Konfliktporträt: Somalia

Die Hungerkatastrophe in Somalia hat dem Konflikt im Land eine Wendung gegeben. Die Übergangsregierung konnte sich vorerst gegen die militanten Islamisten durchsetzen, unterstützt durch die AU-"Friedenstruppe" AMISOM. Die islamistischen Milizen hatten die Katastrophe lange geleugnet und durch ihr Verhalten zu deren Eskalation beigetragen.

Aktuelle Konfliktsituation

Im Februar 2011 startete die Übergangsregierung (TFG) eine Offensive gegen islamistischen Milizen Al Shabaab und Hizbul Islam. Neben Mogadischu wurde vor allem in der Region Gedo in Westsomalia gekämpft. Al Shabaab verlor an Rückhalt in der Bevölkerung. Ein wichtiger Grund dafür war die Reaktion der Führung auf die sich zuspitzende Hungerkatastrophe, die vom Sprecher der Gruppe im Juli 2011 als westliche Propaganda dargestellt wurde. Im August 2011 zog sich Al Shabaab aus Mogadischu zurück. Sie hält jedoch weiterhin Positionen in Süd- und Zentralsomalia.

Damit ging eine mehrjährige Dominanz der islamistischen Milizen zu Ende. Al Shabaab kontrollierte bis Ende 2010 den Großteil Süd- und Zentralsomalias. Ihre Kämpfer unterwarfen die Bevölkerung strikten Regeln, denen eine extreme Interpretation des Islam zu Grunde lag. Jede Zuwiderhandlung konnte mit harten Strafen – von Auspeitschung bis zur Hinrichtung – geahndet werden. Dadurch wurde Ruhe und Ordnung hergestellt und die Kriminalität wirksam bekämpft.

Zuletzt hatten die Islamisten ihre Stärke offenbar überschätzt. So scheiterte die Mitte August 2010 gestartete großangelegte Offensive gegen die Übergangsregierung und die afrikanische Friedenstruppe AMISOM. Der Vormarsch der Milizen geriet ins Stocken. Hizbul Islam zerfiel und wurde im Dezember 2010 offiziell in Al Shabaab integriert.

Es ist jedoch immer noch offen, ob sich die Ende Januar 2009 in Dschibuti gebildete neue Übergangsregierung (TFG) unter Sheikh Sharif Ahmed wirklich dauerhaft in Somalia durchsetzen kann. Bisher hat sie sich durch Korruption ausgezeichnet und war jahrelang in Kriegshandlungen in Südsomalia verwickelt gewesen. Wirkliche Leistungen für die Bevölkerung müssen erst noch folgen.

Ursachen und Hintergründe

Die "Klanisierung" der somalischen Politik leistete der Fragmentierung der Gesellschaft Vorschub. Das Regime unter Siyad Barre (1969-1991) förderte gezielt bestimmte Klans und bestrafte andere kollektiv für ihr Oppositionsverhalten. Seit dem Sturz des Barre-Regimes und dem Kollaps des Staates (1991) tobt ein erbarmungsloser Kampf um die politische und wirtschaftliche Macht in Somalia.

Damit einher gingen die massive Ausbeutung schwacher Gruppen durch Warlord-Milizen, "clan cleansing" (die Schaffung klan-homogener Siedlungsgebiete durch Vertreibung und Flucht) und die Errichtung lokaler Bürgerkriegsökonomien unter der Kontrolle von Warlords und Milizen. Externe Akteure haben seit der Zeit Siyad Barres die verschiedenen Seiten mit Geld und Waffen unterstützt und so zur Verlängerung und Ausweitung der Krise beigetragen.

Bearbeitungs- und Lösungsansätze

Seit 1991 versucht die internationale Gemeinschaft, zentralstaatliche Strukturen in Somalia zu etablieren. Eine großangelegte "humanitäre" Intervention der internationalen Staatengemeinschaft (1992-1995) sowie mehr als ein Dutzend im Ausland organisierter Friedenskonferenzen sind an dieser Aufgabe gescheitert. Die somalische Gesellschaft ist entlang patrilinearer Abstammungslinien gespalten. Die Gewalterfahrungen der Vergangenheit haben großes Misstrauen unter Somalis erzeugt. Interne und externe "Störenfriede" (englisch: spoilers) untergraben zudem jeden Ansatz der Friedensbildung, solange sie von Krieg und Gewalt profitieren.

