Taliban

Die Taliban-Bewegung entstand in den frühen 1990er Jahren als Organisation paschtunisch-afghanischer Flüchtlinge in Pakistan. 1994 eroberte sie weite Teile Afghanistans. Seit ihrem Sturz agieren die Islamisten von Pakistan aus.
Afghanische Islamisten gründeten die Taliban-Bewegung in den frühen 1990er Jahren. Ab Herbst 1994 eroberten sie weite Teile Afghanistans. Sie gewährten Jihadisten aus aller Welt Zuflucht, unter ihnen Osama Bin Ladens al-Qaida und zahlreichen zentralasiatischen und pakistanischen Gruppierungen. Als die Taliban sich auch nach den Anschlägen des 11. September 2001 weigerten, Bin Laden auszuliefern, griffen die USA Afghanistan an und stürzten sie. Seit 2002 bekämpfen die Taliban von Pakistan aus die neue afghanische Regierung und die in Afghanistan stationierten multinationalen Truppen.
 

1. Die Entstehung der Taliban-Bewegung

Die Bewegung der Taliban (Paschtu und Dari für "Studenten") entstand in den frühen 1990er Jahren als Organisation aus Pakistan zurückgekehrter paschtunisch-afghanischer Flüchtlinge und Veteranen des Krieges gegen die Sowjetunion. Ihre pakistanische Mutterorganisation war die Gemeinschaft der Gelehrten des Islam (Jam‘iyat-i ‘Ulama´-i Islam, JUI). Die JUI ist Teil der Gelehrtenbewegung von Deoband (benannt nach ihrem nordindischen Gründungsort), die seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Britisch- Indien entstand und ein Netzwerk von religiösen Schulen auf dem gesamten Subkontinent etablierte.

Als sich der muslimische Staat Pakistan 1947 von der Indischen Union abspaltete, lehnte die Mehrheit der Deobandis seine Gründung ab. Die JUI hingegen unterstützte den Separatismus des Staatsgründers Ali Jinnah. Ende der 1960er Jahre spaltete sich die nunmehr pakistanische Organisation. Der bis heute bedeutendere Flügel konzentrierte seine Aktivitäten auf die paschtunischen Gebiete der Nordwestlichen Grenzprovinz (seit April 2010 Khyber Pakhtunkhwa) und Belutschistans.

Die JUI ist eine einflussreiche Kraft in den Paschtunengebieten entlang der pakistanisch-afghanischen Grenze und hat besonders dort ein dichtes Netz religiöser Bildungsstätten aufgebaut. Nach der sowjetischen Invasion Afghanistans 1979 flüchteten sich viele Afghanen in die Gebiete jenseits der pakistanischen Grenze. Die Schulen der JUI nahmen vor allem paschtunische Flüchtlinge auf und wurden nach dem sowjetischen Truppenabzug 1989 zur Kaderschmiede für die Taliban.

In Afghanistan selbst brach schon kurz nach dem Abzug der Sowjets ein Bürgerkrieg zwischen rivalisierenden Mujahedin-Gruppierungen aus. Pakistan hatte diese Organisationen unterstützt, um Einfluss auf die künftige Politik des Nachbarlandes nehmen zu können. Idealerweise sollte in Kabul eine pro-pakistanische Regierung an die Macht kommen. Als der Ausbruch des Bürgerkrieges verdeutlichte, dass die Mujahedin-Gruppen kein geeigneter Partner waren, benötigte die pakistanische Armee einen neuen Verbündeten. Zu diesem Zweck rekrutierte ihr militärischer Geheimdienst ISI (Inter-Services Intelligence) paschtunische Flüchtlinge aus den Schulen der JUI und baute eine schlagkräftige Miliz auf. So wurden die Taliban zu einem Instrument pakistanischer Außenpolitik.

In einem beispiellosen Siegeszug eroberten die Taliban Afghanistan. Nachdem sie im Herbst 1994 erstmals in der Provinz Kandahar in Südafghanistan aufgetaucht waren, nahmen sie rasch die paschtunischen Gebiete im Süden und Osten des Landes ein. 1995 bereits standen sie kurz vor Kabul und nahmen die westafghanische Metropole Herat ein. Die verfeindeten Mujahedin in Kabul schlossen sich unter dem Druck der Taliban zusammen. Trotzdem konnten sie Kabul nicht halten und zogen sich 1996 in den Norden zurück. Unter der Führung von Ahmed Shah Masud (1953-2001) hielten sie sich als "Nordallianz" bis zur amerikanisch-britischen Invasion 2001.

