seit 30 Jahren andauernde Ausnahmezustand wurde jedoch nicht aufgehoben. Streiks waren verboten, und die Medien sahen sich mit weiteren Einschränkungen konfrontiert.

Mehr als 12000 Zivilpersonen wurden vor Militärgerichte gestellt. Viele von ihnen waren inhaftiert worden, weil sie ihrem Unmut über die schleppende Umsetzung der angekündigten Reformen Ausdruck verliehen hatten. Hosni Mubaraks berüchtigte Geheimpolizei wurde aufgelöst. Dennoch war die Folter von Häftlingen weiterhin an der Tagesordnung. Sie erreichte eine neue schockierende Dimension, als Armeeangehörige inhaftierte Frauen sogenannten Jungfräulichkeitstests unterzogen. Das Militär ging gegen Bewohner informeller Siedlungen in Kairo und anderen Städten mit rechtswidrigen Zwangsräumungen vor. Personen, die leer stehende staatliche Gebäude besetzt hatten, mussten diese ebenfalls räumen.

Frauen spielten bei den Protestaktionen eine wichtige Rolle, wurden aber weiterhin durch Gesetze und im täglichen Leben benachteiligt. Religiöse Minderheiten, allen voran die koptischen Christen, sahen sich weiterhin Diskriminierungen ausgesetzt. Im Berichtsjahr ergingen mindestens 123 Todesurteile, mindestens eine Person wurde hingerichtet. Grenzposten schossen erneut auf Migranten, Flüchtlinge und Asylsuchende, die versuchten, von Ägypten aus die Grenze nach Israel zu überschreiten.

Berichten zufolge kamen 2011 20 Menschen bei Grenzübertritten ums Leben, darunter auch an der Grenze zum Sudan. Viele weitere wurden strafrechtlich verfolgt oder in Länder abgeschoben, in denen ihnen schwere Menschenrechtsverletzungen drohten. Einige sollen Opfer von Menschenhandel geworden sein.

Hintergrund

Am 11. Februar 2011 trat Präsident Mubarak nach 30 Jahren an der Macht zurück. Dem Rücktritt gingen 18-tägige überwiegend friedliche Massenproteste in ganz Ägypten voraus, bei denen die Sicherheitskräfte mit unverhältnismäßiger und tödlicher Gewalt gegen Demonstrierende vorgingen. Nach offiziellen Angaben kamen mindestens 840 Menschen ums Leben. Sie wurden bei Demonstrationen getötet oder starben im Zusammenhang mit den Protestaktionen. Mehr als 6000 Personen erlitten Verletzungen. Tausende Menschen wurden inhaftiert, viele gefoltert oder misshandelt. Mit dem Obersten Militärrat übernahm das Militär die Macht im Land, für die Übergangszeit bis zu den Parlamentswahlen wurden jedoch zivile Ministerpräsidenten und Minister ernannt. Die Parlamentswahlen begannen im November und dauerten bis Anfang 2012. Für Mitte 2012 wurden Präsidentschaftswahlen in Aussicht gestellt.

Unmittelbar nach Hosni Mubaraks Sturz setzte der Oberste Militärrat die Verfassung von 1971 außer Kraft, löste das Parlament auf und erließ eine Verfassungserklärung, die eine Reihe von Rechten garantierte. Hunderte von Personen, die sich ohne Anklageerhebung oder Gerichtsverfahren in Verwaltungshaft befanden, kamen frei. Die mächtige und lange verbotene Muslimbruderschaft sowie andere bisher nicht zugelassene Organisationen wurden im März 2011 genehmigt. Sie konnten fortan legal arbeiten und fochten sofort die Parlamentswahlen an. Die der Muslimbruderschaft nahestehende Partei Freiheit und Gerechtigkeit ging als stärkste Kraft aus den Wahlen hervor. Hosni Mubaraks Nationaldemokratische Partei wurde im April aufgelöst.

