Friedenskonsolidierung: Bonsien-Herzegowina

Der Friedensprozess in Bosnien-Herzegowina steckt in einem Dilemma. Einerseits verhindert das "Halbprotektorat" der internationalen Gemeinschaft, dass politische Parteien und Bevölkerung selbst Verantwortung übernehmen können. Andererseits droht genau für diesen Fall eine massive Reeskalation der ethnopolitischen Auseinandersetzungen.

Anlässlich des 16. Jahrestages des Massakers von Srebrenica haben sich zehntausende Menschen vor der Potocari-Gedenkstätte versammelt, um weitere 613 neu identifizierte Opfer beizusetzen, 11.07.2011.Anlässlich des 16. Jahrestages des Massakers von Srebrenica haben sich zehntausende Menschen vor der Potocari-Gedenkstätte versammelt, um weitere 613 neu identifizierte Opfer beizusetzen, 2011. (© AP)

Der Weg zum Frieden

Nach dem Friedensschluss von Dayton, der 1995 den Krieg zwischen bosnischen Serben, Kroaten und Muslimen beendete, durchlief das Land einen sehr widersprüchlichen und fragilen Transitionsprozess. Das Abkommen, das von den Regierungen Kroatiens und Restjugoslawiens mitgetragen wurde, sorgte dafür, dass Bosnien als ungeteilter, souveräner Staat in den international anerkannten Grenzen bestehen blieb.

Bosnien und Herzegowina – wie es fortan heißt – setzt sich aus zwei Teilrepubliken (Entitäten) zusammen: der Republika Srpska (RS) mit 49% und der bosniakisch-kroatischen Föderation mit 51% des Territoriums. Auf gesamtstaatlicher Ebene wurden ein Zwei-Kammer-Parlament, ein dreiköpfiges Staatspräsidium (zur Wahrung des ethnopolitischen Proporzes), ein Ministerrat, ein Verfassungsgericht und eine Zentralbank errichtet. Die Institutionen besitzen jedoch nur wenige Kompetenzen, darunter für die Außen- und Außenhandelspolitik, Zoll- und Geldpolitik, Einwanderungsfragen sowie die Kontrolle des Luftverkehrs, und seit 2005 auch für die Militär- und Verteidigungspolitik. Alle weiteren Kompetenzen liegen bei den Teilrepubliken.


Der Dayton-Vertrag verpflichtete das Land auch zur Einführung der Marktwirtschaft, Privatisierung von Staatsfirmen und Anpassung an die Vorgaben internationaler Finanzinstitutionen. Ein internationaler Beauftragter (High Representative) übernahm die Aufsicht über die Einhaltung der Vertragsbestimmungen. Eine NATO-geführte Schutztruppe (IFOR und später SFOR) sorgte für die Aufrechterhaltung des innergesellschaftlichen Friedens. Eine internationale Polizeieinheit übernahm Unterstützungsfunktionen. Heute wird die im Dayton-Vertrag vereinbarte Friedenspflicht durch die auf 2.500 Personen reduzierte europäische EUFOR überwacht.

Erfolge und Fortschritte

Die Umsetzung des Dayton-Vertrags garantierte die Bewegungsfreiheit innerhalb Bosniens, gewährte Flüchtlingen und Vertriebenen das Recht auf Rückkehr in ihre Wohnorte und ebnete den Weg für demokratische Wahlen. Internationale Hilfen von Staaten, internationalen Organisationen und NGOs im Umfang von rd. 14 Mrd. US-Dollar ermöglichten einen zügigen Wiederaufbau. Die wirtschaftliche Entwicklung leidet allerdings unter einem ineffizienten öffentlichen Sektor und bürokratischen Hürden für Unternehmensgründungen. Das hohe Leistungsbilanzdefizit wird nur notdürftig durch Devisentransfers aus der bosnischen Diaspora in Westeuropa und den USA gemildert. Die Arbeitslosenrate liegt bei 40-45% Prozent, der Anteil der Schattenwirtschaft an der Gesamtwirtschaft bei 20-25%.

