Konfliktporträt: Kurdenkonflikt

Die Türkei hat die Rechte der kurdischen Bevölkerung im Zuge der EU-Beitrittsverhandlungen leicht gestärkt. Im Irak genießen sie weitreichende Autonomie. Iran hat eine stärkere Beachtung ihrer Interessen angekündigt. In Syrien erreichten die Kurden in den Wirren des Bürgerkriegs eine gewisse Autonomie.

Die aktuelle Situation



In der Türkei hat Premierminister Recep Tayyıp Erdoğan mit einem "Demokratiepaket" am 30. September 2013 den Kurden mehr kulturelle Rechte eingeräumt. Damit wurden frühere Annäherungsschritte fortgesetzt, die mit Ausbruch des Arabischen Frühlings 2011 eine zwischenzeitliche Pause erfahren hatten. Der seit 1999 inhaftierte Vorsitzende der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK), Abdullah Öcalan, verkündete am 21. März 2013 einen Waffenstillstand zwischen seiner Partei und dem türkischen Militär, nachdem im Sommer 2011 die Armee mehrere Offensiven gegen PKK-Stellungen mit über 100 Toten durchgeführt hatte. Diesen Angriffen gingen wiederholte Anschläge der PKK mit mehreren Dutzend Toten gegen türkische Militärziele voraus.

Im Irak versucht die weitgehend autonome kurdische Regionalregierung im Norden des Landes die Kontrolle über die ölreichen Gebiete rund um Mosul und Kirkuk zu sichern. 2003 hatten kurdische Kampfverbände (Peshmerga) die allgemeine Kriegskonfusion genutzt, um die grüne Grenze zum Rest-Irak zu überschreiten. Seitdem beanspruchen die Kurden diese Gebiete für sich. Die Zentralregierung forderte die Gebiete jedoch zurück, was die Spannungen auch militärisch anheizt – zuletzt im November 2012. Bis heute ist der Status der kurdischen Streitkräfte einer der zentralen Konfliktpunkte: Während die Verfassung des Gesamtirak eine Eingliederung der Kampfverbände in die regulären irakischen Sicherheitskräfte vorsieht, überlässt die kurdische Regionalverfassung, verabschiedet 2009, den Oberbefehl über die Peshmerga beim Präsidenten der kurdischen Regionalregierung.

Im schiitischen Iran halten die Spannungen mit den überwiegend sunnitischen Kurden an. Obwohl die Party for a Free Life in Kurdistan (PJAK) im September 2011 einen Waffenstillstand verkündete, kommt es weiterhin zu Zusammenstößen mit den staatlichen Sicherheitskräften. Nach einem Bombenanschlag im September 2010 während einer Militärparade in Mahabad, der Hauptstadt der iranischen Provinz Kurdistan, kam es am 25. April 2012 zu Kämpfen in Paveh, bei denen vier Angehörige der paramilitärischen regimetreuen Revolutionsgarde ums Leben kamen.

In Syrien galten die Kurden in der "Arabischen Republik" meist als Bürger zweiter Klasse. Die Kriegswirren nutzend, haben sie im Nordosten des Landes eine leidlich funktionierende eigene Verwaltung aufgebaut. Inzwischen gelten allerdings die militärischen Verbände des Regimes nicht mehr als die größte Bedrohung, sondern die islamistischen Al-Nusri-Brigaden. Diese stehen seit dem 16. Juli 2013 mit der kurdischen YPG (Yekîneyên Parastina Gel, dt. "Einheiten zum Schutz des Volkes") im Krieg und versuchen, den Menschen in ihrem Einflussbereich ihre extreme Ideologie und Gesellschaftsvorstellungen aufzuzwingen.

Ursachen und Hintergründe des Konflikts



Die Ursprünge der Kurdenproblematik lassen sich im Wesentlichen auf den Zerfall des Osmanischen Reichs nach dem 1. Weltkrieg zurückführen. Waren die Kurden bis dahin eine Entität neben anderen, traten nun vor allem Türken, Araber, Perser und Armenier als ethnische Gruppen in Erscheinung, die sich für die Bildung eines eigenen Nationalstaates einsetzten. Die Grenzen der neu geschaffenen Staaten verliefen quer durch die kurdischen Siedlungsgebiete, bestehende familiäre und auch ökonomische Beziehungen wurden dadurch unterbrochen. Die Kurden sahen sich bald starken Repressalien ausgesetzt.

