a-e3828 (ACC-GEO-3828)
Nach einer Recherche in unserer Länderdokumentation und im Internet können wir Ihnen zu oben genannter Fragestellung Materialien zur Verfügung stellen, die unter anderem folgende Informationen enthalten:
Allgemeine Information zu den Kisten (Kists) in Georgien
Nach Angaben des Encyclopedia Dictionary (zitiert nach Caucasian Knot), der Minority Rights Group International (MRGI) und eines für die UN Commission on Human Rights herausgegebenen Artikels zu Minderheiten im Südkaukasus (verfasst von Anna Matveeva) leben die Kisten (engl. kists, auch kistins, kisti, kiti) im Pankisi-Tal in Kachetien, im Norden der Region Achmeta an der Grenze zu Tschetschenien (Encyclopedia Dictionary, Kists, 1999; MRGI, 17. Juli 2002, S. 19; UN Commission on Human Rights, 05. Mai 2003, S. 14).
Kurtsikidze und Chikovani erwähnen in ihrer Studie zur ethnographischen Zusammensetzung des Pankisi-Tals, dass die Kisten zwischen 1830 und 1870 aus dem Nordkaukasus in die Region des Pankisi-Tals einwanderten (Kurtsikidze, 2002, S. 3). In einem Bericht des Conflict Studies Research Centre (CSRC) werden zwei weitere Theorien über die Einwanderung der Kisten nach Georgien genannt. So sollen die Kisten einer Theorie zufolge zu Beginn der 1830er Jahre nach Eskalation des ‚Langen Kaukasischen Kriegs’ von dem kleinen Fluss Kistinka, der südlich von Wladikawkas in den Terek mündet, in das Pankisi-Tal eingewandert sein. Eine andere Theorie besagt laut CSRC, dass die Einwanderung der Kisten bereits im 17. Jahrhundert begonnen und Mitte des 19. Jahrhunderts abgeschlossen war (CSCR, März 2002, S. 6).
Heute sind nach Angaben von Matveeva 65 Prozent der Bevölkerung des Pankisi-Tals ethnische Kisten, 34 Prozent Georgier und 11 Prozent Osseten (UN Commission on Human Rights, 05. Mai 2003, S. 14). Matveeva beziffert die Zahl der im Pankisi-Tal lebenden ethnischen Kisten mit 8.000, Kurtsikidze/Chikovani sprechen in ihrem der UN Commission on Human Rights vorgelegten Bericht von ca. 5.000 (UN Commission on Human Rights, 05. Mai 2003, S. 14; Kurtsikidze, 2002, S. 3).
Laut der oben bereits genannten Encyclopedie und der von Kurtsikidze und Chikovani verfassten ethnographischen Studie leben die Kisten in den Dörfern Jokolo, Dzibakhevi, Duisi, Omalo und Shua-Khalatsani. Die Encyclopedie listet darüber hinaus auch Zemo-Khalatsani, Birkiani, Khorajo und Chkhatana als von Kisten besiedelte Dörfer aus (Encyclopedia Dictionary, Kists, 1999; Kurtsikidze, 2002, S.13). Nach Angaben von Kurtsikidze und Chikovani siedelten sich die Kisten im Pankisi-Tal nach dem Familienprinzip (Familie = kin) an: mehrere Familien, zwar mit verschiedenen Namen aber Abkömmlinge desselben Klans (teip) siedelten sich im gleichen Distrikt (kup; auf georgisch: ubani) an (Kurtsikidze, 2002, S. 14).
Von den Tschetschenen und Inguschen werden die Kisten gurjiyekhar nokhchi/vainakh – “georgische Tschetschenen/Vainachen (Weinachen)“ genannt. Der Dialekt der Kisten besteht laut Encyclopedie aus den in den Dörfern Jokoi, Duis und Omaloi gesprochenen Subdialekten (Encyclopedia Dictionary, Kists, 1999). Laut Kurtsikidze und Chikovani beherrschen die Kisten sowohl Russisch als auch Georgisch (Kurtsikidze, 2002, S. 3).
Kisten haben nach der Einwanderung ins Pankisi-Tal, so Kurtsikidze und Chikovani, ihre Familiennamen mit bestimmten Suffixen versehen: -schwili (-shvili; bedeutet im Georgischen ‚Kind’); -dse (-dze; bedeutet im Georgischen ‚Sohn’) oder –uli (bedeutet im Georgischen ‚abstammen von’). Zu den typischen Familiennamen in den von Kisten bewohnten Dörfern im Pankisi-Tal zählen Duishvili, Tskhadadze, Kotorashvili, Mghebrishvili, Gakhutashvili, Gonashvili, Tsintsalashvili und Bekauri (Kurtsikidze, 2002, S. 14, Fußnote 31 und 32).