Im März beugte sich das Innenministerium dem Druck wochenlanger Proteste und löste den Staatssicherheitsdienst (State Security Investigations - SSI) auf, der berüchtigt war für Folter und andere Misshandlungen. Vor der Auflösung brachen Aktivisten in die SSI-Zentralen in Alexandria und Kairo ein, nachdem sich die Nachricht verbreitet hatte, Beamte des SSI seien dabei, Beweismaterial für Menschenrechtsverletzungen zu vernichten. Der SSI wurde durch die Nationale Sicherheitsbehörde (National Security Agency) ersetzt. Es blieb unklar, ob die Behörden wirkungsvolle Maßnahmen ergriffen, um die Einstellung bzw. Versetzung ehemaliger SSI-Beamter zu verhindern, die in Fälle von Folter und anderen Menschenrechtsverletzungen verwickelt waren. Der Direktor des SSI wurde allerdings im Zusammenhang mit der Tötung von Demonstrierenden im Januar und Februar angeklagt.

Der Oberste Militärrat hielt am nationalen Ausnahmezustand fest. Im September 2011 wurden die Notstandsgesetze dahingehend ausgeweitet, dass auch Straßenblockaden, die Verbreitung von Gerüchten durch die Medien sowie "Angriffe auf das Recht auf Arbeit" unter Strafe gestellt wurden. Änderungen des Strafgesetzbuchs verschärften die Strafen für "rücksichtsloses Vorgehen", Entführung und Vergewaltigung bis hin zur Todesstrafe. Außerdem trat das Gesetz Nr. 34/2011 in Kraft, das Streiks und andere Formen von Protesten verbietet, die vermeintlich "die Arbeit behindern". Im Oktober kamen bei gewaltsamen Auseinandersetzungen mindestens 28 Menschen ums Leben, die meisten waren koptische Christen. Daraufhin verbot der Oberste Militärrat Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts, der Herkunft, der Sprache, der Religion oder anderer Überzeugungen.

Folter und andere Misshandlungen

Trotz der Auflösung des SSI, dessen Angehörige gefoltert hatten, ohne dafür strafrechtlich verfolgt zu werden, gingen auch 2011 Berichte über Folterungen und andere Misshandlungen durch die Polizei und die Streitkräfte ein. Einige Personen kamen unter nicht geklärten Umständen in Gewahrsam ums Leben. Im Juni benannte die Staatsanwaltschaft eine Untersuchungskommission aus drei Richtern, die Berichte über Folterungen prüfen sollte. Während einigen Foltervorwürfen gegen die Polizei nachgegangen wurde, unternahm die Kommission nichts, um Vorwürfe gegen Militärangehörige zu untersuchen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.

  • Mostafa Gouda Abdel Aal wurde am 9. März auf dem Tahrir-Platz in Kairo von Soldaten festgenommen, die ihn schlugen und zum nahe gelegenen Ägyptischen Museum schleiften. Dort verbanden sie ihm die Augen, fesselten ihm die Hände auf dem Rücken und warfen ihn auf den Boden.
    Sie übergossen ihn mit Wasser, versetzten ihm Elektroschocks an Penis und Gesäß und schlugen ihn mit einem Kabel auf den Rücken. Er wurde eine Nacht lang zusammen mit anderen Festgenommenen in einem Lieferwagen festgehalten. Später brachte man die Männer zum Heikstep-Militärgefängnis, wo sie erneut geschlagen und von Vernehmungsbeamten des Militärs verhöhnt wurden. Die Militärangehörigen fragten weder, woher die offensichtlichen Verletzungen der Festgenommenen stammten, noch, warum ihre Kleidung blutverschmiert war. Die Männer wurden mit Elektroschockwaffen traktiert, ehe man sie vor ein Militärgericht stellte, das in der Gefängniskantine tagte. Nach einem grob unfairen Gerichtsverfahren wurden die Gefangenen zu Haftstrafen zwischen einem und sieben Jahren verurteilt und ins Tora-Gefängnis überführt. Nach ihrer Begnadigung durch den Obersten Militärrat kamen sie am 23. Mai frei. Mostafa Gouda Abdel Aal hatte zu diesem Zeitpunkt noch immer sichtbare Verletzungen aufgrund der Folterungen.
  • Am 26. Oktober 2011 verurteilte ein Gericht in Alexandria zwei Polizisten im Zusammenhang mit dem Tod von Khaled Said zu sieben Jahren Haft wegen Totschlags. Khaled Said, der im Juni 2010 starb, nachdem die beiden Polizisten ihn in aller Öffentlichkeit brutal geschlagen hatten, wurde zu einer Symbolfigur der Proteste gegen Präsident Mubarak. Das Gericht ignorierte die Ergebnisse einer zweiten Autopsie, der zufolge Khaled Said starb, nachdem ihm ein Plastikpäckchen mit Drogen gewaltsam in den Mund gesteckt worden war. Im Dezember legte die Anklagebehörde Rechtsmittel gegen das Strafmaß ein.