Die Kurden (ca. 24-27 Mio.) bezeichnen sich als "größtes Volk ohne Land". Beheimatet in fünf Ländern – Türkei ca. 13 Mio., Irak ca. 4 Mio., Iran ca. 5,7 Mio., Syrien ca. 1 Mio. und Armenien ca. 400.000 – sind sie höchst verschieden und teilweise zerstritten. Es gibt drei kurdische Sprachen (Kurmandschi, Sorani und Zazaki) und unterschiedliche Religionszugehörigkeiten, vor allem Sunniten, Yeziden, Aleviten und assyrische Christen. Die Frage, wer Kurde ist, ist in vielen Fällen nicht leicht zu beantworten. Gleiches gilt für die Grenzen der kurdischen Gebiete und die Geschichtsschreibung.

Die Republik Türkei unter Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk betrieb seit ihrer Gründung 1923 unter dem Slogan "Ne mutlu Türküm diyene" ("Wie glücklich ist der, der sagen kann: Ich bin ein Türke") die Schaffung einer türkischen Nation. Der Status geschützter Minderheiten wurde lediglich Griechen, Armeniern und Juden zuerkannt – eine Folge des Osmanischen Millet-Systems, das die Bevölkerung gemäß ihrer Religionszugehörigkeit (Muslime, Christen, Juden) einteilte und behandelte. Die Kurden als ethnische Gruppierung wurden nicht als eigenständige Minderheit anerkannt. In der Folge wurden kurdische Traditionen, ihre Sprache und Kultur negiert und unterdrückt.

In den anderen, neu entstandenen Staaten erging es den Kurden nicht besser. Besonders prekär war ihre Lage im Iran unter Ayatollah Khomeini und im Irak unter Saddam Hussein, die beide 1979 an die Macht kamen. In den nachfolgenden Kriegen und Konflikten zwischen beiden Staaten wurden die Kurden beiderseits der Grenze als "Sündenböcke" abgestempelt und massiv diskriminiert (s. Konfliktgeschichte).

Nach Ende der Herrschaft von Saddam Hussein 2003 haben die irakischen Kurden die größten Fortschritte auf dem Wege zu politischer Selbstbestimmung erreicht; sie dienen ihren "Landsleuten" in den benachbarten Staaten als Vorbild. Zwar sind die Kurden mit ca. 15% die kleinste der drei großen ethnischen Gruppierungen im Irak (Schiiten ca. 60%, Sunniten ca. 25%), ihr Siedlungsgebiet verfügt aber über erhebliche Ölvorkommen – allein das Ölfeld von Kirkuk birgt ca. 10% der irakischen Reserven.

Seit 1991 verwalten sich die Kurden mit ihrer Kurdistan Regional Government (KRG) faktisch selbst und greifen seit 2003 auch aktiv in die Geschicke des Gesamtirak ein. Die beiden kurdischen Hauptparteien PUK (Patriotische Union Kurdistans) und DPK (Demokratische Partei Kurdistans) versuchen, ihre clanbasierten und ideologischen Differenzen politisch auszutragen; die regionalen Parlamentswahlen am 20. September 2013 verliefen weitgehend ohne Zwischenfälle und brachten der Gorran-Bewegung den politischen Durchbruch, die die PUK als zweitstärkste Fraktion verdrängte.

Bearbeitungs- und Lösungsansätze



Führende Kräfte auf kurdischer Seite haben eingesehen, dass die Schaffung eines gemeinsamen Staates unerreichbar (und auch nicht erstrebenswert) ist. Für den Bereich der Türkei lassen sich positive Entwicklungen im Zuge der fortschreitenden EU-Beitrittsverhandlungen erkennen. Der Regierung unter Premierminister Erdoğan agiert in dieser Hinsicht deutlich realistischer als ihre Vorgängerinnen.

Im Irak wird die weitere Entwicklung vor allem davon abhängen, inwieweit sich der Zentralstaat politisch und wirtschaftlich stabilisiert. Die Zugehörigkeit zu einem funktionierenden Irak liegt im Interesse der meisten Kurden. Sollte der Irak allerdings im momentanen fragilen Zustand verharren und eine nachhaltige Entwicklung der Öl- und Gasförderung, aber auch des Tourismus ausbleiben, könnten sich die Kurden verstärkt in Richtung einer vollständigen Unabhängigkeit orientieren.

Viele Kurden in Iran unterstützten Hassan Rouhani bei seiner Wahl zum Staatspräsidenten am 14. Juni 2013, da er besondere Rechte für ethnische Minderheiten ankündigte. Eine Unabhängigkeit der Kurden schloss er allerdings aus.