Zu den externen Kräften, die eine friedliche Neuordnung Somalias verhindern, gehören Nachbarstaaten wie Äthiopien, Kenia und Eritrea. So befürchtet Addis Abeba (unterstützt von Washington), dass das zerfallene Somalia dauerhaft zum Rückzugsgebiet für islamische Terroristen werden könnte. Die Militärintervention Äthiopiens gegen die "Union der Islamischen Gerichtshöfe" (UIC) Ende 2006 markierte den Beginn einer neuen Phase extremer Gewalt und Instabilität in Somalia. Auch auf die Ausbreitung der somalischen Piraterie reagierte die internationale Gemeinschaft primär mit militärischen Maßnahmen. Dabei konnten bis 2011, trotz hohen finanziellen Aufwands, nur Teilerfolge erzielt werden.

Der Versuch, mit der neuen Übergangsregierung unter Sheikh Sharif Ahmed die "moderaten" Islamisten zu integrieren und den Extremisten "das Wasser abzugraben", ist gescheitert. Die Übergangsregierung hat sich bislang nicht als fähiger politischer Akteur erwiesen.

Dennoch konnten abseits internationaler Interventionen und weitgehend unabhängig von externer Hilfe in Nordsomalia alternative politische Ordnungen entstehen. Mit Somaliland im Nordwesten und Puntland im Nordosten existieren schon seit den 1990er Jahren zwei staatsähnliche Gebilde, die im Inneren friedlich sind und Raum für hoffnungsvolle politische und wirtschaftliche Entwicklungen bieten. Allerdings liegen beide Gebiete in heftigem Streit. Puntland ist an einem geeinten, aber föderalen Gesamt-Somalia interessiert und versucht deshalb, eine eigenstaatliche Entwicklung Somalilands zu verhindern.

Geschichte des Konflikts

Nach zehn Jahren parlamentarischer Demokratie (1960-1969), die in Korruption und Nepotismus endete, etablierte General Siyad Barre nach einem Militärputsch eine sozialistische Fortschrittsdiktatur. Somalia griff 1977 Äthiopien an, um die somalisch besiedelten Gebiete zu "befreien". Die Sowjetunion entzog Mogadishu daraufhin die Unterstützung. Dies führte direkt zu der schweren militärischen Niederlage Somalias im Ogaden-Krieg 1978. Barre sah sich ab 1979 mit bewaffneten Oppositionsbewegungen wie der Somali Salvation Democratic Front (SSDF) und dem Somali National Movement (SNM) konfrontiert. Beide wurden von Klans getragen und hatten die Unterstützung Äthiopiens. Barre sicherte seine Macht mittels einer Allianz aus verschiedenen Darood-Klans und der Hilfe vornehmlich westlicher Partner (z.B. der USA).

Der Guerillakrieg eskalierte 1988, als die SNM wichtige Städte in Nordwestsomalia eroberte und Barre mit der Bombardierung dieser Städte reagierte. Ab 1989 revoltierten auch andere Klangruppen in Zentral- und Südsomalia, bis die Regierung schließlich im Januar 1991 fiel.

Der Nordwesten, der von der SNM übernommen worden war, erklärte daraufhin seine Unabhängigkeit als Republik von Somaliland. Lokale Konferenzen unter der Leitung von "Klanältesten" ebneten den Weg zum Frieden. Der Wiederaufbau der Infrastruktur wurde weitgehend mit Hilfe der somalischen Diaspora erreicht. Ab 2001 wurde eine Mehrparteiendemokratie eingeführt, und bis 2011 fanden vier freie Wahlen statt. Die Ältesten wurden als Mitglieder des Oberhauses in die staatlichen Strukturen integriert. Trotz beachtlicher politischer Erfolge genießt Somaliland bisher keine internationale Anerkennung.

In Süd- und Zentralsomalia zerfielen die Milizen nach ihrem Sieg über Barre in zahlreiche sich gegenseitig bekämpfende Splittergruppen. Dürre, Krieg und Staatszerfall kosteten 1991-92 schätzungsweise 300.000 Menschen das Leben. Die humanitäre Intervention konnte zwar die Verteilung der Hilfsgüter sichern und zur Beendigung der Hungersnot beitragen. Die Intervention geriet aber aufgrund einer völlig verfehlten Politik ab Juni 1993 zum Debakel. Im März 1995 zogen die letzten "Blauhelme" ab.

In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre war Somalia de facto staatslos und international kaum beachtet. Das Ausmaß der Gewalt nahm allmählich ab. Auf der Arta-Konferenz in Djibouti 1999-2000 wurde eine erste "Nationale Übergangsregierung" (TNG) unter Abdiqassim Salad Hassan, einem Hawiye, etabliert. Diese blieb jedoch machtlos.