Kurtsikidze und Chikovani erwähnen darüber hinaus, dass sich die Kisten streng an Familientraditionen und Gebräuche halten und eine Anpassung an andere nordkaukasische Volksgruppen wie z.B. die Tschetschenen oder Inguschen vermeiden. Bis zum heutigen Tag bezeichnen sie sich selbst als Kisten, für offizielle Zwecke deklarieren sie sich als georgische Staatsbürger (Kurtsikidze, 2002, S. 14). MRGI erwähnt, dass es nach dem Zerfall der Sowjetunion unter den Kisten zu einem wieder Erstarken der traditionellen Normen kam. Dem so genannten teip (Klan) sitzt ein Klan-Ältester vor, dem alle anderen teip-Mitglieder Respekt zollen (MRGI, 17. Juli 2002, S. 19; umfassende Informationen zu den teip-Strukturen der Kisten finden Sie bitte bei Kurtsikidze/Chikovani auf Seite 15). Die eigentliche traditionelle Familie ist patriarchalisch strukturiert. Sollte der Vater sterben, rückt automatisch der älteste Sohn an dessen Stelle nach (Kurtsikidze, 2002, S. 16). Zur Rollenverteilung innerhalb der Familie konsultieren Sie bitte die Seiten 16-17 der von Kurtsikidze und Chikovani verfassten Studie).
Religion
Laut Minority Rights Group International bekennen sich die Kisten weitgehend zum sunnitischen Islam (Minority Rights Group International, 05. Mai 2003, S. 20). CSCR weist allerdings darauf hin, dass auch einige Kisten den christlichen Glauben angenommen haben (CSCR, März 2002, S. 6). Erst während des ersten Tschetschenienkriegs begannen, so MRGI, radikale islamische Strömungen (Wahhabismus) im Pankisi-Tal Fuß zu fassen, nachdem einige Kisten freiwillig mit islamischen Kämpfern in Kontakt traten (MRGI, 05. Mai 2003, S. 20). Kurtsikidze/Chikovani erwähnen in diesem Zusammenhang, dass – obwohl die Mehrheit der Kisten nicht mit dem Wahhabismus sympathisiere – der radikale Islam unter der jungen Generation, insbesondere unter den Arbeitslosen, Anhänger gefunden habe. Viele der Jungen, so Kurtsikidze/Chikovani, seien zunehmend von der wahhabistischen Version des „muslimischen Sozialismus“ fasziniert und bewundern den Kampf der Tschetschenen (Kurtsikidze/Chikovani, 2002, S. 30).
Nach Angaben von Kurtsikidze/Chikovani verehren die Kisten die Khevsur Gottheiten (jvari) und bringen ihre Opfer am Schrein Anatori jvari in der Nähe des Dorfes Khevsureti in Shatili (an der georgisch-tschetschenischen Grenze) dar. Obwohl, so Kurtsikidze/Chikovani weiter, die Kisten heutzutage in der Moschee im Dorf Duisi beten, werden als Gebetstätten ebenso bereits in Ruinen stehende historische Stätten benutzt. Darüber hinaus beten die Kisten nach Angaben von Kurtsikidze/Chikovani auch in der Kirche St. Georg in Jokolo und besuchen die Feierlichkeiten für das Fest Alaverdoba in der Alaverdi Kirche in Kachetien. Darüber hinaus feiern die Kisten auch Tetri Giorgoba oder das Fest des Heiligen Georgs (Kurtsikidze, 2002, S. 26).
Die moslemischen Rituale sind laut Encyclopedie eng mit den alten Traditionen der Kisten verwoben; sie zeigen sich im Alltagsleben, beispielsweise in der Tradition des Grüßens. Gäste grüßen der Tradition nach als erstes: Männer werden auf Arabisch, Frauen im Dialekt der Kisten gegrüßt. In der Encyclopedie heißt es weiters, Männer antworten auf Arabisch und im Dialekt der Kisten. Frauen werden generell nicht auf Arabisch angesprochen (Encyclopedia Dictionary, Kists, 1999).
Von den moslemischen Feiertagen feiern die Kisten das Fest des Fastenbrechens (maarkh dastar) und das Opferfest (gurba de). Nach der Tradition der Kisten, so die Encyclopedie, wird das Opfer einem Familienmitglied geweiht. Gewöhnlich kaufen vier Familien zusammen eine Kuh oder einen Bullen und die Person, der das Opfer geweiht ist, muss das Tier einen Schlag auf den Rücken versetzen. Das Fleisch des Opfertiers wird in sieben Teile geteilt, ein Teil ist für Vollwaisen reserviert. Während des Fastenmonats nehmen die Kisten laut Encyclopedie ihr Abendessen um 19 Uhr, das Frühstück zwischen 4-5 Uhr morgens zu sich (Encyclopedia Dictionary, Kists, 1999).