Unfaire Gerichtsverfahren

Vom 28. Januar an wurde die Armee bei öffentlichen Kundgebungen eingesetzt, nachdem die Polizei von den Straßen abgezogen worden war.

Personen, denen man Verstöße oder Gewaltanwendung im Zusammenhang mit den Protesten vorwarf, wurden nicht mehr vor ordentliche Strafgerichte, sondern vor Militärgerichte gestellt, auch wenn es sich bei den Angeklagten um Zivilpersonen handelte. Die Militärgerichte waren weder unabhängig noch unparteiisch. Bis August 2011 waren nach offiziellen Angaben rund 12000 Menschen von Militärgerichten verurteilt worden. Die Anklagen lauteten auf "rücksichtsloses Verhalten", "Missachtung der Ausgangssperre", "Sachbeschädigung", "Beleidigung der Armee" oder "Behinderung von Arbeit". Viele der Angeklagten wurden nach einer Aussetzung ihrer Strafe oder nach ihrer Begnadigung wieder freigelassen. Tausende befanden sich Ende 2011 jedoch noch in Haft.

  • Amr Abdallah al-Beheiry trat im Februar eine fünfjährige Haftstrafe an. Ein Militärgericht hatte ihn für schuldig befunden, die Ausgangssperre nicht beachtet und einen Beamten angegriffen zu haben. Er war zum ersten Mal am 26. Februar festgenommen worden, als Soldaten und Angehörige der Militärpolizei eine Protestkundgebung vor dem Parlamentsgebäude in Kairo gewaltsam auflösten. Viele der Festgenommenen wurden geschlagen und mit Elektroschocks gequält, bevor sie wieder freigelassen wurden. Amr Abdallah al-Beheiry wurde offenbar deshalb erneut festgenommen, weil ein Film seine erlittenen Verletzungen dokumentierte. Sein Verfahren vor einem Militärgericht war grob unfair. Der Militärrichter ließ einen von al-Beheirys Familie beauftragten Rechtsbeistand nicht zu und bestand auf einem Verteidiger, den das Gericht bestellt hatte. Al-Beheiry wurde zunächst in das Wadi-Guedid-Gefängnis gebracht, wo er und seine Mitgefangenen Berichten zufolge vom Wachpersonal tätlich angegriffen wurden. Die Häftlinge durften ihre Zellen nur einmal am Tag verlassen, um die Toilette aufzusuchen. Später wurde er in das Wadi-Natroun-Gefängnis verlegt, wo er sich Ende 2011 noch befand, ohne dass ein Datum für das Berufungsverfahren feststand.
  • Fünf Arbeiter, die nach ihrer fristlosen Entlassung durch die ägyptische Erdölgesellschaft (Egyptian General Petroleum Corporation) einen Sitzstreik vor dem Ministerium für Erdöl und Bodenschätze abgehalten hatten, wurden unter Berufung auf das Gesetz Nr. 34/2011 angeklagt und im Juni von einem Militärgericht schuldig gesprochen. Sie erhielten Freiheitsstrafen, die zur Bewährung ausgesetzt wurden.

Exzessive Gewaltanwendung

Vor dem Sturz von Hosni Mubarak gingen die Sicherheitskräfte mit unverhältnismäßiger und tödlicher Gewalt gegen Demonstrierende vor.

Gefängniswärter schossen auf verurteilte Häftlinge und töteten einige von ihnen. Danach gingen das Militär, die Militärpolizei und die Sicherheitskräfte ebenfalls mit exzessiver Gewalt gegen neuerliche Proteste von Menschen vor, die ihrem Ärger über mangelnde Fortschritte in Bezug auf politische Reformen und die Menschenrechtslage Ausdruck verliehen. Bei einigen Gelegenheiten kam es zu Zusammenstößen zwischen Demonstrierenden und Schlägerbanden - bewaffneten Männern in Zivil, die dem Vernehmen nach mit der Polizei bzw. mit der ehemaligen Regierungspartei in Verbindung standen. In vielen Fällen setzten die Sicherheitskräfte Tränengas ein oder feuerten rücksichtslos mit Schrot- und Gummigeschossen auf Demonstrierende. Scharfe Munition kam ebenfalls zum Einsatz. In mindestens einem Fall wurden Teilnehmer einer Protestaktion von gepanzerten Militärfahrzeugen überrollt, die in die Menge fuhren.