Mit dem Eingreifen der internationalen Gemeinschaft ist es gelungen, einen verlustreichen Krieg zu beenden und weitere Gewaltausbrüche zu verhindern. Die Armeen der kriegsbeteiligten Volksgruppen wurden aufgelöst und zu gemeinsamen Streitkräften zusammengeführt. Auch die Aufarbeitung von Kriegsverbrechen wurde unterstützt. Eine Führungsrolle dabei übernahm das 1993 von der UNO geschaffene International Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia (ICTY) mit Sitz in Den Haag. Das Tribunal hat 161 Personen angeklagt und 64 rechtskräftig verurteilt. Einige Verfahren so gegen den Führer der bosnischen Serben, Radovan Karadzic, und den mutmaßlichen Drahtzieher des Massakers in Srebrenica 1995, General Ratko Mladic, sind noch anhängig. Das ICTY hat auch zur Dokumentation von Kriegsverbrechen und damit zur Arbeit nationaler Strafkammern beigetragen. Von diesen sind noch einige Tausend offener Fälle zu verhandeln.

Internationale Geldgeber haben Maßnahmen gefördert, um die gesellschaftliche Aufarbeitung der Vergangenheit zu unterstützen. Seit 2004 kooperieren dazu Organisationen aus Bosnien, Serbien und Kroatien. Sie initiierten 2008 eine Kampagne zur Errichtung einer überregionalen Wahrheitskommission (CORECOM) unter Einschluss aller Länder des ehemaligen Jugoslawien. Diese Initiative wird von mehr als 130 NGOs aus der Friedens- und Menschenrechtsarbeit, von Jugend- und Frauengruppen sowie einigen Opfer- und Veteranenverbänden mitgetragen. Bislang haben die Initiative jedoch nur einzelne Politiker unterstützt.

Probleme und Defizite

Internationale Organisationen neigen dazu, das Beispiel Bosnien als Erfolgsgeschichte darzustellen – nicht zuletzt, um den schrittweisen Abzug von Ressourcen zu begründen. Von der Friedens- und Konfliktforschung und vielen Regionalexperten wird die Bilanz dagegen skeptischer beurteilt, die dafür insbesondere das faktische Scheitern des bosnischen Staates anführen. Vor allem die Einrichtung eines "Halbprotektorats" war und ist problematisch. Der Hohe Repräsentant hat die Befugnis, nicht nur Gesetze zu erlassen oder außer Kraft zu setzen, sondern auch Politiker, die Hass schüren, ihres Amtes zu entheben.

Doch konnten selbst diese weitgehenden Eingriffsrechte nicht verhindern, dass sich bereits bei den ersten demokratischen Wahlen 1996 viele nationalistische Hardliner an der Macht halten und ihren Einfluss stärken konnten. Auch in den Folgejahren nutzten sie geschickt die Veto-Möglichkeiten der auf Machtteilung angelegten Institutionen, um Reformen im Bereich der Bildung und Erziehung, der Medien sowie im Sicherheitssektor zu bremsen oder zu unterlaufen. Das zwang den Hohen Repräsentanten immer wieder zum Eingreifen. Internationale Fördermaßnahmen für Zivilgesellschaft schufen zwar begrenzten Raum für Dialog jenseits der ethno-nationalistischen Logik; dies konnte aber nicht die Defizite bei der Staatsbildung kompensieren.

Die internationalen Wiederaufbauhilfen brachten nicht die erhofften Ergebnisse. Den massiven Ressourcenzufluss in den ersten Jahren konnte das Land kaum absorbieren. Ca. 1 Mrd. US Dollar wurden veruntreut. Illegale Netzwerke und Schattenökonomien prägen eine wirtschaftliche Struktur, die kaum geeignet ist, ausländische Direktinvestitionen anzuziehen. Die Polizeimissionen der UNO und der EU tragen zwar begrenzt zur Modernisierung örtlicher Sicherheitskräfte bei, können jedoch dem organisierten Verbrechen, Drogen- und Menschenhandel wenig entgegensetzen. Der Aufbau eines Polizeiwesens, das sich an einheitlichen Standards orientiert, wurde bislang durch den Machtkampf zwischen den beiden Entitäten hintertrieben.

Nach wie vor mangelt es an Identifikation der politischen Eliten und vieler Bürgerinnen und Bürger mit dem gemeinsamen Staat. Seit Anfang 2006 beherrscht nationalistische Rhetorik wieder verstärkt die innenpolitischen Auseinandersetzungen. Auslöser waren der Austritt Montenegros aus der Föderation mit Serbien und die Unabhängigkeit des Kosovo. Der Ministerpräsident der RS, Milorad Dodik, forderte daraufhin einen Volksentscheid über den Verbleib der RS in Bosnien. Die Reaktionen bosniakischer Politiker trugen zur weiteren Polarisierung zwischen den drei Volksgruppen bei.

