Konfliktporträt: Kurdenkonflikt
Die Türkei hat die Rechte der kurdischen Bevölkerung im Zuge der EU-Beitrittsverhandlungen leicht gestärkt. Im Irak genießen sie heute weitreichende Autonomie. Iran respektiert sie kaum als eigene Volksgruppe. In Syrien sind Verbesserungen im Zuge der Unruhen vom Frühsommer 2011 absehbar.
Die aktuelle Situation
In der Türkei hat sich der Konflikt zwischen der verbotenen Kurdischen Arbeiter-Partei PKK und dem türkischen Militär seit Anfang 2011 wieder verstärkt. Es wird vermutet, dass sich als Widerhall auf die arabische Befreiungsbewegung innerhalb der PKK radikalere Kräfte durchgesetzt haben. Am 17. August 2011 startete das türkische Militär mehrere Offensiven gegen PKK-Stellungen mit über 100 Toten. Die PKK hatte zuvor Anschläge gegen türkische Militärziele mit mehreren Dutzend Toten verübt .
Im Irak versucht die weitgehend autonome kurdische Regionalregierung im Norden des Landes die Kontrolle über die ölreichen Gebiete rund um Mosul und Kirkuk zu sichern. 2003 hatten kurdische Kampfverbände (Peshmerga) die allgemeine Kriegskonfusion genutzt, und die grüne Grenze zum Rest-Irak überschritten. Seitdem beanspruchen die Kurden diese Gebiete für sich. Die Zentralregierung forderte sie jedoch zurück, was die Spannungen auch militärisch anheizt. Die Frage der kurdischen Streitkräfte ist einer der zentralen Konfliktpunkte: Während die Verfassung des Gesamtirak eine Eingliederung der Kampfverbände in die regulären irakischen Sicherheitskräfte vorsieht, überlässt die kurdische Regionalverfassung, verabschiedet 2009, den Oberbefehl über die Peshmerga beim Präsidenten der kurdischen Autonomiebehörde.
Im schiitischen Iran müssen die überwiegend sunnitischen Kurden eine massive wirtschaftliche, politische und kulturelle Diskriminierung erdulden. Zuletzt schürte ein Bombenanschlag im September 2010 während einer Militärparade in Mahabad, Hauptstadt der Provinz Kurdistan, erneut den Konflikt zwischen der kurdischen Bevölkerung und der Zentralregierung. Auch in Syrien werden Kurden diskriminiert. Ca. 20% der syrischen Kurden wurde 1962 die Staatsbürgerschaft entzogen, sie galten als "staatenlos". Im Zuge der Unruhen wurden im April 2011 seitens der syrischen Behörden jedoch die Wiederanerkennung der Staatsbürgerschaft sowie die Erteilung von Arbeitsgenehmigungen für die ca. 350.000 betroffenen Kurden in Aussicht gestellt.
Ursachen und Hintergründe des Konflikts
Die Ursprünge der Kurdenproblematik lassen sich im Wesentlichen auf den Zerfall des Osmanischen Reichs nach dem 1. Weltkrieg zurückführen. Waren die Kurden bis dahin eine Entität neben anderen, traten nun v.a. Türken, Araber, Perser und Armenier als ethnische Gruppen in Erscheinung, die sich für die Bildung eines eigenen Nationalstaates einsetzten. Die Grenzen der neu geschaffenen Staaten verliefen quer durch die kurdischen Siedlungsgebiete, bestehende familiäre und auch ökonomische Beziehungen wurden unterbrochen. Die Kurden sahen sich bald starken Repressalien ausgesetzt.
Die Kurden (gemäß Schätzungen 24-27 Mio.) bezeichnen sich als "Volk ohne Land". Beheimatet in fünf Ländern – Türkei ca. 13 Mio., Irak ca. 4 Mio., Iran ca. 5,7 Mio., Syrien ca. 1 Mio. und Armenien ca. 400.000 – sind sie höchst verschieden und teilweise zerstritten. Es gibt drei kurdische Sprachen (Kurmandschi, Sorani und Zazaki) und unterschiedliche Religionszugehörigkeiten, v. a. Sunniten, Yeziden, Aleviten und assyrische Christen. Die Frage, wer Kurde ist, ist nicht leicht zu beantworten. Gleiches gilt für die Grenzen der kurdischen Gebiete und die Geschichtsschreibung.