  • Am 9. Oktober 2011 wurde eine überwiegend von Kopten abgehaltene Protestkundgebung vor dem Maspero-Gebäude des staatlichen Fernsehens in Kairo von den Sicherheitskräften mit exzessiver Gewalt aufgelöst. Die Sicherheitskräfte machten bewaffnete Männer in Zivilkleidung dafür verantwortlich, die Ausschreitungen ausgelöst zu haben. 28 Menschen kamen ums Leben, die meisten waren Demonstrierende, unter den Toten war aber auch ein Soldat. Es gab zahlreiche Verletzte. Auf viele Opfer war mit scharfer Munition geschossen worden. Andere wurden von Soldaten in gepanzerten Fahrzeugen mit hoher Geschwindigkeit überfahren. Der Oberste Militärrat ordnete eine Untersuchung der Vorfälle an. Als die Protestaktionen weitergingen und sich erneut Demonstrierende auf dem Tahrir-Platz versammelten, leitete der Oberste Militärrat den Fall an die Staatsanwaltschaft weiter, die einen Ermittlungsrichter benannte, um den Fall zu untersuchen. Noch bevor der Ermittlungsrichter seinen Bericht vorgelegt hatte, wurde im Dezember gegen drei Soldaten ein Gerichtsverfahren eröffnet. Die Soldaten standen wegen Totschlags von 14 Maspero-Demonstrierenden unter Anklage.
  • Im November gingen die Sicherheitskräfte mit Tränengas, Schrotkugeln u.a. scharfer Munition gegen Protestierende vor, als es in der Nähe des Innenministeriums in Kairo fünf Tage lang zu Zusammenstößen kam. Zuvor hatten die Armee und die Sicherheitskräfte Demonstrierende und Angehörige der Opfer der "Revolution vom 25. Januar" vom Tahrir-Platz vertrieben. Ungefähr 51 Menschen starben, mehr als 3000 wurden verletzt. Zahlreiche Personen wurden festgenommen und wegen "unrechtmäßiger Versammlung", "Angriff auf Demonstrierende mit Schusswaffen", "Verkehrsbehinderung", "Sachbeschädigung" und "Angriff auf Beamte" angeklagt.
  • Im Dezember gingen Militärpolizei und andere Sicherheitskräfte mit exzessiver Gewalt und scharfer Munition gegen Protestierende in der Nähe des Kabinettsgebäudes vor. Mindestens 17 Personen wurden dabei getötet - die meisten durch Schusswaffen - Hunderte weitere erlitten Verletzungen bzw. wurden festgenommen. Zahlreiche Frauen gaben an, sie seien in der Haft brutal geschlagen und mit sexuellem Missbrauch bedroht worden.

Rechte auf freie Meinungsäußerung und Vereinigungsfreiheit
Vor dem Sturz Präsident Mubaraks versuchten die Behörden, die Organisation von Kundgebungen zu behindern, indem sie Telefonleitungen und Internetzugänge kappten. Nachdem der Oberste Militärrat die Macht übernommen hatte, wurden die Medien mit zusätzlichen Einschränkungen konfrontiert. Die Sicherheitskräfte durchsuchten Fernsehsender und drohten Journalisten und Bloggern mit Inhaftierungen. Der Oberste Militärrat ging auch gegen Menschenrechtsorganisationen vor.

  • Der Blogger Maikel Nabil Sanad wurde im April 2011 von einem Militärgericht nach einem unfairen Verfahren zu drei Jahren Haft verurteilt, weil er den Obersten Militärrat "beleidigt" hatte. Er hatte die Anwendung exzessiver Gewalt gegen Demonstrierende auf dem Tahrir-Platz kritisiert und den Wehrdienst verweigert. Im August begann er einen Hungerstreik, um gegen seine Inhaftierung zu protestieren. Er blieb im Gefängnis, obwohl ein militärisches Berufungsgericht im Oktober die Wiederaufnahme seines Verfahrens anordnete. Nach einem Gerichtsverfahren, bei dem weder der Angeklagte noch sein Rechtsbeistand anwesend waren, beantragte ein Rechtsanwalt, Maikel Nabil Sanad in eine psychiatrische Klinik zu verlegen.
    In einem Wiederaufnahmeverfahren vor einem Militärgericht wurde die gegen Maikel Nabil Sanad verhängte Haftstrafe auf zwei Jahre reduziert. Ende 2011 war der gewaltlose politische Gefangene noch immer in Haft, und man verweigerte ihm die notwendige medizinische Behandlung. Am 31. Dezember beendete er seinen Hungerstreik.