Kroatische Hardliner nutzten die Gunst der Stunde und forderten eine dritte (kroatische) Entität. Die Wahlen im Oktober 2010 brachten zwar eine Stimmenmehrheit für die multiethnisch zusammengesetzte Sozialdemokratische Partei (SDP), doch bald danach stürzte das Land wieder in eine zweifache politische Krise. Wegen Unstimmigkeiten über die Vertretung der Interessen der tonangebenden kroatischen Parteien verweigerten sich diese auf Föderationsebene der Regierungsbildung und bildeten ein Schattenparlament. Gleichzeitig verschärfte sich die Konfrontation zwischen den beiden Entitäten, weil die serbische Entität die Legitimität des für Korruption und Kriegsverbrechen zuständigen Nationalen Gerichtshofs (State Court) in Frage stellte und dazu ein Referendum ankündigte. Dies konnte nur durch internationalen Druck abgewendet werden. Wegen der Grabenkämpfe blieb Bosnien-Herzegowina auf der gesamtstaatlichen Ebene über ein Jahr ohne Regierung.

Dabei wäre viel zu tun. Der Prozess der Staatsbildung ist unabgeschlossen. Bestimmungen in den Entitäten, Kantonen und auf nationalstaatlicher Ebene sind z.T. nicht miteinander kompatibel. Institutionelle Reformen, die dem Nationalstaat mehr Kompetenzen verschaffen würden, sind nicht mehrheitsfähig. Internationale Bemühungen, mit den Konfliktparteien die strittigen Punkte zu klären und die Verfassung an die Kopenhagener Kriterien der EU anzupassen, sind bislang nicht erfolgreich. Damit verharrt das Land im politischen Stillstand und ist vorerst ohne Aussicht auf EU-Anbindung.

Die Situation wird durch die wirtschaftlichen Probleme verschärft. Gefühle der Perspektivlosigkeit verfestigen sich vor allem unter Jugendlichen. Um sie gegen nationalistische Diskurse zu immunisieren, muss man ihnen den Kontakt mit anderen Kulturen ermöglichen, etwa im Rahmen von Stipendien, Schüler- und Jugendaustausch. Die Visa-Liberalisierung der EU 2010 hat dafür erste Voraussetzungen geschaffen.

Zusätzliche Literatur

»International Crisis Group (2011): Bosnia: State Institutions under Attack. Policy Briefing, Europe N°62, Sarajevo/Istanbul/Brussels, 6 May 2011.«

Bieber, Florian (2006): Post-War Bosnia: Ethnicity, Inequality and Public Sector Governance, London: Palgrave MacMillan.

Fischer, Martina (Hrsg.) (2007): Peacebuilding and Civil Society in Bosnia-Herzegovina. Ten Years after Dayton, Berlin/Münster: LIT Verlag, 2. Aufl.

Solioz, Christophe (2007): Turning Points in Post-war Bosnia: Ownership Process and European Integration, Baden-Baden: Nomos Verlag.

»Woodward, Susan (2009): A Case for Shifting the Focus: Some Lessons from the Balkans, in: Fischer, Martina/ Schmelzle, Beatrix (Hrsg.): Building Peace in the Absence of States, Berghof Handbook Dialogue Series No. 9, Berlin: Berghof Forschungszentrum, S. 47-56.«

Links


»Berghof Forschungszentrum für konstruktive Konfliktbearbeitung«

»Center for European Integration Strategies«

»Forschungsgruppe Bosnien:«

»Coalition for a Regional Truth Commission«

»Riegler, Henriette (2008): Un/Sicherheit und In/Stabilität des "Westlichen Balkan", Arbeitspapier 59 / Dezember 2008, Österreichisches Institut für Internationale Politik, Wien.«

»Texte der International Crisis Group zu Bosnien-Herzegowina:«


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Zur Person

Martina Fischer

Dr. Martina Fischer, Jahrgang 1958, ist stellvertretende Leiterin des Berghof Forschungs-zentrums für konstruktive Konfliktbearbeitung in Berlin. Sie ist Mitherausgeberin des Berghof Handbook for Conflict Transformation und publizierte zu Fragen der Friedensförderung in Nachkriegsregionen, Verknüpfung von Friedensarbeit und Entwicklungszusammenarbeit, zum Verhältnis von Militär und Gesellschaft sowie zur Europäischen Friedenspolitik.