Weitere Detailinformationen zu religiösen Gebräuchen der Kisten finden Sie in der Encyclopedie sowie in der von Kurtsikidze und Chikovani verfassten ethnographischen Studie auf den Seiten 25-30.
Sitten und Gebräuche
Frauen besitzen nur minimale Rechte und müssen sich laut MRGI den Männern unterordnen. Darüber hinaus, so MRGI, wird die Ehre von Frauen und Mädchen streng überwacht und Ehrverletzungen hart bestraft. Zwangsheiraten, Brautentführungen und Ehrenmorde sind im Zunehmen begriffen (MRGI, 17. Juli 2002, S. 19).
Eine umfassende Darstellung von Hochzeitsbräuchen, Beerdigungszeremonien oder Informationen über das Gewohnheitsrecht finden Sie bitte auf den Seiten 18-22. Wir bitten Sie um Verständnis, dass es uns aufgrund begrenzter Kapazitäten leider nicht möglich ist, die Detailinformationen ins Deutsche zu übersetzen.
Die Blutrache (tsii ietsar) ist, so die Minority Rights Group International weiter, bei den Kisten ein lebendiger Brauch (MRGI, 17. Juli 2002, S. 19). Anders als beispielsweise bei den Tschetschenen, so Kurtsikidze, stellt sich die Frage der Blutrache nicht, wenn es sich bei dem Opfer um ein Familien-, Klanmitglied oder einer Person mit der gleichen Ahnenreihe handelt; in diesen Fällen wird das Geschehen innerfamiliär mit Hilfe von Schlichtern gelöst. Bei Mordfällen zwischen Angehörigen verschiedener Gemeinschaften, wird laut Kurtsikidze/Chikovani von beiden Seiten erwartet, dass sie Schritte zur Schlichtung unternehmen. Vor der eigentlichen Rache sendet die Opferseite eine aus einer neutralen Familie stammenden Repräsentanten zur Familie des Täters zur Erklärung der Blutfehde. Die Familie des Täters kann nun entweder die Anklage akzeptieren oder anfechten. Sollte sie den Tatvorwurf anfechten, so kann die Familie nach Angaben von Kurtsikidze/Chikovani einfordern, dass das traditionelle Gericht (kkhiel; besteht bei den Kisten aus einer ungeraden Zahl von Mitgliedern) den Streitpunkt behandelt. Befindet das kkhiel den Verdächtigen für schuldig, erteilt es der Opferseite die Erlaubnis für die Durchführung der Blutrache. Hierauf, so Kurtsikidze/Chikovani, wird die Täterseite eine Gruppe von Mitgliedern neutraler Familien zur Opferseite schicken, mit der Bitte, dass „nur das Blut des Mörders vergossen“ werde. Generell, so Kurtsikidze/Chikovani weiter, wird dies von der Familie des Opfers akzeptiert. Einzig, wenn der Täter noch vor Durchführung der Rache stirbt, wird die Blutfehde automatisch auf die engsten Verwandten übertragen (Kurtsikidze, 2002, S. 23). Für Informationen über weitere mögliche Arten der Ausführung der Blutrache konsultieren Sie bitte Kurtsikidze/Chikovani, S. 24-25).
Situation im Pankisi-Tal: Interethnische Spannungen, Tschetschenienkonflikt
Hintergund
Sowohl die Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) als auch MRGI und das Institute for War and Peace Reporting (IWPR) zählen die Sicherheitslage im Pankisi-Tal zu den schlechtesten im Kaukasus (MRGI, 17. Juli 2002, S. 19), zum explosivsten Gebiet Georgiens (SFH, 05. März 2003, S. 8); die Sicherheitslage im Pankisi-Tal im Jahr 2001 sei bereits so instabil, dass Tbilisi leicht die Kontrolle verlieren könnte (IWPR, 31. Juli 2001). Laut SFH liefern sich seit dem zweiten Tschetschenienkrieg Geiselnehmerbanden, Drogenschmuggler und paramilitärische Gruppen zum Selbstschutz (home guards) immer wieder Kämpfe (SFH, 05. März 2003, S. 8).
Interethnische Spannungen
IWPR sieht die Ursachen der problematischen Lage im Pankisi-Tal in der prekären sozio-politischen und ethnischen Balance (IWPR, 31. Juli 2001).