Die Behörden teilten mit, man werde die gesetzliche Genehmigung und die Finanzierung von rund 37 Menschenrechtsorganisationen näher untersuchen. Die Staatsanwaltschaft der Obersten Staatssicherheit (Supreme State Security Prosecution) erwäge, all jene Organisationen wegen "Verrat" oder "Verschwörung" anzuklagen, die nicht offiziell genehmigt seien, die ohne behördliche Genehmigung Geld aus dem Ausland erhielten oder sich an "unerlaubten" politischen Aktivitäten beteiligten. Die Zentralbank wies alle Banken des Landes an, Einzelheiten über finanzielle Transaktionen von NGOs und einzelnen Aktivisten dem Ministerium für Solidarität und Soziale Gerechtigkeit zu melden. Im Dezember führten Sicherheitskräfte bei etwa 17 Menschenrechtsorganisationen Razzien durch und konfiszierten Computer und Dokumente.

Diskriminierung von Frauen

Frauen wurden im Berichtsjahr weiterhin sowohl durch die Gesetzgebung als auch im täglichen Leben diskriminiert. Dennoch spielten sie bei den Protesten vor und nach dem Sturz von Präsident Mubarak eine Schlüsselrolle. Einige Aktivistinnen und Journalistinnen wurden 2011 Opfer sexueller Gewalt und anderer Misshandlungen.

  • 18 Frauen wurden festgenommen, als die Armee am 9. März gewaltsam eine Kundgebung auf dem Tahrir-Platz auflöste. Bis auf eine wurden alle Frauen im Heikstep-Militärgefängnis einer Leibesvisitation und sieben von ihnen sogenannten Jungfräulichkeitstests unterzogen, die eine Form der Folter darstellen. Die Beamten drohten ihnen, sie würden wegen Prostitution angeklagt, sollte sich herausstellen, dass sie "nicht mehr jungfräulich" seien. Die 18 Frauen waren zunächst zusammen mit weiteren Festgenommenen ins Ägyptische Museum gebracht worden, wo sie mit Handschellen gefesselt und mit Stöcken und Schläuchen geschlagen wurden. Sie wurden mit Elektroschocks an Brust und Beinen gequält und von Soldaten beleidigt. 17 der Frauen wurden am 11. März vor ein Militärgericht gestellt, obwohl sie Zivilpersonen waren, und zwei Tage später freigelassen. Einige von ihnen wurden wegen "ungebührlichen Verhaltens" und "Verkehrsbehinderung" zu Freiheitsstrafen auf Bewährung verurteilt.

Im Dezember befand ein Verwaltungsgericht, die "Jungfräulichkeitstests" seien rechtswidrig, und wies die Militärbehörden an, sie zu unterlassen.

  • Während der mehrtägigen Zusammenstöße zwischen Sicherheitskräften und Demonstrierenden im November wurde die Journalistin Mona Eltahawy am 24. November festgenommen und zwölf Stunden lang festgehalten. Sie gab an, von Sicherheitsbeamten sexuell missbraucht und so brutal geschlagen worden zu sein, dass sie Brüche an ihrer linken Hand und an ihrem rechten Arm davontrug.

Der Oberste Militärrat schaffte das Quotensystem des Wahlgesetzes ab, das zuvor 64 Parlamentssitze (12%) für Frauen reserviert hatte. Stattdessen verlangte er von allen politischen Parteien, mindestens eine Frau auf ihre Kandidatenliste zu setzen. Es wurde jedoch nicht gefordert, Frauen auf einen aussichtsreichen Listenplatz zu setzen.

