Konfliktporträt: Philippinen - Mindanao
21.11.2017 | Von:
Jan Martin Vogel
Jan Martin Vogel
geb. 1983, studierte an der Universität Trier Politik und Soziologie und war danach vier Jahre an der Universität Gießen wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich öffentliches Recht. Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf der indischen Außenpolitik und der regionalen Integration Südostasiens.
Philippinen - Mindanao
Die Eroberung der Stadt Marawi im Mai 2017 durch islamische Terroristen und die Verhängung des Kriegsrechts über die Region Mindanao gefährden die Umsetzung des fertig ausgehandelten Autonomieabkommens. Ob das Abkommen umgesetzt wird und sich alle Gruppen daran gebunden fühlen, bleibt abzuwarten.
[IMG | SOURCE: /cache/images/4/220794-3x2-article620.jpg?B727D | ALT: Philippinische Islamisten der "Moro Islamic Liberation Front" im Jahr 2012.] Philippinische Islamisten der "Moro Islamic Liberation Front" im Jahr 2012. (© picture-alliance/dpa)
Aktuelle Situation
Während die Verhandlungen über eine regionale Autonomie anhalten, haben Terroristen die Gewalt zurückgebracht. Kämpfer von zwei Gruppierungen, Maute und Abu-Sayyaf, die sich zur Terrororganisation Islamischer Staat (IS) bekennen, haben im Mai 2017 die 200.000 Einwohnerstadt Marawi besetzt. Bei Gefechten mit der philippinischen Armee wurden etwa eintausend Menschen getötet, darunter 100 Zivilisten. 180.000 Menschen befinden sich auf der Flucht. Die Terroristen wurden von Splittergruppen der Moro Islamic Liberation Front (MILF) unterstützt, die eine Verhandlungslösung ablehnen oder der Regierung in Manila nicht vertrauen, ein Abkommen umzusetzen.
Die Befreiung der Stadt durch die philippinische Armee verläuft langsam, da die Angreifer Zivilisten als Schutzschilde benutzen und Straßenzüge vermint haben, um die philippinische Armee aufzuhalten. Präsident Duterte hat als Reaktion auf die Angriffe das Kriegsrecht über der Region Mindanao verhängt. Dies wurde von der Opposition mit Sorge beobachtet, da es Erinnerungen an die Diktatur der 1970er und 1980er Jahre unter Ferdinand Marcos weckt, welche ebenfalls mit der Ausrufung des Kriegsrechts begann. Duterte hat das Kriegsrecht bereits einmal verlängert, bis mindestens Ende 2017.
Die Verhängung des Kriegsrechts erfolgte zu einem Zeitpunkt, da die Situation auf Mindanao von vorsichtigem Optimismus geprägt war. Präsident Duterte selbst war vor seinem Sieg bei den Präsidentschaftswahlen ein Jahrzehnt lang Bürgermeister von Davao City auf Mindanao, und ist daher mit der regionalen Situation gut vertraut. In seinem Wahlkampf präsentierte er sich als starker Befürworter einer Verhandlungslösung. Gespräche zwischen seiner Regierung und der größten regionalen Autonomiebewegung, der Moro Islamic Liberation Front (MILF), verliefen erfolgreich. Wichtigstes Ergebnis ist ein überarbeiteter Entwurf des "Bangsamoro Grundgesetzes", das weitreichende Autonomierechte für Teile Mindanaos vorsieht. Bisher wurde der Gesetzentwurf von der Regierungskoalition allerdings noch nicht ins Parlament eingebracht. Das philippinische Parlament hatte bereits 2015 unter Dutertes Vorgänger Benigno Aquino (2010-16) die vorige Version des Grundgesetzes blockiert, da eine Mehrheit der Mitglieder das Ausmaß der Autonomierechte für verfassungswidrig hielt. Daraufhin wurden Neuverhandlungen nötig.