Die Republik Türkei unter Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk betrieb seit ihrer Gründung 1923 unter dem Slogan "Ne mutlu Türküm diyene" (Wie glücklich ist der, der sagen kann: Ich bin ein Türke) die Schaffung einer türkischen Nation. Der Status geschützter Minderheiten wurde lediglich Griechen, Armeniern und Juden zuerkannt – eine Folge des Osmanischen Millet-Systems, das die Bevölkerung gemäß ihrer Religionszugehörigkeit (Muslime, Christen, Juden) einteilte und behandelte. Die Kurden als überwiegend muslimisch-sunnitische Gruppierung wurden nicht als Minderheit anerkannt. Kurdische Traditionen, Sprache und Kultur wurden negiert und unterdrückt.
In den anderen neu entstandenen Staaten erging es den Kurden meist nicht besser. Besonders prekär war ihre Lage in Iran unter Ayatollah Khomeini und im Irak unter Saddam Hussein, die beide 1979 an die Macht kamen. In den nachfolgenden Kriegen und Konflikten zwischen beiden Staaten wurden die Kurden beiderseits der Grenze als "Sündenböcke" missbraucht (s. unten).
Nach Ende der Herrschaft von Saddam Hussein haben die irakischen Kurden jedoch die größten Fortschritte auf dem Wege zu politischer Selbstbestimmung erreicht. Zwar sind die Kurden mit ca. 15% die kleinste der drei großen ethnischen Gruppierungen im Irak (Schiiten ca. 60%, Sunniten ca. 25%), ihr Siedlungsgebiet verfügt aber über erhebliche Ölvorkommen – allein das Ölfeld von Kirkuk birgt ca. 10% der irakischen Vorkommen. Seit 1991 verwalten sich die Kurden mit ihrer Kurdistan Regional Government (KRG) faktisch selbst und greifen seit 2003 aktiv in die Geschicke des Gesamtirak ein. Dies geschieht jedoch kaum mit geeinten Kräften, sondern häufig nach clanbasierten Eigeninteressen. Iraks kurdischer Staatspräsident Dschalal Talabani stammt z. B. aus einem rivalisierenden Clan von KRG-Präsident Masud Barzani. Ihre beiden Parteien PUK (Patriotische Union Kurdistans) und DPK (Demokratische Partei Kurdistans) haben sich zwar jüngst zu einer politischen Allianz zusammengeschlossen, doch schwelen die traditionellen Animositäten zwischen beiden Clans weiter.
Bearbeitungs- und Lösungsansätze
Führende Kräfte auf kurdischer Seite haben eingesehen, dass die Schaffung eines gemeinsamen Staates unerreichbar (und auch nicht erstrebenswert) ist. Diese Überzeugung ist ein wichtiger Schritt für eine dauerhafte Befriedung der Region. Für den Bereich der Türkei lassen sich positive Entwicklungen im Zuge der fortschreitenden EU-Beitrittsverhandlungen erkennen. Die Regierung unter Premierminister Erdoğan agiert deutlich realistischer als ihre Vorgängerinnen.
Im Irak wird die weitere Entwicklung vor allem davon abhängen, inwieweit sich der Zentralstaat politisch und wirtschaftlich stabilisiert. Die Zugehörigkeit zu einem funktionierenden Irak liegt im Interesse der meisten Kurden. Sollte der Irak allerdings im momentanen fragilen Zustand verharren und eine nachhaltige Entwicklung der Öl- und Gasförderung, aber auch des Tourismus ausbleiben, könnten die Kurden verstärkt für eine vollständige Unabhängigkeit eintreten. Das Abkommen zwischen der EU und der Türkei über den Bau der Nabucco-Pipeline (2009) spielt hier hinein, durch die künftig vermehrt Gas aus den kurdischen Gebieten nach Europa transportiert werden könnte. Weil dies der KRG finanziell größere Unabhängigkeit von Bagdad ermöglichen würde, hat die irakische Regierung einer kurdischen Beteiligung eine Absage erteilt.
Geschichte des Konflikts
Nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches waren die Kurden zur Minderheit in den fünf neu geschaffenen Staaten Armenien, Türkei, Irak, Iran und Syrien geworden. Als solche waren sie von Anfang politischen, wirtschaftlichen und sozialen Repressionen ausgesetzt. Die jahrzehntelange Diskriminierung der Kurden in der Türkei löste am 15.8.1984 den ersten bewaffneten Angriff der PKK gegen Militäreinrichtungen in Şemdinli und Eruh aus. Seitdem fielen den Kämpfen nach offiziellen türkischen Angaben rund 45.000 Menschen zum Opfer. Zum Repertoire der PKK gehörten neben Entführungen und bewaffneten Überfällen auch Selbstmordattentate und Ermordungen türkischer Personen, nicht nur in der Türkei. Nach der Festnahme von PKK-Führer Abdullah Öcalan 1999 erleben die Kämpfe zwischen der türkischen Armee und dem bewaffneten Arm der PKK seit 2007 einen neuen Höhepunkt: Attentate der PKK werden von der türkischen Armee mit Luftangriffen auf kurdische Stellungen beantwortet, phasenweise auch auf irakischem Territorium.