2. Das Islamische Emirat Afghanistan (1996-2001)

Die Taliban boten der kriegsmüden afghanischen Bevölkerung nach fast 17 Jahren Krieg die Aussicht auf Ruhe und Ordnung. Dies erklärt ihren schnellen Siegeszug gegen die Allianz der Bürgerkriegsparteien, die das Land nach 1989 in den vollständigen Ruin getrieben hatten. Die Taliban traten mit der Forderung nach Einführung und Durchsetzung des Islamischen Rechts, der Scharia, an – entsprechend den Vorstellungen der Deobandi-Gelehrten. In der Praxis verband sich die puristische Deobandi-Gelehrsamkeit mit dem Paschtunwali genannten Rechts- und Ehrenkodex der Paschtunenstämme.

In den von ihnen beherrschten Gebieten setzten die Taliban unerbittlich ihre Verhaltensvorschriften durch. Männer mussten Bärte tragen, Musik und Fernsehen waren ebenso wie die meisten Sportarten verboten. Eine nach saudi-arabischem Vorbild eingerichtete Religionspolizei überwachte die Einhaltung dieser Ge- und Verbote. Bei Zuwiderhandlung drohten, je nach Schwere des Delikts, Prügelstrafen, Auspeitschung oder Gefängnis. Die schlimmsten Einschränkungen trafen jedoch die Frauen, die weitgehend aus der Öffentlichkeit verbannt wurden. Die Taliban schlossen alle Mädchenschulen und verboten Frauen zu arbeiten.

Nach der Einnahme Kabuls riefen die Taliban im September 1996 das "Islamische Emirat Afghanistan" aus. Im selben Jahr gab sich ihr charismatischer Führer Mulla Mohammed Omar (geb. ca. 1959) den Titel "Beherrscher der Gläubigen" (Amir al-Mu´minin). Der in Kandahar residierende Mulla Omar war damals bereits die unumstrittene Führungsfigur der Taliban, und regierte gemeinsam mit einem kleinen Führungszirkel einflussreicher Funktionäre, dem sogenannten Schura(=Konsultations)-Rat. Jegliche Opposition wurde brutal unterdrückt; die Regierungsführung der Taliban war autoritär mit totalitären Zügen – wobei die staatliche Verwaltung durchaus chaotische Züge trug.

Das Emirat der Taliban wurde lediglich von Pakistan, Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten anerkannt. Die deutlichen Sympathien vieler konservativer Golfaraber gingen auf die Ähnlichkeit der religionspolitischen Vorstellungen der Taliban mit denen der saudi-arabischen Wahhabiya zurück. Die teils staatliche und teils private Unterstützung aus den Golfstaaten für die Taliban erwies sich jedoch als schwerer Fehler, da die Taliban es neben zentralasiastischen und pakistanischen auch arabischen Jihadisten gestatteten, ihre Hauptquartiere und Trainingslager auf afghanischem Territorium aufzuschlagen. Eine dieser Gruppen war die al-Qaida Osama Bin Ladens. Nur die staatliche Unterstützung durch die Taliban ermöglichte es al-Qaida, zu der internationalen Terrororganisation zu werden, die am 11. September 2001 sogar im Herzen der USA zuschlug.
 

3. Pakistanisches Exil und Aufstand in Afghanistan (2001-2009)

Die Taliban waren auf die amerikanische Gegenreaktion nicht vorbereitet. Innerhalb weniger Wochen gelang es den USA mithilfe der Nordallianz, den Taliban-Staat zu zerschlagen und die verbliebenen Angehörigen der Organisation zur Flucht zu zwingen. Die Führung der Taliban um Mulla Omar fand Zuflucht im pakistanischen Quetta und organisierte von dort den Widerstand gegen die Amerikaner und ihre Verbündeten.

Ab 2005 gewann der Aufstand der Taliban an Stärke. Dies hatte drei Gründe: Erstens machte sich 2005 die schlechte Regierungsführung der neuen Regierung in Kabul bemerkbar. Weit davon entfernt zur Lösung der Probleme im Land beizutragen, zeichnete sie sich durch Untätigkeit, Inkompetenz und eine ausufernde Korruption aus. Sie scheiterte insbesondere beim Aufbau effektiv agierender einheimischer Sicherheitskräfte. Die Unzufriedenheit nicht nur in den paschtunischen Landesteilen wuchs stetig. Zweitens war der Konflikt in Afghanistan für die Administration des amerikanischen Präsidenten George W. Bush (2001-2008) weniger wichtig als der 2003 begonnene Krieg im Irak, so dass für die Aufstandsbekämpfung in Afghanistan nur unzureichende Ressourcen zur Verfügung standen. Drittens hatte auch die pakistanische Armeeführung ihre alte Politik wieder aufgenommen. Pakistan wurde zum sicheren Rückzugsgebiet der Taliban und der ISI unterstützte den Aufstand. Zwar arbeitete die pakistanische Führung in der Verfolgung von al-Qaida mit den USA zusammen und leistete logistische Unterstützung für die westliche Präsenz in Afghanistan.