Diskriminierung koptischer Christen

2011 gab es deutlich mehr gewalttätige Zusammenstöße zwischen Muslimen und koptischen Christen. Die Kopten wurden weiterhin diskriminiert und fühlten sich durch die Behörden nicht ausreichend geschützt. Nach der Machtübernahme durch den Obersten Militärrat schienen die sektiererischen Angriffe auf Kopten und ihre Kirchen durch mutmaßliche Islamisten zuzunehmen. Die Lage verschärfte sich noch weiter, nachdem Kopten bei einer Demonstration in Kairo im Oktober getötet wurden.

  • Am 7. Mai kam es in Imbaba, einem Arbeiterstadtteil von Gizeh, zu Zusammenstößen, als mutmaßliche Islamisten eine Kirche angriffen. Sie waren der Überzeugung, dort werde eine zum Islam konvertierte Frau gegen ihren Willen festgehalten. Bei den Auseinandersetzungen kamen 15 Kopten und Muslime ums Leben, zahlreiche Personen wurden verletzt. Häuser und Geschäfte von Kopten erlitten Schäden, eine weitere Kirche in der Stadt wurde niedergebrannt. Die Armee griff zunächst nicht ein, eröffnete schließlich jedoch das Feuer und tötete mehrere Menschen. Zahlreiche Bewohner Imbabas wurden festgenommen, darunter sogar Personen, die verletzt waren. Die meisten von ihnen kamen am 26. Mai wieder frei, die Verfahren gegen 48 Muslime und Kopten vor dem Obersten (Notstands-)Staatsicherheitsgericht in Kairo waren jedoch Ende 2011 noch nicht abgeschlossen.

Straflosigkeit

Einige der mutmaßlichen Verantwortlichen für die Tötungen im Januar und Februar wurden von den Behörden strafrechtlich verfolgt. Den Familienangehörigen von Personen, die bei der "Revolution vom 25. Januar" getötet worden waren, und Menschen, die bei den Protesten Verletzungen erlitten hatten, wurde jedoch keine Gerechtigkeit zuteil. Polizisten und andere Angehörige der Sicherheitskräfte, die wegen der Toten und Verletzten bei den Protesten strafrechtlich verfolgt wurden oder in diese Fälle involviert waren, behielten ihre Posten oder wurden auf Verwaltungsstellen im Innenministerium versetzt. Viele von ihnen übten dem Vernehmen nach Druck auf die Familien der Opfer und die Zeugen aus, ihre Beschwerden zurückzuziehen. Angehörige des Militärs und der Polizei begingen Menschenrechtsverletzungen, ohne dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden. Dazu zählten Folter und außergerichtliche Hinrichtungen.

  • Im April 2011 begann der Prozess gegen den ehemaligen Innenminister Habib Ibrahim El Adly und sechs seiner ehemaligen leitenden Mitarbeiter wegen der Tötung von Demonstrierenden. Das Verfahren wurde mit dem gegen Hosni Mubarak und zwei seiner Söhne zusammengelegt, das im August begann. Den Angeklagten wurden Mord und versuchter Mord vorgeworfen. Die ersten beiden Verhandlungstage wurden vom staatlichen Fernsehen übertragen. Ende 2011 war das Verfahren noch nicht abgeschlossen.

Recht auf Wohnen - Zwangsräumungen

In Kairo und anderen Städten lebten 2011 weiterhin Tausende von Menschen in informellen Siedlungen, die offiziell als "unsichere Gebiete" eingestuft waren, da dort Steinschlag und andere Gefahren drohten. Zudem waren die Bewohner ständig von Zwangsräumungen bedroht. Die Armee ging gegen Bewohner einiger solcher "unsicheren Gebiete" mit rechtswidrigen Zwangsräumungen vor. Personen, die leer stehende staatliche Gebäude besetzt hatten, mussten diese ebenfalls räumen. Die Zwangsräumungen erfolgten ohne vorherige Ankündigung und ohne Absprache mit den Betroffenen, die dadurch häufig obdachlos wurden.

Die Regierungsbezirke erarbeiteten gemeinsam mit der 2008 ins Leben gerufenen Entwicklungsgesellschaft für informelle Siedlungen Pläne zur Umsiedlung von Bewohnern "unsicherer Gebiete". Die Betroffenen wurden weder in die Planung einbezogen noch erhielten sie nähere Informationen. So wurde der Plan "Kairo 2050" weder veröffentlicht noch mit den Bewohnern der informellen Siedlungen abgesprochen, die vermutlich am stärksten davon betroffen wären. Im August versicherte das Wohnungsbauministerium allerdings, der Plan werde nicht zu Zwangsräumungen führen.