Nach Angaben von Minority Rights Group International (MRGI) haben sich die inter-ethnischen Beziehungen im Pankisi-Tal in den 1990er Jahren verschlechtert. Nach Ausbruch des Süd-Ossetien-Konflikts mussten die meisten Osseten aus den anderen Regionen Georgiens, so auch aus dem Pankisi-Tal, fliehen. In den von den Osseten verlassenen Dörfern im Pankisi-Tal siedelten sich nach Angaben von MRGI Kisten an. Die zurückgebliebenen Osseten sahen sich darauf hin Übergriffen und Schikanen durch Kisten ausgesetzt, während die überwiegend ethnisch georgische Polizei durch die wachsende Kriminalität lahm gelegt wurde. Des Weiteren berichtet MRGI davon, dass sich während des Ersten Tschetschenienkriegs viele Kisten bewaffneten. Seither, so MRGI, hat sich die Sicherheitssituation verschlechtert, Plünderungen des Viehbestands oder gewaltsame Übergriffe auf sowie Entführungen von ethnischen Osseten, Pshavs und Tushins haben zugenommen (MRGI, 17. Juli 2002, S. 20). Laut MRGI warfen Osseten den Exekutivbehörden Untätigkeit vor; viele georgische oder ossetische Bewohner des Pankisi-Tals gaben an, machtlos gegen den Druck, das Tal zu verlassen, zu sein. So wurden beispielsweise die Osseten in Tsinubani von den Kisten vertrieben, die anschließend dort die Sharia einführten (MRGI, 17. Juli 2002, S. 20).
Die Beziehungen zwischen den ethnisch georgischen Dörfern der umliegenden Region Kachetien und den Kisten gestalte sich nach Angaben von MRGI etwas anders. Zum Zwecke des Selbstschutzes sollen die georgischen Bewohner beispielsweise so genannte home guards aufgestellt haben (MRGI, 17. Juli 2002, S. 20). Eurasianet berichtet in einem Artikel vom 15. Januar 2002, dass ethnisch motivierte Spannungen zwischen tschetschenischen und georgischen Gemeinden im Pankisi-Tal in den vergangenen Jahren gefährliche Ausmaße angenommen haben. Im Juli 2001, stand das Tal laut Eurasianet kurz vor einer bewaffneten Auseinandersetzung zwischen Vigilantengruppen. Durch die Intervention von Dorfältesten und angeblich auch von einigen tschetschenischen Warlords konnten die Spannungen entschärft werden (Eurasianet, 15. Januar 2002). Nach Ansicht der lokalen Bevölkerung, so MRGI, trage die Anwesenheit tschetschenischer Flüchtlinge im Pankisi-Tal zur Verschlechterung der Sicherheitslage und wachsenden inter-ethnischen Spannungen bei. Alle Bevölkerungsgruppen des Tals stimmen laut MRGI allerdings darin überein, dass der Hauptfaktor für die prekäre Situation, in der Untätigkeit der zentralen und lokalen Exekutivorgane zu sehen ist (MRGI, 17. Juli 2002, S. 20).
Die Spannungen im Jahr 2001 wurden darüber hinaus durch mehrere Geiselnahmen verschärft. Im Juli 2001 wurden nach Angaben von IWPR im Pankisi-Tal zwei georgische Einheimische entführt. Die Dorfbewohner sollen darauf hin das Recht in die eigene Hand genommen und sieben Kisten entführt haben. Das Auftreten von derartigen inoffiziellen georgischen paramilitärischen Gruppen ist laut IWPR besonders kennzeichnend für diese Episode von Geiselnahmen. Durch den Austausch der Gefangenen Ende Juli 2001 sollen die Spannungen abgeflaut sein (IWPR, 31. Juli 2001; siehe auch USDOS, 04. März 2002, Sek. 1b).