In Syrien ist die Zukunft der Kurden aufgrund der momentanen unklaren politischen Lage völlig ungewiss. Entscheidenden Einfluss wird hier der Ausgang des Konflikts mit den islamistischen Gruppen haben. Im Irak, in der Gegend um Mosul, haben die im Syrien kämpfenden Islamisten sich einen Rückzugsraum geschaffen, von wo aus sie u.a. auch Waffen durch das kurdische Grenzgebiet nach Syrien schmuggeln. Sollten die kurdischen Verbände die Grenze zum Irak unter ihre vollständige Kontrolle bringen, würde dies die Islamisten entscheidend schwächen.

Geschichte des Konflikts



Nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches waren die Kurden zur Minderheit in den fünf neu geschaffenen Staaten Armenien, Türkei, Irak, Iran und Syrien geworden. Als solche waren sie von Anfang an politischen, wirtschaftlichen und sozialen Repressionen ausgesetzt. Die jahrzehntelange Diskriminierung der Kurden in der Türkei löste am 15. August 1984 den ersten bewaffneten Angriff der PKK gegen türkische Militäreinrichtungen in Şemdinli und Eruh aus. Seitdem fielen den Kämpfen nach offiziellen türkischen Angaben rund 45.000 Menschen zum Opfer. Zum Repertoire der PKK gehörten neben Entführungen und bewaffneten Überfällen auch Selbstmordattentate und Ermordungen von Türken – nicht nur in der Türkei. Attentate der PKK wurden von der türkischen Armee mit Luftangriffen auf kurdische Stellungen beantwortet, phasenweise auch auf irakischem Territorium.

Von der irakischen und iranischen Regierung wurden die Kurden bei der Ausfechtung ihrer wechselseitigen Konflikte oftmals instrumentalisiert. Sowohl Bagdad als auch Teheran unterstützten die Kurden der jeweils anderen Seite, damit diese dort die Zentralregierung destabilisieren. Im Krieg zwischen beiden Ländern von 1980-1988 verschärften sich die Repressalien, da die Kurden der Kollaboration mit der jeweils anderen Seite verdächtigt wurden. Trauriger Höhepunkt auf irakischer Seite war der Giftgasangriff auf die kurdische Stadt Halabdscha im März 1988, bei dem bis zu 5.000 Menschen ums Leben kamen und bis zu 10.000 verletzt wurden. Hunderttausende wurden zur Flucht gezwungen. Nach der Niederlage Saddam Husseins gegen die alliierten Truppen im 2. Golfkrieg 1991 wurden die kurdischen Gebiete vom UN-Sicherheitsrat zur Flugverbotszone erklärt, um sie vor weiteren Angriffen der irakischen Armee zu schützen.

In Iran war die Ausrufung der "Kurdischen Republik von Mahabad" am 22. Januar 1946 nur ein kurzes Intermezzo in den Wirren nach Ende des 2. Weltkriegs. Schon nach elf Monaten hatten die iranischen Truppen das Gebiet wieder unter Kontrolle. Die islamische Revolution von 1979 verschärfte die ohnehin schwierige Situation für die Kurden weiter, zentrale Führungsfiguren wurden vom Teheraner Regime ermordet, so u.a. bei einem Bombenattentat im Berliner Restaurant "Mykonos" 1992.

Der Traum eines Großkurdistans konnte nie realisiert werden. Er ist auch heute weit von seiner Verwirklichung entfernt. Im Gegenteil, nahezu alle einflussreichen kurdischen Gruppierungen bekennen sich zu ihrer jeweiligen staatlichen Zugehörigkeit. Stattdessen dreht sich die Frage mehr um wirkliche regionale Selbstbestimmung und Autonomie in den jeweiligen Ländern.

Literatur



Dolzer, Martin (2011): Der türkisch-kurdische Konflikt. Menschenrechte - Frieden - Demokratie in einem europäischen Land, Bonn: Pahl-Rugenstein.

Küchler, Hannelore (2011): Kurdistan - Ein Land in Geiselhaft: Das Schicksal eines geschundenen Volkes. Berlin: Eigenverlag.

Meggle, Sarah (2009): Kurdistan im neuen Irak, Saarbrücken: VDM Verlag Dr. Müller.

Strohmaier, Martin/ Yalcin-Heckmann, Lale (2010): Die Kurden. Geschichte, Politik, Kultur, München: Verlag C.H. Beck.

Links



»Informationen, Analysen und Berichte zum Kurdenkonflikt der Arbeitsgemeinschaft Friedensforschung der Universität Kassel«

» International Crisis Group (2013): Crying “Wolf”: Why Turkish Fears Need Not Block Kurdish Reform, Europe Report Nr. 227, 7. Oktober 2013«

»Offizielle Internetpräsenz der Kurdischen Regionalregierung im Irak«

  Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/de/