Mit großer Sorge beobachtete sie jedoch, wie statt der eigenen Klienten wichtige Verbündete des großen Rivalen Indien an der Macht in Kabul beteiligt waren. Die Nordallianz hatte bereits vor 2001 indische Unterstützung erhalten und auch nach dem Machtwechsel in Kabul unterhielt die Regierung Karzai enge Beziehungen nach Delhi. Deshalb gab Pakistan seine Unterstützung für die Taliban nicht auf und duldete, dass diese sich über die Grenze nach Pakistan zurückzogen und dort reorganisierten. So hoffte die pakistanische Führung, ein Druckmittel in der Hand zu haben, um ihre Interessen in Afghanistan gegebenenfalls durchzusetzen. Auch heftige Proteste der USA führten immer nur zu kurzfristigen Änderungen pakistanischer Politik.

Ab 2005/2006 gingen die Taliban immer häufiger zu komplexeren militärischen Aktionen über, an denen sich größere Formationen beteiligten. Gleichzeitig verfeinerten sie ihre Taktik, legten Sprengfallen am Straßenrand, mit denen sie Militärfahrzeuge angriffen und verübten Selbstmordattentate, die sich häufig auch gegen die afghanischen Sicherheitskräfte und gegen Zivilisten richteten. Die Taliban folgten hier dem Vorbild der Aufständischen im Irak, so dass seit 2005 immer häufiger die Rede von einer "Irakisierung" der afghanischen Aufstandsbewegung war. Der Taliban-Kommandeur Mulla Dadullah (1966-2007) wurde gewissermaßen zur Verkörperung dieser neuen Strategie. Bis zu seinem Tod im Mai 2007 leitete er die militärischen Aktionen der Taliban im Süden. Er verband den neuartigen Einsatz der Selbstmordattentäter mit einer gezielten Öffentlichkeitsarbeit.

Mit dem Frühjahr 2006 gerieten die im Süden und Südosten des Landes – den Hauptsiedlungsgebieten der Paschtunen – stationierten Amerikaner, Briten, Kanadier und Niederländer unter enormen Druck. Die Selbstmordattentate verfünffachten sich gegenüber 2005. Seit 2006 verloren die Koalitionstruppen die Kontrolle über große Teile dieser Gebiete. Die Taliban hingegen weiteten ihre Angriffe auf Kabul und seine Umgebung und vereinzelt auch auf den bis dahin verhältnismäßig sicheren Norden aus. Die ursprünglich angestrebte Stabilisierung Afghanistans rückte in weite Ferne.

Die gemeinhin unter dem Sammelbegriff "Taliban" zusammengefassten Gruppierungen sind allerdings kein monolithischer Block. Vielmehr werden die drei großen Frontabschnitte entlang der Süd- und Südostgrenze Afghanistans von verschiedenen Gruppierungen dominiert, die zwar nominell dem Oberbefehl Mulla Omars unterstehen, faktisch jedoch weitgehend eigenständig sind. Im nördlichen Frontabschnitt scheint die Islamische Partei (Hizb-i Islami) des schon aus dem Afghanistankrieg berüchtigten Gulbuddin Hekmatjar (geb. 1947) die stärkste Gruppierung. Im mittleren Teil der Front dominiert das Haqqani-Netzwerk. Diese Organisation wurde nach ihrem Führer, Jalaluddin Haqqani (geb. zwischen 1930 und 1938), benannt, der schon in den 1980er Jahren ein bekannter Kommandeur der Mujahedin war. Im Süden kämpfen die eigentlichen Taliban unter der Führung Mulla Omars und der sogenannten Quetta-Schura.

4. Taliban und al-Qaida nach 2001

Die Beziehungen zwischen den Taliban und al-Qaida waren Ende 2001 schlecht. Viele Taliban warfen Bin Laden und seinen Anhängern vor, durch die Attentate des 11. September die amerikanische Invasion Afghanistans provoziert zu haben. Trotzdem kam es zu keinem offenen Bruch und in den folgenden Jahren näherten sich die beiden Organisationen – im Kampf gegen den gemeinsamen Feind – einander wieder an. Dennoch hat al-Qaida beim Kampf in Afghanistan lediglich unterstützende Funktion, indem sie terroristisches Know-how an die Aufständischen weitergibt und möglicherweise Selbstmordattentäter ausbildet und zur Verfügung stellt. Die militärische Bedeutung ihrer Kämpfer ist sehr gering.