Jede Verzögerung bei der Umsetzung des fertig ausgehandelten Abkommens stellt aus Sicht von Beobachtern ein großes Risiko für den Friedensprozess dar. Nach über 50 Jahren Konflikt und mehreren gescheiterten Abkommen ist die Gefahr groß, dass sich weitere Gruppen von der MILF abspalten und erneut zu den Waffen greifen. Hinzu kommt, dass die MILF längst nicht für alle Separatisten spricht und es viele Splittergruppen gibt, die kein Interesse an einer föderalen Lösung haben, sondern eine vollständige Unabhängigkeit fordern.
Ursachen und Hintergründe
[IMG | SOURCE: /cache/images/3/259683-st-article620.jpg?E6163 | ALT: Mindanao Insel der Philippinen] Mindanao Insel der Philippinen. [IMG | SOURCE: /sites/all/themes/bpb/images/icon_pdf_imtext.png | ALT: PDF-Icon] Hier finden Sie die Karte als hochauflösende PDF-Datei Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ (mr-kartographie)
Der Konflikt ist eine Folge der Marginalisierung der muslimischen Einwohner Mindanaos, der zweitgrößten Insel der Philippinen. Das Gefühl der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Zurücksetzung und Diskriminierung stellt den Ausgangspunkt für das Unabhängigkeitsstreben dar. Verschärft wurde der Konflikt durch die seit Beginn des 20. Jahrhunderts zunehmenden Migrationsbewegungen, die zum Teil von der Regierung in Manila gefördert wurden. Durch den Zuzug von Christen aus dem Norden ging der Anteil der Muslime an der Bevölkerung auf Mindanao von 80% im Jahr 1900 auf 20% im Jahr 2005 zurück. Dies führte auf Seiten der Muslime zu einem Gefühl der Bedrohung ihrer regionalen und religiösen Identität. Heute erschwert die gemischt-religiöse Zusammensetzung der lokalen Verwaltungseinheiten die Grenzziehung für das potenzielle Autonomiegebiet. Manche historisch von Muslimen dominierte Gebiete werden heute mehrheitlich von Christen bewohnt.
Mit der Zuwanderung ging auch ein ökonomischer Verdrängungsprozess zu Lasten der Muslime einher. Traditionell lebten viele Einwohner Mindanaos als Selbstversorger von der Landwirtschaft, allerdings ohne eindeutige Eigentumsnachweise für ihren Grund und Boden. Dies nutzten Großgrundbesitzer aus dem Norden, um sich des Landes zu bemächtigen. Die christliche Mehrheit der Bevölkerung fürchtet nun, im Falle eines Abkommens ihre Macht und ihren Besitz wieder zu verlieren. Sie gehört daher zu den härtesten Gegnern einer Autonomie.
Auch die philippinische Armee hat den Konflikt immer wieder geschürt. Als vehemente Gegnerin jeder Form von Sezession und Autonomie drängte sie die Regierung in den vergangenen Jahrzehnten stets dazu, eindeutig gegen jede Form von Separatismus und bewaffnete Gruppen vorzugehen. Erfüllte die Regierung diese Forderungen nicht, führte das Militär unautorisierte Einsätze durch, was den Friedensprozess immer wieder stocken ließ.
Bearbeitungs- und Lösungsansätze
Während es unter den vorherigen Regierungen der Philippinen vor allem um die Frage ging, ob es überhaupt Verhandlungen mit den Unabhängigkeitsbewegungen Mindanaos geben solle, oder ob diese als Separatisten zu bekämpfen seien, scheint Präsident Duterte grundsätzlich die Autonomie der Region zu unterstützen. Er gilt als großer Befürworter der Einführung eines föderalen Systems für die gesamten Philippinen. Daher erscheint es Beobachtern denkbar, dass er keine Einzellösung für Mindanao in gesonderten Verhandlungen anstrebt, sondern dies als Teil einer großen Föderalismusreform betrachten würde. Ein Jahr nach seinem Amtsantritt am 30. Juni 2016 ist allerdings in keiner der beiden Richtungen ein entscheidender Fortschritt erkennbar. Eine Volksabstimmung über die Einführung eines föderalen Systems kündigte Duterte für 2019 an.
