Dokument #2002958
Nietsch, Julia (Autor), veröffentlicht von bpb – Bundeszentrale für politische Bildung (Deutschland)
14.2.2018 | Von:
Zur Person
Julia Nietsch, geb. 1977, hat über drei Jahre auf dem Balkan gearbeitet. Sie hat in Düsseldorf Englisch, Französisch, Philosophie und in Paris Internationale Beziehungen und Entwicklungspolitik studiert. Sie ist derzeit in Paris in einem großen Unternehmen tätig und promoviert über zivilgesellschaftliche Organisationen in Kosovo an der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales (EHESS).
In einem Klima nationalistischer Rhetorik und wechselseitiger Provokationen gab es 2016/2017 kaum Fortschritte im von der EU vermittelten Dialogprozess zwischen Kosovo und Serbien. In der Folge blieb auch die Integration der serbischen Minderheit schwierig. Kosovo-Albaner und Kosovo-Serben leben weitgehend getrennt voneinander.
[IMG | SOURCE: /cache/images/2/219112-3x2-article620.jpg?7886D | ALT: Pristina am 28.11.2015: Oppositionelle Proteste gegen das Abkommen zwischen Serbien und Kosovo.] Pristina am 28.11.2015: Oppositionelle Proteste gegen das Abkommen zwischen Serbien und Kosovo. (© picture-alliance/dpa)
[IMG | SOURCE: /cache/images/7/263127-1x1-article620.jpg?4FAFD | ALT: Karte vom Kosovo] Karte vom Kosovo [IMG | SOURCE: /sites/all/themes/bpb/images/icon_pdf_imtext.png | ALT: PDF-Icon] Hier finden Sie die Karte als hochauflösende PDF-Datei Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ (mr-kartographie)
In Kosovo können mehrere miteinander verwobene Konfliktebenen unterschieden werden:
Durch ethnische, familiäre und politische Zugehörigkeit geprägte informelle Netzwerke, die von den politischen Parteien gezielt unterstützt und alimentiert werden, bestimmen das politische und wirtschaftliche Leben. Wichtige Entscheidungen werden so außerhalb der staatlichen Institutionen getroffen. Während einige wenige von diesem System profitieren, sind 27,5% der Kosovaren arbeitslos, von den unter 25-Jährigen sogar 57%; 30% leben mit weniger als 1,70 Euro pro Tag deutlich unter der Armutsgrenze.
Analysten sprechen von der "Vereinnahmung des Staates" (Englisch: state capture) durch die herrschenden politischen Eliten, die ungestraft ihre Macht missbrauchen, um sich die wirtschaftlichen Ressourcen des Landes anzueignen und so den Sozial- und Rechtsstaat und die Demokratie unterhöhlen (BIEPAG 2017; Freedom House 2017). Nicht umsonst benennt Umfragen zufolge eine große Mehrheit der Kosovaren die schlechte wirtschaftliche Situation und die grassierende Korruption als die wichtigsten Probleme des Landes (Balkan Barometer 2017; UNDP 2017).
Notwendige politische und wirtschaftliche Reformen werden persönlichen Interessen untergeordnet. Machtkämpfe innerhalb der politischen Eliten blockieren längst fällige Reformen. Ein Beispiel ist die Schengen-Visafreiheit. 2016 hat die EU-Kommission vorgeschlagen, Kosovo als Gegenleistung für Fortschritte bei der Korruptionsbekämpfung Visafreiheit zu gewähren. Doch bislang hat Pristina die zweite Vorbedingung nicht erfüllt: die Ratifizierung des Abkommens über die Demarkation der kosovarisch-montenegrinischen Grenze. Dies scheitert seit zwei Jahren am z.T. gewaltsamen Widerstand der nationalistischen Parteien in der Opposition. Kosovo bleibt deshalb vorerst das einzige Westbalkanland mit Schengen-Visapflicht.
Das Wirtschaftswachstum, das seit mehreren Jahren über 3% beträgt, wird hauptsächlich durch den (für Korruption anfälligen) Bausektor getragen; so wurde eine Autobahn nach Albanien fertiggestellt, Autobahnen nach Mazedonien und Serbien sind in Arbeit. Hinzu kommen viele Immobilienbauprojekte, meist durch die Diaspora finanziert. Geldüberweisungen der Diaspora machen ca. 13% des Bruttoinlandsprodukts aus (EU 2015). Der Industriesektor ist unterentwickelt, die Schattenwirtschaft umfasst rd. 35% des Bruttoinlandsprodukts (US-Außenministerium 2017).
Internationale und einheimische Unternehmer und Investoren werden insbesondere von den unsicheren rechtlichen Rahmenbedingungen, von Korruption, Nepotismus und dem vergleichsweise geringen Bildungsniveau abgeschreckt. So schnitt Kosovo in der internationalen PISA-Studie von 2015 als einer der schlechtesten Staaten ab.