Tschetschenienkonflikt – Pankisi-Tal
In dem von der deutschen Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) im Juli 2003 herausgegebenen Artikel „Krieg gegen den Terrorismus im Südkaukasus? Die USA entsenden Militärberater nach Georgien“ fasst der Autor Jürgen Schmidt den Hintergrund des Pankisi-Problems folgendermaßen zusammen:
„Insbesondere seit dem Beginn des zweiten russischen Tschetschenienkriegs 1999 steht das Tal außerhalb der Kontrolle georgischer Staatsmacht. Es wurde in dieser Zeit nicht nur Zufluchtsort von mehreren Tausend Flüchtlingen aus Tschetschenien, sondern auch von Kriminellen aus der ganzen Region. Von Pankisi aus betreiben sie - angeblich protegiert von kriminellen Elementen in der georgischen Regierung und dem Innenministerium - einträgliche Geschäfte wie Waffen- und Drogenhandel sowie Entführungen. Unter den Flüchtlingen aus Tschetschenien befinden sich auch bewaffnete Vertreter des radikal-islamistischen Lagers des tschetschenischen Widerstands. Neben der Teilhabe an den kriminellen Aktivitäten nutzen diese die Schlucht insbesondere als Rückzugs- und Durchgangsgebiet für ihren Kampf in Tschetschenien. Dabei werden sie insbesondere von saudischen Nichtregierungsorganisationen und türkischen Extremisten logistisch und finanziell unterstützt.“ (SWP, 22. Juli 2003)
Bei der Schweizerischen Flüchtlingshilfe heißt es in diesem Zusammenhang:
„Die Aufnahme von 7000 tschetschenischen Flüchtlingen in der mehrheitlich von "Kists" (Nachkommen von zu Beginn des letzten Jahrhunderts niedergelassenen TschetschenInnen) bewohnten Region verschärft die bestehenden Probleme nur. Georgische PolitikerInnen hegten schon lange den Verdacht, dass russische Truppen hinter den Entführungen (auch von AusländerInnen) stecken, um die Region zu destabilisieren. Die georgischen Behörden sträuben sich bis heute, Sicherheitstruppen in die Gegend zu schicken. Der Vorschlag des Vorsitzenden der parlamentarischen Kommission für Sicherheit ,Giorgi Baramidze, die "home guards" offiziell zu anerkennen und sie mit polizeilichen Befugnissen auszustatten, scheiterte an rechtlichen Bedenken der Justiz.“ (SFH, 05. März 2003, S. 8)
Der Internetseite des georgischen Internet Magazins Georgien News.de konnte eine deutschsprachige Zusammenfassung einer im März 2002 vom amerikanischen Instituts für Internationale Strategische Studien (CSIS) angefertigten Analyse zur Lage in Georgien und der möglichen Anwesenheit der Al-Quaida im Kaukasus entnommen werden. Hierin heißt es zur Situation im Pankisi-Tal:
„Russische Behörden befürchteten, dass tschetschenische und arabische Kämpfer den Vorteil der Gesetzlosigkeit im Pankisi ausnutzten und dieses Gebiet als eine Basis für militärische und terroristische Aktivitäten gegen Russland nutzen. Die russische Führung beklagte, dass Hunderte tschetschenischer Kämpfer unter dem Vorwand, Flüchtlinge zu sein, Georgien betraten (ebenso Daghestan und Inguschetien – das sind die beiden Nachbarrepubliken Tschetscheniens in der Russischen Föderation, Anm. des Übersetzers) und nach einer medizinischen Behandlung ihre terroristische Tätigkeit gegen Russland wieder aufnähmen. Daraufhin bat der russische Präsident Boris Jeltzin Schewardnadse um die Erlaubnis, die russischen Militärbasen in Georgien als Stützpunkt für Attacken in Tschetschenien benutzen oder, als Alternative, russische Grenzschutztruppen im Pankisi postieren zu dürfen. Schewardnadse willigte auf diese russische Anfrage nicht ein, indem er die Anwesenheit von Tausenden Kisten und tschetschenischen Flüchtlingen im Pankisi berücksichtigte und zur Ansicht gelangte, dass eine gemeinsame georgisch-russische Militäroperation Georgien unweigerlich in den Tschetschenienkrieg hineinziehen würde.