Die ersten Verhandlungen über den Status der Südinsel fanden in den 1970er Jahren statt. Sie wurden allerdings durch den von Präsident Marcos 1972 ausgerufenen Ausnahmezustand gestoppt. Vor diesem Hintergrund kann es bereits als kleiner Erfolg gesehen werden, dass Duterte die Verhandlungen mit Ausrufung des Kriegsrechts im Mai nicht abgebrochen hat.
Das erste Abkommen entstand 1976 auf internationalen Druck der Organisation Islamischer Staaten; es wurde allerdings erst nach dem Ende von Marcos’ autoritärer Herrschaft 1989 umgesetzt ohne jedoch zu einer dauerhaften Befriedung zu führen. 2001 begann eine neue Verhandlungsrunde unter Vermittlung Malaysias. Seit 2009 unterstützt eine internationale Kontaktgruppe, bestehend aus Großbritannien, Japan, der Türkei und Saudi-Arabien, den Friedensprozess. Die Europäische Union hat gemeinsam mit anderen Gebern den 2005 den "Mindanao Trust Fund" eingerichtet, um den Friedensprozess finanziell zu unterstützen. Da die EU das rücksichtslose Vorgehen gegen Drogenbanden kritisierte und die Achtung der Menschenrechte einforderte, hat Präsident Duterte 2017 allerdings die Annahme von EU-Mitteln ausgesetzt.
Grundsätzlich sind für die Lösung des Konfliktes drei Elemente von zentraler Bedeutung: (1) der Umfang der regionalen Selbstverwaltung innerhalb des politischen Systems der Philippinen, (2) die Demilitarisierung der Region sowie (3) die Integration der Separatisten in die neu zu schaffenden politischen Strukturen wie das regionale Parlament. Diese Elemente stellen auch den Kern des Abkommens dar, welches Präsident Duterte noch durch das Parlament bringen muss.
Die Ausweitung der Selbstverwaltung ist der wohl schwierigste Teil, da das hochgradig zentralistische politische System bisher kaum föderale Elemente besitzt. Das Abkommen sieht vor, dass die politische Verwaltung durch ein in der Region zu wählendes Parlament, welches einen Chief Minister wählt, ausgeübt werden soll. Der Regierung des Bangsamoro stünden große Teile der in der Region erwirtschafteten Steuereinnahmen zu. Das wäre eine gewichtige Ausnahme im politischen System der Philippinen. Bangsamoro würde damit einen Status ähnlich einem deutschen Bundesland erhalten. Sollte das Rahmenabkommen umgesetzt werden, eine neu zu gründende regionale Polizei würde eingesetzt und die Mitglieder der MILF müssten ihre Waffen abgeben. Zur Integration der ehemaligen Kämpfer sollen Hilfsprogramme und finanzielle Unterstützungen beitragen. Voraussetzung ist jedoch die Verabschiedung des Abkommens durch den Kongress.
Geschichte des Konflikts
Historisch lässt sich der Konflikt bis in das 16. Jahrhundert und zur 1562 beginnenden spanischen Kolonisierung der Philippinen zurückverfolgen. Die auf Mindanao lebenden Muslime leisteten von Beginn an Widerstand gegen die Spanier. Diese bezeichneten die Einwohner der Insel aufgrund ihrer Religion als "Moro" (deutsch: Mauren) – ein Name, den die Muslime heute mit Stolz tragen. Im Gegensatz zum Großteil der Bevölkerung auf den nördlichen Inseln der Philippinen konvertierten sie nicht zum Katholizismus. Der Widerstand der Moro führte dazu, dass bereits ab dem 16. Jahrhundert eine wirtschaftliche Kluft zwischen dem durch Spanien modernisierten Norden und dem Süden entstand.