[IMG | SOURCE: /cache/images/4/263124-1x1-article220.jpg?71BA3 | ALT: Karte von Jugoslawiens Nachfolgestaaten] Karte von Jugoslawiens Nachfolgestaaten
[IMG | SOURCE: /sites/all/themes/bpb/images/icon_pdf_imtext.png | ALT: PDF-Icon] Hier finden Sie die Karte als hochauflösende PDF-Datei Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ (mr-kartographie)
Seit 2011 findet unter EU-Vermittlung ein Dialog für die Normalisierung der Beziehungen zwischen Kosovo und Serbien statt, der eng mit der regionalen EU-Integrationsstrategie verknüpft ist. Nachdem in einer ersten Dialogphase über zwanzig "technische" Fragen geklärt wurden, gipfelte ein politischer Dialog auf der Ebene der Regierungschefs im April 2013 in der Unterzeichnung des Brüsseler Abkommens. Daraufhin erhielt Serbien 2014 grünes Licht für den Beginn der EU-Beitrittsverhandlungen; 2015 unterzeichnete Kosovo das Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen mit der EU.
Die Strategie der Europäischen Union im Westlichen Balkan besteht im Kern darin, die Beitrittsperspektive für die Länder der Region an substanzielle Fortschritte bei der Überwindung der zwischen- und innerstaatlichen Konflikte zu koppeln. Dafür und für die Unterstützung von Reformen erhält Kosovo pro Jahr über 100 Mio. Euro. Die EU ist mit Abstand der wichtigste internationale Geber im Westlichen Balkan. Doch das Kalkül geht nicht auf, solange die EU-Staaten nicht bereit sind, tatsächlich neue Mitglieder aufzunehmen. Mit der Eintrübung der Beitrittsperspektive schwindet in den Hauptstädten der Region die Bereitschaft, die mit der EU vereinbarten Reformen umzusetzen. Darum kommt auch die Implementierung des Brüsseler Abkommens zwischen Kosovo und Serbien nicht voran.
Aus einer Mischung aus schlechtem Gewissen und Opportunismus lässt die EU die Regierungen im Westlichen Balkan weitgehend gewähren, solange diese bereit und in der Lage sind, innere und regionale Stabilität zu gewährleisten. Im Vergleich dazu hat die Durchsetzung von Rechtsstaatlichkeit, Medienfreiheit und zivilgesellschaftlicher Partizipation für die EU deutlich geringere Priorität. Analysten sprechen bereits von einer "Stabilitokratie", die sich in Kosovo und anderen Ländern des Westlichen Balkans etabliert habe (BIEPAG 2017).
Kritisiert wird auch, dass die EU bei der Begleitung des kosovarisch-serbischen Dialogs ausschließlich mit einigen führenden Politikern spricht und zusammenarbeitet. Parlament und Zivilgesellschaft bleiben außen vor, obwohl zahlreiche Initiativen seit Jahren einen zivilgesellschaftlichen Dialog zwischen Kosovo-Serben und Kosovo-Albanern pflegen. Auch Kosovo-Serben nehmen nicht an dem Dialogprozess teil, obwohl Nord-Kosovo ein zentrales Thema der Verhandlungen ist.
Schließlich ist zweifelhaft, ob langfristig Frieden geschaffen werden kann, ohne dass auf beiden Seiten die Kriegsvergangenheit aufgearbeitet und das Schicksal der rund 1.500 kosovarischen Vermissten geklärt ist. Dazu könnte der neue "Sondergerichtshof für Kriegsverbrechen im Kosovo-Krieg" beitragen, der im Januar 2017 in Den Haag seine Arbeit aufgenommen hat. Er wird weitgehend von der EU finanziert, steht aber unter kosovarischem Recht.
[IMG | SOURCE: /cache/images/7/263117-1x1-article220.jpg?7DB18 | ALT: Vielvölkerstaat Jugoslawien 1981] Vielvölkerstaat Jugoslawien 1981 [IMG | SOURCE: /sites/all/themes/bpb/images/icon_pdf_imtext.png | ALT: PDF-Icon] Hier finden Sie die Karte als hochauflösende PDF-Datei Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ (mr-kartographie)
Nach dem Tod von Präsident Josip Broz Tito 1980, der seit dem 2. Weltkrieg die Geschicke der Jugoslawischen Föderation bestimmt hatte, machte die neue nationalistische Führung der Serbischen Republik den Autonomiestatus des Kosovo rückgängig. Hintergrund waren Bestrebungen, den drohenden Zerfall der Jugoslawischen Föderation mit der Bildung eines hegemonialen Groß-Serbiens aufzufangen. Unter Verweis auf den "Amselfeld-Mythos"[1] reklamierten die serbischen Nationalisten alle Gebiete, in denen Serben lebten und die eine wichtige Rolle im kollektiven Gedächtnis der Serben spielen, als Teil des serbischen Staates.