Es gibt kaum Belege für eine Zusammenarbeit zwischen den Quetta-Schura-Taliban und al-Qaida. Deren wichtigster Verbündeter unter den afghanischen Aufständischen ist vielmehr das Haqqani-Netzwerk, das sein Rückzugsgebiet im pakistanischen Nord Waziristan in den paschtunischen Stammesgebieten (Federally-Administered Tribal Areas, FATA) hat. Dort befindet sich das pakistanische Hauptquartier der al-Qaida. Das Haqqani-Netzwerk selbst unterstützt die ausländischen Gruppierungen zwar seit Jahren, vertritt selbst aber in erster Linie eine regionale Agenda. Der Haqqani-Familie scheint es vor allem um die Kontrolle der Loya Paktiya genannten Provinzen Paktia, Paktika und Khost zu gehen, doch äußern Führer der Organisation immer wieder Sympathie für die weitergehenden Ziele von al-Qaida und anderen Organisationen.

Da sich Waziristan nach 2001 zum Epizentrum des internationalen Terrorismus entwickelt hat, wurde das Gebiet ab 2008 zum Ziel von intensivierten amerikanischen Drohnenangriffen. Diese trafen jedoch vor allem Personal der ausländischen Organisationen und der pakistanischen Taliban, nicht das Haqqani-Netzwerk.

5. Die pakistanischen Taliban

Das Erstarken der afghanischen Aufständischen hatte dramatische Auswirkungen auf ihre pakistanischen Rückzugsgebiete. Seit 2006 ist vermehrt die Rede von einer "Talibanisierung" von Khyber Pakhtunkhwa und der Stammesgebiete. Hier setzte sich eine neue Generation von Stammesführern durch, die nicht mehr in Afghanistan kämpften, sondern auch den pakistanischen Staat zum Ziel ihrer Aktivitäten erkoren. Im Dezember 2007 gründeten sie eine Dachorganisation, die Pakistanische Taliban-Bewegung (Tehrik-e Taliban Pakistan). Ihr Führer wurde Baitullah Mehsud (ca. 1972-2009) aus Süd-Waziristan. Sein Nachfolger wurde sein Verwandter Hakimullah Mehsud.

Gemeinsam mit jihadistischen Gruppierungen starteten die pakistanischen Taliban eine regelrechte Terrorkampagne gegen ihre Gegner. Die pakistanische und die amerikanische Regierung machten Mehsud beispielsweise für die Ermordung der ehemaligen Ministerpräsidentin Benazir Bhutto im Dezember 2007 verantwortlich. Die paschtunischen Stammesgebiete – nunmehr das weltweite Epizentrum des Jihadismus – und viele angrenzende Gebiete waren im Frühjahr 2009 pakistanischer Kontrolle entglitten. Die Taliban weiteten ihren Einfluss insbesondere in der Nordwestlichen Grenzprovinz aus. In mehreren Offensiven im Swat-Tal im Mai und in Süd-Waziristan ab Oktober 2009 drängte das pakistanische Militär sie zurück, ohne damit die von ihnen ausgehende Bedrohung für die Stabilität des Landes beseitigen zu können.

Literatur

Crews, Robert D./Amin Tarzi (eds.): The Taliban and the Crisis of Afghanistan, Cambridge (Mass.)/London: Harvard University Press 2008

Giustozzi, Antonio: Koran, Kalashnikov, and Laptop. The Neo-Taliban Insurgency in Afghanistan, New York: Columbia University Press 2008

Hartung, Jan-Peter /Guido Steinberg: Islamistische Gruppen und Bewegungen, in: Ende, Werner/ Steinbach, Udo (Hrsg.): Der Islam in der Gegenwart, München5: Beck 2005, S. 681-695

Metcalf, Barbara D.: "Traditionalist" Islamic activism: Deoband, Tablighis and Talibs, Leiden : ISIM, 2002

Rashid, Ahmed: Descent into Chaos. The United States and the Failure of Nation Building in Pakistan, Afghanistan, and Central Asia, New York (u.a.): Viking 2008

Rashid, Ahmed: Taliban. Afghanistans Gotteskrieger und der Dschihad, München: Droemer 2001

Don Rassler and Vahid Brown, The Haqqani Nexus and the Evolution of al-Qa´ida, The Combating Terrorism Center at West Point Harmony Program, July 14, 2011

Schetter, Conrad: Ethnizität und ethnische Konflikte in Afghanistan, Berlin: Reimer 2003
 

 
  Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/de/
 
 
 
Zur Person

Guido Steinberg

Dr. Guido Steinberg ist Islamwissenschaftler und arbeitet für die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Von 2002 bis 2005 war er Terrorismusreferent im Bundeskanzleramt.