Seither verstärkte Russland systematisch seine Anschuldigungen gegenüber Georgien. Die russische Führung unter Jeltzin beschuldigte Georgien in strenger Form, tschetschenische islamistische Mujahedin in Georgien zu dulden und sie im Pankisital zu beherbergen. Der zweite Tschetschenienkrieg hievte Putin mit dem Versprechen ins Zentrum des nationalen Interesses, die Rebellion niederzuschlagen und die russische Herrschaft in Tschetschenien wieder herzustellen. Dies hat unsausweigerlich Putins Handlungsspielraum eingeschränkt und ihn gezwungen, den Tschetschenienkrieg fortzuführen anti-georgische Stellungnahmen zum Thema Pankisi und Terrorismus abzugeben.“ (Georgien News.de, 11. März 2002)
Bei der Stiftung für Wissenschaft und Politik heißt es zu den Entwicklungen nach dem September 2001:
„Eine zweite Konsequenz für Georgien aus der neuen Aufmerksamkeit für die „no-go areas“ liegt in der Verknüpfung mit Präsident Buschs Rede vor dem US-Kongress vom 20. September 2001: „From this day forward, any nation that continues to harbor or support terrorism will be regarded by the United States as a hostile regime.“ Zu diesem Zeitpunkt war bereits dokumentiert, dass tschetschenische Kämpfer und Mudschahedin das Pankisital zu einem solchen Zufluchtshafen ausgebaut hatten. Ursprünglich war das Pankisital in seiner rechtsfreien Anlage laut dem Mitglied des georgischen Antikorruptionsrates, Giwi Targamadze, von russischen und tschetschenischen Drogenbossen künstlich geschaffen worden. Involviert sollen hier auch der russische Oligarch Boris Beresowskij und sein langjähriger georgischer Geschäftspartner Badri Patarkatsischwili gewesen sein. Letzterer konnte angeblich durch seine engen Beziehungen zum damaligen Innenminister Kakha Targamadse die nötigen Sicherheitsarrangements für ein ungestörtes Wirtschaften ermöglicht haben. Später entwickelte sich dieses Tal nahe der georgisch-russischen Grenze zu einer problematischen Gemengelage aus tschetschenischen Flüchtlingen, Freiheitskämpfern, Kriminellen mehrerer ethnischer Mafias und islamistischen Fundamentalisten. Es war in Georgien fürr diese Konfliktbeteiligten und Nutznießer genau so einfach, sich Waffen, Pässe oder freien Weg zu erkaufen wie im Nordkaukasus und in Tschetschenien selbst. Durch die mittlerweile verbürgte und in ihren Ausmaßen bedeutsame Al-Kaida-Präsenz in Pankisi wurde Georgien objektiv zum Teil des Problems Tschetschenien für Moskau, und zum Teil des US-geführten Krieg gegen den Internationalen Terrorismus.“ (SWP, 22. Januar 2002, S. 13-14)
Anwesenheit tschetschenischer Separatisten im Pankisi-Tal
Nach Angaben der Süddeutschen Zeitung (SZ) hatte Moskau seit langem von Georgien vergeblich gefordert, dass es die Aktivitäten der tschetschenischen Rebellen im Pankisi-Tal unterbinde. Die Rebellen, so die SZ, würden von Georgien aus zum Kämpfen über die Grenze nach Tschetschenien gehen (SZ, 28. August 2002). Nach Schätzungen der georgischen Behörden sollten sich mit Stichtag 31. August 2002 bis zu 160 tschetschenische Rebellen im Pankisi-Tal aufgehalten haben (Eurasianet, 03. September 2002). Laut dem Heidelberger Institut für Internationale Konfliktforschung (HIIK) soll sich zeitweise eine etwa 1.500 – 2.000 Mann starke Rebellengruppe, darunter der Feldkommandeur Ruslan Gelajew, im Pankisi-Tal aufhalten (HIIK, 13. Dezember 2002‚ 'Georgien’; 'Tschetschenien’).
Das Heidelberger Institut für Internationale Konfliktforschung skizziert die im Zusammenhang mit Tschetschenien stehenden Entwicklungen im Pankisi-Tal wie folgt:
„Im Februar 2000 schließt Georgien die Grenze zu Tschetschenien. Im Dezember darauf führt Russland gegenüber Georgien einseitig die Visumspflicht ein mit dem Hinweis, Georgien sei nicht in der Lage, die 80 km lange Grenze zu Tschetschenien zu kontrollieren. Der georgische Präsident Eduard Schewardnadse ruft wegen der hohen Kriminalitätsrate im Grenzgebiet den Ausnahmezustand aus; etwa 1500 tschetschenische Rebellen sollen sich im grenznahen Pankisi-Tal aufhalten. Monatelang beschränken sich die Spannungen zwischen Georgien und Russland auf den Austausch von Protestnoten.
Nach den Terroranschlägen in den USA vom 11.9.01 findet Russland zunehmend internationale Unterstützung für seinen Krieg gegen Tschetschenien, den es als Anti-Terror-Kampf bezeichnet. Nachdem der russische Außenminister öffentlichen Mutmaßungen über einen Al-Qaida-Stützpunkt in der Pankisi-Schlucht äußert, fliegt die russische Luftwaffe sporadisch nächtliche Bombenangriffe auf das georgische Grenzgebiet.
[…]
Bereits im Herbst 2001 werden mehrere Hundert tschetschenische Kämpfer von georgischen Sicherheitskräften aus dem Pankisi-Tal in die Kodori-Schlucht auf abchasischem Gebiet transportiert. Die Tschetschenen starten kurz darauf gemeinsam mit georgischen Verbänden eine Offensive gegen abchasische Separatisten, die wiederum von den Russen unterstützt werden und deshalb den Angriff zurückschlagen können.