Um die sich verstärkenden Proteste albanischer Kosovaren zu brechen, wurden alle für öffentliche Institutionen oder staatliche Betriebe arbeitenden Kosovo-Albaner entlassen. Kosovo-albanische Schüler und Studenten wurden vom öffentlichen Bildungssystem ausgeschlossen. Als Antwort auf dieses "Apartheidsystem" verstärkten die Kosovo-Albaner ihren Widerstand und begannen parallele Verwaltungs- und Bildungsstrukturen aufzubauen.
Die wirtschaftliche Krise der 1980er und 1990er Jahre trug zur weiteren Radikalisierung auf beiden Seiten bei. Kosovo wurde als wirtschaftlich rückständigste Region besonders hart getroffen. Ab 1989 stoppte die nationalistische serbische Regierung unter Milošević alle Investitionen und Subventionen für Kosovo.
Ende der 1990er Jahre begannen kriegerische Auseinandersetzungen zwischen den serbischen Streitkräften und der Kosovarischen Befreiungsarmee (UÇK). Die kosovarische Zivilbevölkerung wurde Opfer systematischer Überfälle, Vertreibungen und Massenmorde. Im September 1998 verurteilte der UN-Sicherheitsrat in der Resolution 1199 die Gewalt durch serbische Polizisten und Soldaten. Nach dem Scheitern der Verhandlungen in Rambouillet (Frankreich) wurden die Kampfhandlungen im Frühjahr 1999 durch eine NATO-Operation beendet. Die UN-Resolution 1244 vom 10.6.1999 besiegelte das Ende des Krieges und unterstellte Kosovo der Verwaltungshoheit der UN-Mission im Kosovo (UNMIK). Die Resolution ersetzt bis heute den noch immer ausstehenden Friedensvertrag.
Trotz massiver internationaler Präsenz kam es im März 2004 zu Ausschreitungen, bei denen radikale kosovo-albanische Gruppen Angehörige der serbischen Minderheit und der Volksgruppe der Roma angriffen. Häuser, orthodoxe Kirchen und Klöster wurden in Brand gesteckt und zerstört. Mindestens 19 Menschen kamen ums Leben, über tausend wurden verletzt. Gewaltakte richteten sich auch gegen die UNMIK.
Um radikalen Kräften den Wind aus den Segeln zu nehmen, beschloss die UNO den Beginn von Verhandlungen über die Unabhängigkeit des Kosovo, die der ehemalige finnische Präsident Martti Ahtisaari moderierte. Die Ergebnisse flossen in den "Ahtisaari-Vorschlag" über eine "bedingte Unabhängigkeit" unter Aufsicht der internationalen Gemeinschaft ein. Weitere Bestandteile des Vorschlags waren die Einrichtung einer EU-Mission zur Unterstützung des Justizsystems, der Polizei und des Zolls (EULEX) sowie die Eckpunkte für eine neue kosovarische Verfassung, die im Mai 2008, wenige Monate nach der Unabhängigkeitserklärung am 17. Februar 2008 in Kraft trat.
Bis heute sorgt die Unabhängigkeit des Kosovo international für heftige Debatten. Die USA und die Mehrheit der EU-Staaten verstehen die Unabhängigkeit als legitime Abspaltung von Serbien, einem Staat, der die Rechte der kosovarischen Mehrheitsbevölkerung missachtet und systematisch unterdrückt hat. Sie berufen sich dabei auf das in der UN-Charta verankerte Selbstbestimmungsrecht der Völker und betonen die Einzigartigkeit des Falls, der somit keine Präzedenzwirkung habe. Kosovo wurde inzwischen von über 110 Staaten anerkannt, darunter auch von Deutschland.
Sich ebenfalls auf die UN-Charta berufend, lehnen Russland, China und u.a. auch fünf EU-Mitgliedsstaaten die Unabhängigkeit als völkerrechtswidrig ab. Sie betrachten die Eigenstaatlichkeit des Kosovo als völkerrechtswidrige Verletzung der serbischen Souveränität, die den UN-Prinzipien der Nichteinmischung und territorialen Integrität zuwiderlaufe.
[IMG | SOURCE: /cache/images/1/263121-1x1-article620.jpg?B4A77 | ALT: Karte der Jugoslawienkriege 1991-1999] Karte der Jugoslawienkriege 1991-1999
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http://www.zeit.de/1998/12/Die_schaurige_Sage_vom_Amselfeld
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Julia Nietsch, geb. 1977, hat über drei Jahre auf dem Balkan gearbeitet. Sie hat in Düsseldorf Englisch, Französisch, Philosophie und in Paris Internationale Beziehungen und Entwicklungspolitik studiert. Sie ist derzeit in Paris in einem großen Unternehmen tätig und promoviert über zivilgesellschaftliche Organisationen in Kosovo an der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales (EHESS).
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