Der Konflikt eskalierte im März 1968 durch ein nie aufgeklärtes Ereignis, das "Jabidah Massaker". Dabei sollen 28 muslimische Soldaten, die für den Einsatz in den philippinischen Streitkräften ausgebildet worden waren, durch die philippinische Armee exekutiert worden sein. Die Soldaten wurden aufgefordert, als Teil einer Spezialeinheit Aufstände in Sabah, einer malaysischen Provinz anzustacheln. Da enge ethnische Verbindungen zwischen den Einwohnern Sabahs und Mindanaos bestehen, hätte dies den Kampf gegen Verwandte bedeutet, weshalb die Soldaten den Befehl verweigerten. Daraufhin sollen die Soldaten exekutiert worden sein, mutmaßlich um die Geheimhaltung der Mission nicht zu gefährden. Unabhängig vom Wahrheitsgehalt der Schilderungen führten sie zum offenen Ausbruch des bereits zuvor latenten Konflikts zwischen den Muslimen auf Mindanao und der Zentralregierung. Sichtbares Zeichen war die Gründung der Moro National Liberation Front (MNLF).
Seit 1990 besteht auf Mindanao die "Autonome Muslimische Region Mindanao", der sich nach Volksabstimmungen vier von 14 Provinzen der Region angeschlossen haben. In der Region leben ca. 4 Mio. Menschen, ein Fünftel der Einwohner Mindanaos. Allerdings wurden nach der Gründung schnell wieder kritische Stimmen laut, denen die vereinbarten Autonomierechte nicht weit genug gingen. Dennoch unterzeichneten 1996 die philippinische Regierung und die Vorgängerin der MILF, die MNLF, einen Friedensvertrag. Während die meisten Mitglieder der MNLF danach den Kampf beendeten und sich in die regionale Verwaltung integrierten, griffen die Anhänger der abgespaltenen MILF zu den Waffen und führten den Kampf fort.
Als Reaktion rief der damalige Präsident Estrada im Jahr 2000 den "totalen Krieg" gegen die MILF aus, die ihrerseits mit dem "Dschihad" gegen die Regierung antwortete. Ein 2002 von Estradas Nachfolgerin Macapagal-Arroyo (2001-09) ausgehandelter Waffenstillstand bewirkte wenig. Erst nach einem Führungswechsel zu einer moderateren Generation in der MILF 2003 wurden die Verhandlungen wiederaufgenommen.
2008 überraschte die Regierung unter Präsidentin Macapagal-Arroyo mit einer mit der MILF im Geheimen erzielten Einigung. Diese umfasste eine deutliche Erweiterung der autonomen Region um bis zu 700 Dörfer sowie weitergehende politische Rechte. Die Umsetzung wurde allerdings durch das höchste Gericht der Philippinen verhindert. Es urteilte, dass die philippinische Verfassung eine derart weitreichende Autonomie nicht erlaube. Die MILF fühlte sich verraten, und es kam erneut zu Kämpfen. Insgesamt kostet der Konflikt bis heute Schätzungen zufolge mindestens 120.000 Menschenleben.
Literatur
Forum Ziviler Friedensdienst (2010): Philippinen – Gewalt ohne Ende? Ansichten über den bewaffneten Konflikt auf Mindanao, Bonn.
Köppinger, Peter (2013): Der Friedensprozess in Mindanao, KAS Länderbericht, Januar 2013.
Krahnstöver, Anne (2017): Kämpfen für den Frieden – Das Kriegsrecht in Mindanao, Stiftung Asienhaus Blickwechsel, August 2017.
Kreuzer, Peter (2007): Formen und Dynamiken politischer Gewalt in den Philippinen HSFK-Report, No. 8.
Links
International Crisis Group (2016): The Philippines – Renewing Prospects for Peace in Mindanao, Asia Report No. 281, July 2016.
International Crisis Group (2009): Running in Place in Mindanao, Asia Briefing No.88, Jakarta/Brussels, February 16, 2009.
Kruschem, Thomas (2017) Philippinen. Die Kriseninsel Mindanao kommt nicht zur Ruhe, Deutschlandfunk, 3.6.2017.
Aktuelle Berichte und Analysen der International Crisis Group.
Aktuelle englischsprachige Berichterstattung zu regionalen Ereignissen auf Mindanao.
Jan Martin Vogel
geb. 1983, studierte an der Universität Trier Politik und Soziologie und war danach vier Jahre an der Universität Gießen wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich öffentliches Recht. Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf der indischen Außenpolitik und der regionalen Integration Südostasiens.
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Autor: Jan Martin Vogel für bpb.de