Eine weitere "Friedenskonferenz" für Somalia, die 2002-2004 in Kenia stattfand, brachte die erste "Föderale Übergangsregierung" (TFG) unter Abdullahi Yusuf hervor. Die TFG war von Anfang an gespalten. Sie galt als von Mitgliedern der Darood-Klanfamilie dominiert und von Äthiopien gesteuert. Einflussreiche Mitglieder der Hawiye-Klanfamilie sowie die Islamisten lehnten sie ab. Die TFG konnte sich nicht durchsetzen und musste deshalb von außerhalb der Hauptstadt aus regieren.

Erst die äthiopische Militärintervention gegen die "Islamischen Gerichtshöfe" (UIC) Ende 2006 brachte Präsident Abdullahi Yusuf und seine TFG in die somalische Hauptstadt. Hawiye-Klanmilizen und islamistische Zellen reagierten mit einem bewaffneten Aufstand. Mogadischu versank für zwei Jahre in einem blutigen Konflikt, in dem sich Al Shabaab als mächtigste islamistische Miliz etablierte. Die Internationale Gemeinschaft versuchte, ab 2008 im "Djibouti-Prozess" die islamistische Opposition zu spalten. Dies gelang mit Hilfe gemäßigter Islamisten und verhandlungsbereiter Teile der TFG. Präsident Abdullahi Yusuf trat im Dezember 2008 zurück. Äthiopien zog im Januar 2009 ab, ohne Al Shabaab besiegt zu haben. Im djibutischen Exil wurde Sheikh Sharif Ahmed zum neuen Präsidenten der TFG gewählt.

Literatur

Bakonyi, Jutta (2011): Land ohne Staat, Wirtschaft und Gesellschaft im Krieg am Beispiel Somalias, Frankfurt: Campus Verlag.

Bradbury, Mark (2008): Becoming Somaliland, Oxford: James Currey.

Brons, Maria (2001): Society, security, sovereignty, and the state in Somalia: From statelessness to statelessness? Utrecht: International Books.

Feichtinger, Walter und Heinzl, Gerald (Hrsg.) (2011): Somalia: Optionen – Chancen – Stolpersteine, Wien: Böhlau Verlag.

Herrmann, Ron H. (1997): Der kriegerische Konflikt in Somalia und die internationale Intervention 1992 bis 1995: Eine entwicklungsgenetische und multidimensionale Analyse, Frankfurt am Main; New York: P. Lang.

Höhne, Markus Virgil (2002): Somalia zwischen Krieg und Frieden: Strategien der friedlichen Konfliktaustragung auf internationaler und lokaler Ebene, Hamburg: Institut für Afrika-Kunde.

Lewis, Ioan (2008): Understanding Somalia and Somaliland. Culture, History, Society, London: Hurst & Co.

Marchal, Roland (2009): A tentative assessment of the Somali Harakat Al-Shabaab, in: Journal of Eastern African Studies 3/2009, S. 381-404.

Menkhaus, Ken (2007): The crisis in Somalia: Tragedy in five acts, in: African Affairs, 106(204)/2007, S. 357-390.

Links

»Harneit-Sievers, Axel und Spilker, Dirk (2008): Somalia – Alte Konflikte und neue Chancen zur Staatsbildung. Band 6 der Reihe Demokratie: "Demokratieförderung unter Bedingungen fragiler Staatlichkeit". Herausgegeben von der Heinrich-Böll-Stiftung.«

»Bakonyi, Jutta (2001): Instabile Staatlichkeit. Zur Transformation politischer Herrschaft in Somalia. Arbeitspapier Nr. 3 / Forschungsstelle Kriege, Rüstung und Entwicklung. Universität Hamburg.«

»Höhne, Markus V. (2006): Traditional Authorities in Northern Somalia: Transformation of powers and positions. Working Paper Nr. 82, Halle/Saale: Max Planck Institute for Social Anthropology.«

»Grosse-Kettler, Sabrina (2004): External Actors in Stateless Somalia - A War Economy and its Promoters. BICC paper 39. Bonn: Bonn International Center for Conversion, 2004.«

»Berichte und Informationen der International Crisis Group zu Somalia.«

»Human Rights Watch (2010): Harsh war, harsh peace: Abuses by al-Shabaab, the Transitional Federal Government, and AMISOM in Somalia 2010.«

»Marchal, Roland (2008): Somalia: A New Front against Terrorism.«

»Fischer Weltalmanach.«

 



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Zur Person

Markus Virgil Höhne

Markus Virgil Höhne, geb. 1975, arbeitet am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung. Seine Doktorarbeit zu Staats- und Identitätsbildung in Nordsomalia (Somaliland und Puntland) hat er 2011 abgeschlossen. Zusammen mit Virginia Luling hat er das Buch Milk and peace, drought and war: Somali culture, society and politics (London, 2010) herausgegeben. Internet: http://www.eth.mpg.de/cms/en/people/d/mhoehne/index.html