Dokument #1085314
Amnesty International (Autor)
Die chinesische Regierung reagierte auf eine zunehmend wachsende Zivilgesellschaft mit der Inhaftierung und Strafverfolgung von Menschen, die in friedlicher Weise ihre Meinung zum Ausdruck brachten, vom Staat nicht zugelassenen Religionsgemeinschaften angehörten, für demokratische Reformen und Menschenrechte eintraten oder die Rechte ihrer Mitbürger verteidigen wollten. Die Internetseiten beliebter sozialer Medien waren nach wie vor aufgrund der staatlichen Zensurmaßnahmen nicht zugänglich. Tibeter, Uiguren, Mongolen und andere ethnische Minderheiten des Landes waren weiterhin Repressionen vonseiten der Behörden ausgesetzt. Auf internationaler Bühne trat China selbstbewusster und aggressiver auf, indem es Länder bestrafte, deren führende Politiker die Menschenrechtslage Chinas öffentlich zur Sprache brachten.
Im Vergleich zu anderen großen Volkswirtschaften konnte China 2010 sein relativ hohes Wirtschaftswachstum trotz der anhaltenden weltweiten Rezession aufrechterhalten. Die Unzufriedenheit und die Proteste im Lande nahmen jedoch an Heftigkeit zu. Sie waren auf eine wachsende wirtschaftliche und soziale Kluft, eine weit verbreitete Korruption im Justizwesen, Polizeiübergriffe und die Unterdrückung der Religionsfreiheit und anderer Menschenrechte zurückzuführen. Auch in den von Tibetern und Uiguren bewohnten Landesteilen hielten die Unruhen und Repressionsmaßnahmen an. Trotz eines Anstiegs des Durchschnittseinkommen hatten Millionen von Menschen keinen Zugang zu einer Gesundheitsversorgung. Wanderarbeiter wurden nach wie vor als Bürger zweiter Klasse behandelt, und viele Familien konnten das Geld für die Schulgebühren ihrer Kinder nicht aufbringen.
Die Behörden bekundeten erneut ihre Absicht, die Rechtsstaatlichkeit zu stärken. Nichtsdestotrotz konnten jene, die als politische Bedrohung des Regimes beziehungsweise der Interessen örtlicher Behördenvertreter angesehen wurden, weiterhin nicht damit rechnen, ihre Rechte geltend machen zu können. Die politische Einflussnahme auf die Justiz und die Korruption in deren Reihen waren nach wie vor allseits zu beobachten.
Die wachsende internationale wirtschaftliche und politische Bedeutung Chinas spiegelte sich darin wider, dass die Regierung des Landes immer häufiger Staaten, die Kritik an der Menschenrechtslage in China übten, wirtschaftliche und politische Vergeltungsmaßnahmen androhte. Viele Länder zeigten sich daher wenig geneigt, mangelnde Fortschritte Chinas im Bereich der Menschenrechte öffentlich anzusprechen. Bilaterale Kanäle, wie etwa ein Menschenrechtsdialog, erwiesen sich zudem als weitgehend wirkungslos. Die Behörden reagierten verärgert auf die Nachricht von der Verleihung des Friedensnobelpreises an den langjährigen chinesischen politischen Aktivisten Liu Xiaobo und verschoben bilaterale Handelsgespräche mit Norwegen auf unbestimmte Zeit. Ausländische Diplomaten berichteten, von chinesischer Seite unter Druck gesetzt worden zu sein, an der Verleihungszeremonie am 10. Dezember 2010 in Oslo nicht teilzunehmen.
Die Behörden hinderten Personen daran, politisch brisante Themen öffentlich anzusprechen oder darüber zu berichten, indem sie Anschuldigungen der Preisgabe von "Staatsgeheimnissen", des Separatismus (Nationalismus ethnischer Minderheiten), der Verleumdung oder des Straftatbestands "Subversion" gegen sie erhoben. Vage formulierte Bestimmungen dienten dazu, die Veröffentlichung politisch brisanten Materials zu kontrollieren oder zu unterbinden. Dazu gehörten Verweise auf die Demonstrationen auf dem Platz des Himmlischen Friedens von 1989 und Themen wie Menschenrechte, Demokratie, Falun Gong sowie die Anliegen von Tibetern und Uiguren. Die staatliche Zensur stützte sich in großem Maße auf "Zurückhaltung im Vorfeld", eine Form der Selbstzensur, und die Internet-Firewall, mit der unliebsame Inhalte von den Behörden gesperrt oder gefiltert wurden.
Die Änderung des Gesetzes über Staatsgeheimnisse, die im Oktober 2010 in Kraft trat, sieht eine neue Bestimmung vor, wonach Internet- und andere Telekommunikationsunternehmen gemäß Artikel 28 zur Zusammenarbeit bei Ermittlungen in Fällen der Offenlegung von Staatsgeheimnissen verpflichtet sind. Andernfalls droht diesen Firmen ein Strafverfahren. Die Behörden übten wie bisher eine strenge Kontrolle über die Nachrichtenberichterstattung im Internet aus und erteilten entsprechende Lizenzen lediglich an große Internetseiten, die staatliche Unterstützung genossen. Viele Portale von sozialen Medien blieben gesperrt, darunter Facebook, Twitter, YouTube und Flickr.
Der Staat wies 2010 alle Religionsgruppen an, sich behördlich registrieren zu lassen, und wachte über die Ernennung von religiösen Funktionsträgern. Die Anhänger nicht registrierter oder verbotener Religionsgemeinschaften mussten mit Drangsalierungen, Strafverfolgung, Gewahrsam und Gefängnisstrafen rechnen, wobei einige der Gemeinschaften von den Behörden als "ketzerische Sekten" eingestuft wurden. Von den als illegal eingestuften Religionsgemeinschaften errichtete Kirchen oder Tempel konnten jederzeit abgerissen werden. Über 40 katholische Bischöfe, die den staatlich nicht zugelassenen "Hauskirchen" angehören, waren weiterhin in Haft, standen unter Hausarrest, hielten sich versteckt oder waren verschollen.
Die Behörden setzten 2010 ihre Kampagne zur "Umformung" von Falun-Gong-Anhängern fort, die vorsah, dass in Haftanstalten und Untersuchungsgefängnissen inhaftierte Anhänger dieser Religionsgemeinschaft gezwungen werden, ihrem Glauben abzuschwören. Diejenigen unter ihnen, die sich weigerten, eine entsprechende Erklärung zu unterzeichnen und daher als "widerspenstig" galten, wurden nach gängiger Praxis so lange gefoltert, bis sie einwilligten. Viele von ihnen starben in der Haft oder kurz nach ihrer Haftentlassung.
Falun-Gong-Anhänger waren vor großen nationalen Ereignissen erneut im Visier groß angelegter Razzien. So wurden nach Angaben von Falun Gong vor Beginn der Weltausstellung in Shanghai 124 ihrer Anhänger inhaftiert und Dutzende von ihnen in Lager der Umerziehung durch Arbeit gesteckt oder zu Gefängnisstrafen verurteilt. Menschenrechtsanwälte waren besonders gefährdet, von den Behörden bestraft zu werden, wenn sie die Verteidigung von Falun-Gong-Anhängern übernahmen. Zu den Sanktionen gegen sie gehörten der Entzug ihres Anwaltspatents, Drangsalierungen und die Einleitung von Strafverfahren.
Zivilgesellschaftliche Strukturen breiteten sich weiter aus, und immer mehr nichtstaatliche Organisationen wurden im ganzen Land tätig. Die Behörden erließen indes weitere Restriktionen gegen solche Organisationen und gegen Menschenrechtsverteidiger. Auf Druck der Behörden kappte die Universität Peking im Mai 2010 ihre Verbindungen mit vier zivilgesellschaftlichen Gruppen, darunter mit dem Zentrum für Frauenrechte und Rechtsberatung.
Die Anwendung rechtswidriger Formen der Inhaftierung breitete sich aus, darunter Hausarrest ohne Rechtsgrundlage über lange Zeiträume hinweg sowie die Inhaftierung in "inoffiziellen Hafteinrichtungen", Zentren zur "Gehirnwäsche", psychiatrischen Kliniken und nicht als solche gekennzeichneten "Hotels". Bezüglich einer Reform bzw. Abschaffung des Systems der Administrativhaft ohne Anklageerhebung oder Gerichtsverfahren, wie z.B. der Umerziehung durch Arbeit, waren keine Fortschritte zu erkennen. Hunderttausende von Menschen waren nach wie vor in entsprechenden Einrichtungen inhaftiert.
Folter und andere Misshandlungen in Hafteinrichtungen waren weiterhin eine allseits gängige Praxis. Bei Amnesty International gingen Berichte über Todesfälle in der Haft in einer ganzen Reihe staatlicher Einrichtungen einschließlich Gefängnissen und Untersuchungsgefängnissen der Polizei ein, von denen einige auf Folter zurückzuführen waren. Im Juli 2010 traten neue Bestimmungen in Kraft, um das Verbot der Verwendung illegaler mündlicher Geständnisse in Strafverfahren wie etwa von erzwungenen "Geständnissen" zu stärken. Gleichwohl enthält die Strafprozessordnung des Landes bislang immer noch kein explizites Verbot der Verwendung von "Geständnissen" als Beweismittel vor Gericht, die durch Folter oder Misshandlungen zustande gekommen sind.
Die Statistiken über Todesurteile und Hinrichtungen waren 2010 weiterhin unter Verschluss. Öffentlich zugängliche Informationen weisen jedoch darauf hin, dass die Todesstrafe weiterhin in großem Umfang angewandt wurde und man Tausende nach unfairen Prozessen hingerichtet hatte. Eine Reihe von Fällen, in denen Unschuldige zum Tode verurteilt oder exekutiert wurden, war Gegenstand heftiger öffentlicher Debatten. Dadurch erhöhte sich der Druck auf die Regierung, sich dieses Missstandes anzunehmen.
Die Behörden versäumten es, eine unabhängige Untersuchung der Ausschreitungen vom Juli 2009 in der Stadt Urumqi sowie möglicher Fälle des Missbrauchs staatlicher Gewalt durchzuführen. Es wurden weitere Personen, die an den gewaltsamen Zusammenstößen beteiligt waren, in unfairen Gerichtsverfahren verurteilt. Im März 2010 gab der Gouverneur der Autonomen Uigurischen Region Xinjiang, Nur Bekri, bekannt, dass 97 Strafsachen, in denen sich 198 Personen vor Gericht verantworten mussten, abgeschlossen seien. Allerdings wurden lediglich die Urteile in 26 Verfahren, die 76 Personen betrafen, bekannt gemacht. Die Behörden rieten Menschenrechtsanwälten erneut dringend davon ab, sich dieser Fälle anzunehmen, und im Januar gab das Obere Gericht der Autonomen Region Xinjiang "Stellungnahmen zur Anleitung" an die Gerichte heraus, in denen aufgeführt war, wie derartige Gerichtsverfahren abzulaufen haben.
Die Sicherheitsvorkehrungen in Xinjiang wurden verschärft, u.a. durch eine am 1. Februar in Kraft getretene Neufassung der Umfassenden Regelung der gesellschaftlichen Ordnung. Dies bestärkte die Behörden darin, gegen Straftäter in der Region "hart durchzugreifen", insbesondere bei einer "Gefährdung der nationalen Sicherheit". Wie die Behörden bekannt gaben, wurden im Jahr 2010 insgesamt 376 solcher Fälle vor Gericht verhandelt, im Vergleich zu 268 Fällen im Jahr 2008.
In der Autonomen Uigurischen Region Xinjiang wurde das Recht auf freie Meinungsäußerung per Gesetz stark beschnitten, indem die aus Sicht der Behörden missbräuchliche Nutzung des Internets und anderer Formen der digitalen Kommunikation unter Strafe gestellt wurden. Zu den Rechtsübertretungen gehörten auch vage formulierte Straftaten des "ethnischen Separatismus", wie z.B. die "Anstiftung" zum Separatismus und die Verteilung von Material und literarischen Werken mit "separatistischen" Inhalten. Nachdem SMS-Dienste im Januar teilweise wieder ermöglicht worden waren, hat man über 100 Personen wegen der "Verbreitung schädlicher Informationen" und der "Beeinträchtigung der Einheit der Volksgruppen" durch die Versendung von SMS-Nachrichten festgenommen. Einige von ihnen wurden in Strafhaft genommen. Die völlige Blockade von Informationen und Kommunikationswegen, die im Anschluss an die Unruhen vom Juli 2009 über die gesamte Autonome Uigurische Region Xinjiang verhängt worden war, wurde zwar im Mai nahezu vollständig wieder aufgehoben, aber mehrere beliebte uigurische Internetseiten blieben gesperrt.
Auf einem im Mai abgehaltenen "zentralen Arbeitsforum" wurden ehrgeizige wirtschaftliche und politische Pläne für die Region vorgestellt, in denen aber auf seit langem bestehende Anliegen der Uiguren, wie deren Besorgnis über die massive Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt, nicht eingegangen wurde. Die Behörden in Xinjiang trieben ihre Politik der "zweisprachigen Bildung" gegen alle Widerstände voran, bei der in der Praxis Hochchinesisch als Unterrichtssprache gefördert und Uigurisch sowie andere Sprachen ethnischer Minderheiten selbst in den Schulen für die Kinder ethnischer Minderheiten an den Rand gedrängt werden.
Die Behörden gingen weiterhin massiv gegen lokale Proteste vor, die mit den Protesten vom März 2008 in Zusammenhang standen. Führende tibetische Intellektuelle gerieten zunehmend ins Visier der Behörden. So wurden mehrere namhafte Personen aus Künstler-, Publizisten- und Kulturkreisen unter Angabe fadenscheiniger Gründe zu drakonischen Strafen verurteilt. Die Weitergabe von Informationen über politisch brisante Themen an Ausländer zog schwere Strafen nach sich. Tausende tibetische Studierende demonstrierten gegen die Politik der Behörden, Tibetisch als Hauptunterrichtssprache in den Schulen durch Hochchinesisch zu ersetzen. Dies wurde von den Tibetern gemeinhin als eine Bedrohung für die Bewahrung ihrer eigenständigen Kultur angesehen. Die Behörden gingen gegen diese Protestkundgebungen zwar nicht vor, sie hielten jedoch an ihrer Sprachenpolitik fest. Die Demonstrationen griffen im Oktober auf die Universität für nationale Minderheiten in Peking über, wo Hunderte von tibetischen Studierenden gegen diese Politik protestierten.
Die Behörden schränkten 2010 das Recht auf Religionsfreiheit nach wie vor ein. Die offizielle Buddhistenvereinigung Chinas erließ Maßnahmen mit Wirkung vom 10. Januar, in denen die Demokratischen Verwaltungsausschüsse der Mönchs- und Nonnenklöster aufgefordert wurden, zu überprüfen, ob die bei ihnen Beschäftigten den politischen, fachlichen und personalpolitischen Kriterien genügen. Dadurch stand den Behörden ein weiteres Instrument zur Verfügung, politisch "unzuverlässige" religiöse Würdenträger zu entfernen.
Die Regierung unterbreitete Vorschläge für eine Gesetzesänderung, die eine begrenzte Reform des Modus zur Wahl des Gesetzgebenden Rates (LegCo) und zur Kür des Verwaltungschefs von Hongkong im Jahr 2012 vorsahen. Daraufhin wurden Forderungen nach schnellen Fortschritten auf dem Weg zu einem allgemeinen Wahlrecht erhoben, wie es im Grundgesetz von Hongkong festgeschrieben ist. Der Gesetzgebende Rat nahm die Gesetzesänderungen im Juni erst in letzter Minute nach einem kontroversen Kompromiss zwischen der Zentralregierung in Peking und der Demokratischen Partei an. Demnach erhielten alle Wahlberechtigten eine zweite Stimme über einen aus Bezirksräten zusammengesetzten funktionalen Wahlkreis.
Zu den Ausländern, denen die Einreise nach Hongkong im Berichtszeitraum verwehrt wurde, gehörten Chen Weiming, der Bildhauer der Statue der Göttin der Demokratie für die Mahnwache in Hongkong zum Gedenken an die blutige Niederschlagung der Demokratiebewegung am 4. Juni 1989 auf dem Pekinger Tiananmen-Platz, sowie sechs Bühnentechniker eines Tanzensembles von Falun Gong.
Im April 2010 veröffentlichte die Regierung Verwaltungsrichtlinien zur Förderung der Rassengleichheit.
In dem 2009 zum ersten Mal eingeführten Verfahren zur Prüfung der Anträge von Personen, die ihre Ausweisung unter Verweis auf ein Folterrisiko zu verhindern versuchen, wurden in zehn Monaten 122 Fälle bearbeitet; die Bearbeitung 6700 weiterer Fälle steht noch aus.
© Amnesty International
Amnesty International Report 2011 - Zur weltweiten Lage der Menschenrechte (Periodischer Bericht, Deutsch)
Amnesty International Report 2011 - The State of the World's Human Rights (Periodischer Bericht, Englisch)