Nach der "Revolution vom 25. Januar" nahmen die Besetzungen von leer stehenden staatlichen Gebäuden sprunghaft zu. Im Auftrag der örtlichen Behörden vertrieben die Armee und die Bereitschaftspolizei die Hausbesetzer mit Gewalt und ohne Vorwarnung.

  • In Zerzara, einem der "unsicheren Gebiete" von Port Said, zerstörte die Armee Anfang Juli die Unterkünfte von mehr als 200 Familien. 70 Familien wurden dadurch obdachlos. Die Betroffenen erfuhren erst einen Tag vorher, dass ihre Unterkunft geräumt werden sollte, und es wurden keine Absprachen mit ihnen getroffen. Bei vielen der Familien, die obdachlos wurden, handelte es sich um alleinerziehende Frauen mit Kindern. Einige Wochen zuvor hatte die Bezirksregierung mitgeteilt, es gebe Pläne, den Bewohnern bis Juni 2012 rund 3500 neue Unterkünfte zur Verfügung zu stellen. Dafür würden teilweise auch neue Gebäude errichtet, um die Bewohner vor Ort wiederanzusiedeln. Nach der Zerstörungsaktion wuchs auch in anderen Familien die Angst vor Zwangsräumungen, trotz offizieller Schreiben der Behörden, dass sie so bald wie möglich Ersatzunterkünfte bekämen.
  • Im Juli wurden rund 200 Familien obdachlos, die sich in etwa 20 Gebäuden im Kairoer Stadtteil Manshiyet Nasser häuslich niedergelassen hatten, nachdem sie ohne Vorankündigung zwangsweise geräumt wurden. Mit Hilfe eines Nachbarschaftskomitees, das junge Leute während der Aufstände ins Leben gerufen hatten, konnten sie in die entlegene Stadt des 6. Oktober im Südwesten von Gizeh umgesiedelt werden.

Flüchtlinge und Migranten

Grenzposten schossen weiterhin auf ausländische Migranten, Flüchtlinge und Asylsuchende, die auf der Sinai-Halbinsel die Grenze von Ägypten nach Israel überqueren wollten. Mindestens zehn Menschen kamen dabei ums Leben. Außerdem wurden zehn eritreische Staatsangehörige getötet, die vom Sudan aus nach Ägypten einreisen wollten. Viele weitere Personen erlitten Schusswunden oder andere zum Teil schwere Verletzungen. Sie wurden wegen "illegaler Einreise" angeklagt, vor Militärgerichte gestellt und zu Haftstrafen verurteilt. Mindestens 83 Flüchtlinge und Asylsuchende wurden in Länder abgeschoben, in denen ihnen schwere Menschenrechtsverletzungen drohten. Viele der Abgeschobenen waren eritreische Staatsangehörige. Mehr als 100 Flüchtlingen und Asylbewerbern drohte Ende des Jahres noch immer die Rückführung in ihr Heimatland.

Flüchtlinge, Asylsuchende und Migranten, die über die Sinai-Halbinsel nach Israel gelangen wollten, sollen von Menschenhändlern erpresst, vergewaltigt, gefoltert oder getötet worden sein. Auch wurden ihnen Berichten zufolge gegen ihren Willen Organe entnommen, um sie auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen.

Todesstrafe

Im Berichtsjahr wurden mindestens 123 Todesurteile verhängt. In mindestens 17 dieser Fälle erging das Todesurteil nach einem unfairen Gerichtsverfahren vor einem Militärgericht. Mindestens ein Mensch wurde hingerichtet.

  • Mohamed Ahmed Hussein wurde am 10. Oktober 2011 durch den Strang hingerichtet. Er war für schuldig befunden worden, am 6. Januar 2010 in Oberägypten koptische Gläubige, die gerade aus der Kirche kamen, im Vorbeifahren erschossen zu haben.

Amnesty International: Missionen und Berichte

Delegierte von Amnesty International statteten Ägypten
im Berichtsjahr mehrere Besuche ab: von Januar bis März, im Mai und Juni sowie von August bis Dezember.

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