Von der irakischen und iranischen Regierung wurden die Kurden bei der Ausfechtung ihrer wechselseitigen Konflikte (z.B. im 1. Golfkrieg 1980-88) oftmals instrumentalisiert. Sowohl Bagdad als auch Teheran unterstützten die Kurden auf der jeweils anderen Seite, damit diese dort die Zentralregierung destabilisieren. Nachdem Iran und Irak im Jahr 1975 ihre Grenzstreitigkeiten im Mündungsgebiet von Euphrat und Tigris beigelegt hatten, stellte der Shah von Persien seine Unterstützung für die irakischen Kurden umgehend ein, die fortan umso mehr den Repressalien aus Bagdad ausgeliefert waren. Im Krieg zwischen beiden Ländern von 1980-1988 verschärften sich diese Maßnahmen, da die Kurden der Kollaboration mit der jeweils anderen Seite verdächtigt wurden. Trauriger Höhepunkt auf irakischer Seite war der Giftgasangriff auf die kurdische Stadt Halabdscha im März 1988, bei dem bis zu 5.000 Menschen ums Leben kamen und bis zu 10.000 verletzt wurden. Hunderttausende wurden zur Flucht gezwungen. Nach der Niederlage Saddam Husseins gegen die alliierten Truppen 1991 im 2. Golfkrieg und dem Verlust der Kontrolle über die kurdischen Gebiete wurden diese von der UNO zur Flugverbotszone erklärt, um sie vor weiteren Angriffen der irakischen Armee zu schützen.
Im Iran war die Ausrufung der "Kurdischen Republik von Mahabad" am 22.1.1946 nur ein kurzes Intermezzo in den Wirren nach Ende des 2. Weltkriegs. Schon nach elf Monaten hatten die iranischen Truppen das Gebiet wieder unter Kontrolle. Die islamische Revolution von 1979 verschärfte die ohnehin schwierige Situation für die Kurden weiter, zentrale Führungsfiguren wurden vom Teheraner Regime ermordet, so u. a. im Berliner Mykonos-Restaurant 1992. Entsprechend schwach sind kurdische Autonomiebestrebungen in der Islamischen Republik heute.
Literatur
Deschner, Günther (2003): Die Kurden – Volk ohne Staat, München: Herbig Verlag.
Deveci, Süleyman (2007): Menschen aus der Geschichte Kurdistans, Neckenmarkt: Novum Verlag.
Kartal, Celalettin (2002): Der Rechtsstatus der Kurden im Osmanischen Reich und in der modernen Türkei. Der Kurdenkonflikt, seine Entstehung und völkerrechtliche Lösung, Hamburg: Verlag Dr. Kovac.
Meggle, Sarah (2009): Kurdistan im neuen Irak, Saarbrücken: VDM Verlag Dr. Müller.
Meiselas, Susan (2008): Kurdistan: In the shadow of history, Chicago: University of Chicago Press.
Strohmaier, Martin / Yalcin-Heckmann, Lale (2003): Die Kurden. Geschichte, Politik, Kultur, München: Verlag C. H. Beck.
Links
»Informationen, Analysen und Berichte zum Kurdenkonflikt der Arbeitsgemeinschaft Friedensforschung der Universität Kassel«.
»Dossier "Kurdistan" auf Spiegel-Online«.
»Offizielle Internetpräsenz der Kurdischen Regionalregierung im Irak«.
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Zur Person
Jan Claudius Völkel
Jan Claudius Völkel, geb. 1976, ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arnold-Bergstraesser-Institut an der Universität Freiburg sowie Regionalkoordinator für Nordafrika und Nahost beim Bertelsmann Transformation Index (BTI). Von 1996 bis 2002 studierte er Politikwissenschaft, Volkswirtschaft und Islamwissenschaft an den Universitäten Freiburg, Kairo und Basel und promovierte 2007 zu "Die Vereinten Nationen im Spiegel führender arabischer Tageszeitungen". Im Sommer 2006 evaluierte er ein Dezentralisierungsprojekt in Äthiopien und verfolgt seitdem intensiv die Entwicklung des Landes.
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