[…]
Im Februar [2002] beginnt eine militärische Zusammenarbeit zwischen Georgien und den USA, bei der u.a. eine antiterroristische Operation im Pankisi-Tal geplant werden soll. Nur vereinzelt wenden sich russische Politiker gegen die US-amerikanische Beteiligung.
Im Juli [2002] protestiert das georgische Außenministerium gegen die Verletzung des eigenen Luftraums durch russische Angriffe. Russland seinerseits wirft der georgischen Regierung vor, die Lage nicht zu beherrschen und fordert ein gemeinsames russisch-georgisches Vorgehen gegen die Rebellen. Am 23.8. [2002] fliegt die russische Armee erneut einen Angriff auf georgische Dörfer, Mindestens ein Mensch wir dabei getötet, mehrere verletzt. Nun protestieren auch die USA gegen die Verletzung der georgischen Souveränität.“ (HIIK, 13. Dezember 2002, ‚Georgien’; siehe auch SZ, 28. August 2002)
Laut IWPR signalisierte das georgische Innenministerium Mitte Januar 2002, georgische Sicherheitskräfte für die Durchführung von Spezialoperationen im Pankisi-Tal abzustellen, um die dortige Gesetzlosigkeit zu beseitigen und die staatliche Kontrolle wieder herzustellen (IWPR, 25. Januar 2002; siehe auch Eurasianet, 03. September 2002). Im August 2002 flogen nach Angaben der SZ unidentifizierte Kampfflugzeuge mindestens vier Angriffe auf das Pankisi-Tal. OSZE-Beobachter machten dem SZ-Artikel zufolge Moskau für die Angriffe verantwortlich. Die SZ berichtet weiters:
„Am Sonntag waren dann überraschend georgische Truppen in die Schlucht einmarschiert. Die georgische Führung gab aber schon am Dienstag bekannt, dass bei der Militäraktion kein einziger tschetschenischer Rebell festgenommen worden sei. Offenbar hätten die Kämpfer sich über die Grenze abgesetzt“ (SZ, 28. August 2002).
In der mit einer Beteiligung von einer 600 Mann starken Truppe des georgischen Innenministeriums und weiteren 1.500 Soldaten durchgeführten Militärmanövers am 25. August 2002 konnte Tbilisi seine Autorität über das Tal wiederherstellen (siehe auch BBC, 02. September 2002; FR, 02. Oktober 2002; FR, 17. September 2002; IWPR, 05. September 2002). Am 2. September versicherte Schewardnadse, so das Heidelberger Institut für Internationale Konfliktforschung, die Situation unter Kontrolle zu haben und lehnte eine russische Beteiligung an der Operation weiterhin ab (HIIK, 13. Dezember 2002, ‚Georgien’):
„Georgische Behörden beginnen, mit Hilfe der eingerichteten Checkpoints in Pankisi die Flüchtlinge zu erfassen und neue Personalausweise auszustellen. Die USA stellen Georgien ein 64 Mio. $ umfassendes Ausbildungs- und Ausrüstungsprogramm in Aussicht, um gegen mutmaßliche Al-Qaida-Kämpfer in Pankisi vorzugehen.
Der georgische Präsident beschuldigt das russische Militär, absichtlich immer mehr tschetschenische Rebellen über die Grenze zu treiben. Umgekehrt wirft Putin den georgischen Behörden vor, tschetschenische Rebellen nicht auszuliefern.
Im September ordnet Schewardnadse eine Anti-Terror-Operation an, an der amerikanische und nun auch russische Elitesoldaten beteiligt sind. 40 mutmaßliche Kriminelle und Rebellen werden festgenommen.” (HIIK, 13. Dezember 2002, ‚Georgien’)
Nach Angaben der Frankfurter Rundschau (FR) wurden ca. 30 (FR, 23. September 2002) - 40 Kriminelle im Zuge der Operationen festgenommen (FR, 02. Oktober 2002), darunter 25 Tschetschenen und ein Franzose arabischer Herkunft (FR, 23. September 2002); nach Angaben der SZ konnte kein einziger tschetschenischer Rebell festgenommen werden (siehe Zitat oben; SZ, 28. August 2002). Die Presse berichtet am 2. Oktober 2002, dass „der georgische Militäreinsatz die tschetschenischen Rebellengruppen tatsächlich auf russisch kontrolliertes Gebiet zurückdrängte, wo sie in schwere und verlustreiche Kämpfe verwickelt wurden.“ (Die Presse, 02. Oktober 2002). Eurasianet erwähnt wiederum in einem Artikel vom 6. Januar 2003, dass der ehemalige Verteidigungsminister Tengis Kitowani Journalisten in Moskau berichtete, es hätten sich im Winter 2002/2003 noch 700 tschetschenische Kämpfer im Pankisi-Tal aufgehalten (Eurasianet, 06. Januar 2003).
Nach Angaben von Eurasianet warnten die russischen Grenztruppen am 17. Dezember 2002, dass ca. 40 Kämpfer des tschetschenischen Warlords Ruslan Gelajew Vorbereitungen treffen würden, sich aus dem Pankisi-Tal nach Inguschetien einzuschleusen (Eurasianet, 06. Januar 2003).
Situation im Pankisi-Tal heute
Nach Angaben des Online Magazins Civil Georgia, Eurasianet und Prima News Agency geben die georgischen Sicherheitskräfte an, nach mehreren Sicherheitsoperationen seit August 2002 das Pankisi-Tal von bewaffneten Gruppen tschetschenischer Separatisten, Terroristen und arabischer Extremisten „gereinigt“ zu haben (Civil Georgia, 22. Dezember 2003; Eurasianet, 05. Februar 2003; Prima News Agency, 21. Oktober 2003). Prima News Agency berichtet im November 2003 vom Rückzug georgischer Soldaten, Panzer und bewaffneter Fahrzeuge aus dem Pankisi-Tal, da die Lage dort nach Aussage des Kommandanten der Verteidigungstruppen, Giorgi Scherwaschidse, stabil sei (Prima News Agency, 11. November 2003).
Dennoch bemerkt Eurasianet, dass die Sicherheitslage im Pankisi-Tal weiterhin „ein nicht kalkulierbares Risiko“ bleibe und das Tal nicht zur Gänze unter georgischer Kontrolle stehe (Eurasianet, 05. Februar 2003).
Westlicher Medienberichterstattung zufolge, so Eurasianet, könnten möglicherweise radikale Islamisten Trainingscamps und biologische Waffenlabore im Pankisi-Tal aufgebaut haben. Von offizieller Seite her sollen diese Vermutungen allerdings vehement heruntergespielt worden seien (Eurasianet, 05. Februar 2003; siehe auch Eurasianet, 22. Januar 2003). Das Online Magazine Civil Georgia verweist in einem Artikel vom 24. Dezember 2003 auf russische Vorwürfe gegenüber Tbilisi, Georgien würde noch immer Terroristen auf seinem Gebiet Zuflucht gewähren, die sich über das Pankisi-Tal nach Russland einschleusen würden (Civil Georgia, 24. Dezember 2003).
In Pressemeldungen vom Februar 2004 berichten Prima News Agency und Civil Georgia Online Magazine, Präsident Saakaschwili habe angekündigt, gegen den Wahhabismus in Georgien vorzugehen. Dabei soll er, so Prima News, einige Regionen des Pankisi-Tals als Zentren des „Wahhabismus“ bezeichnet haben. In diesem Zusammenhang soll Saakaschwili am 18. Februar 2004 erklärt haben, all jene, die sich in Georgien – einschließlich im Pankisi-Tal -, zum Wahhabismus bekennen, zu neutralisieren (Prima News Agency, 19. Februar 2004; Civil Georgia, 18. Februar 2004).
In dem ACCORD derzeit aktuellsten uns vorliegenden und zur Situation im Pankisi-Tal Stellung nehmenden Medienbericht erwähnt Radio Free Europe/Radio Liberty (RFE/RL), dass Innenminister Zhvania am 26. April 2004 bei einer Rede in Washington das Zugeständnis gemacht habe, die frühere Regierung hätte auf die wiederholten Vorwürfe Russlands zur Anwesenheit von Terroristen im Pankisi-Tal nicht angemessen reagiert. Zhvania soll daraufhin angekündigt haben, dass die neue georgische Regierung keine Terroristen auf georgischem Boden dulden werde (RFE/RL, 27. April 2004).
Bereits im März 2004 soll der georgische Minister für Konfliktlösung, Chaindrawa (Khaindrava), ausländische Journalisten eingeladen haben, sich mit eigenen Augen ein Bild über die Lage im Pankisi-Tal zu machen und die russischen Vorwürfe, tschetschenische Kämpfer benützten das Tal als Rückzugsgebiet, zu überprüfen (RFE/RL, 04. März 2004).
Diese Informationen beruhen auf einer zeitlich begrenzten Recherche in öffentlich zugänglichen Dokumenten, die ACCORD derzeit zur Verfügung stehen. Die Antwort stellt keine abschließende Meinung zur Glaubwürdigkeit eines bestimmten Asylansuchens dar.
Quellen: