Konfliktporträt: China - Tibet
Der Konflikt zwischen Tibetern und der chinesischen Führung ist nach den Unruhen im März 2008 weiter eskaliert. Seit Februar 2011 haben sich über 120 Tibeterinnen und Tibeter aus Protest selbst angezündet. Die chinesische Regierung setzt weiterhin auf einseitige Wirtschaftsentwicklung und Repression.
Aktuelle Situation
Nach dem Aufstand der Tibeter Mitte März 2008 häufen sich Proteste und Repressionen in den von der ethnischen Minderheit bewohnten Gebieten der westlichen Provinzen Gansu, Sichuan, Yunnan und Qinghai sowie der Autonomen Region Tibet (TAR). Waren die Selbstverbrennungen zu Beginn auf einzelne Klosterregionen (u.a. Grenzgebiet Gansu/Qinghai) und Geistliche beschränkt, greifen nun auch Laien (Schüler, Lehrer und Nomaden) aller Regionen zu diesem Protestmittel. Peking hat nach anfänglicher Zurückhaltung die Selbstverbrennungen jüngst kriminalisiert. Einige Angehörige und Freunde der Opfer wurden wegen "(Beihilfe zum) Mord" zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt.
Peking macht den Dalai Lama für die Selbstverbrennungen verantwortlich. Das Oberhaupt der Tibeter sprach nach anfänglichem Schweigen im Sommer 2012 von einer schwierigen Urteilsfindung. Er bleibe am besten "neutral", so der Dalai Lama. Das tibetische Zentrums für Menschenrechte und Demokratie (Tibetan Center for Human Rights and Democracy, TCHRD) in Dhramshala und die tibetischen Bloggerin Woeser berichten, dass seit Ende 2011 chinesische Behörden die sogenannte Politik der "neun zu habenden [Sachen] (jiu you) ", u.a. Besitz von bzw. Zugang zu Wasser, Fernsehen, chinesischen Flaggen und Porträts vierer Parteivorsitzender (Mao Zedong, Deng Xiaoping, Jiang Zemin und Hu Jintao) rigoros durchsetzen. Dies hat an einigen Orten zunehmenden Widerstand ausgelöst. In der Gemeinde Biru im Osten der TAR hat die lokale Polizei Anfang Oktober 2013 bei einer gewaltsamen Auflösung von Protesten gegen das Flaggenhissen mindestens 60 Menschen verletzt und Dutzende verhaftet, was weitere Demonstrationen und Repressionen ausgelöst hat.
Ursachen und Hintergründe
Die Unruhen 2008 markierten eine neue Phase des Konflikts. Am 12. März 2008 hatten chinesische Sicherheitskräfte friedliche Proteste von Mönchen aus Klöstern um Lhasa anlässlich des 50. Jahrestags des tibetischen Aufstands vom 10. März 1959 gewaltsam aufgelöst. Daraufhin randalierten am 14. März Tibeter gegen Läden von Han-Chinesen in der Innenstadt von Lhasa. Laut TCHRD kamen 120, nach Angaben Pekings 19 Menschen ums Leben. Nach den auf die Krawalle folgenden Repressionen weiteten sich die tibetischen Proteste auf die Nachbarprovinzen aus. Die chinesische Zentralregierung verurteilte mindestens sieben Menschen zum Tode und Dutzende zu lebenslänglichen Haftstrafen. Menschenrechtsorganisationen berichteten von einer Intensivierung der sog. patriotischen Erziehungskampagnen. Im Rahmen derer werden Tibeter gezwungen, die religiös-politische Autorität des Dalai Lama zu verleugnen. Ethno-politische Auseinandersetzungen bilden den Kern des Tibet-Konflikts. Die Parteien vertreten unterschiedliche Vorstellung in Bezug auf den Grad der Souveränität und des Einflusses der chinesischen Politik und Wirtschaft in den tibetischen Siedlungsräumen. Diese umfassen außer der autonomen Region am Himalaya auch Teile der Provinzen Qinghai, Gansu, Sichuan und Yunnan.
Zusammengenommen machen sie rund ein Viertel des chinesischen Territoriums aus. Der Dalai Lama, das geistige Oberhaupt der Tibeter, spricht sich im Rahmen eines "mittleren Weges" gegen die Unabhängigkeit, aber für eine weitreichende Autonomie eines einheitlichen Verwaltungsraums aller historischen tibetischen Siedlungsgebiete aus. Die chinesische Regierung lehnt dies als "Eingriff in die territoriale Integrität" ab und will lediglich die Teilautonomie für die TAR beibehalten. Im März 2011 hat der Dalai Lama seinen Rückzug aus dem politischen Leben verkündet. Der in Harvard studierte Rechtswissenschaftler Lobsang Sangay wurde im April zum neuen Oberhaupt der exiltibetischen Regierung in Dhramshala (Indien) gewählt. Sangay, der selbst noch nie in Tibet war, gilt als Unterstützer des "mittlere Weges" des Dalai Lama.
In der Exilgemeinschaft finden sich auch andere Stimmen. Der 1970 gegründete tibetische Jugendkongress mit nach eigenen Angaben weltweit 35.000 Mitgliedern setzt sich für eine "Befreiung Tibets von der chinesischen Herrschaft" und politische Unabhängigkeit ein. Viele Tibeter empfinden die Gängelung der Klöster und Entweihung von heiligen Bergen durch Minenbau als Provokation. Die städtische Jugend begrüßt aber auch die von China vorangetriebene Modernisierung mit neuen Arbeitsmöglichkeiten und Lebensentwürfen. Allerdings fühlen sie sich auch benachteiligt, vor allem aufgrund mangelnder Ressourcen (Bildung und Kapital) sowie der Privilegierung von Han-Chinesen auf dem Arbeitsmarkt.
Bearbeitungs- und Lösungsansätze
Die seit 2002 stattfindenden, bis dato neun Gesprächsrunden zwischen Vertretern des Dalai Lama und der Einheitsfrontabteilung der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) sind bis dato ergebnislos geblieben. Das letzte Treffen fand 2010 statt. 2012 sind zwei tibetische Chefdiplomaten offenbar aus Enttäuschung über den mangelnden Fortschritt zurückgetreten. Direkte Gespräche mit der tibetischen Exilregierung lehnt Peking ab und bezeichnet diese als eine "spalterische Clique, die das Vaterland verraten hat". Auf der 5. Arbeitskonferenz zu Tibet im Januar 2010 hat Peking ein neues Entwicklungspaket mit dem Fokus auf den Ausbau der Infrastruktur und der öffentlichen Dienstleistungen sowie Umweltschutz für Tibet beschlossen. Der im August 2011 neu eingesetzte Parteisekretär Tibets, Chen Quanguo, vormals Parteisekretär der zentralen Provinz Hebei, beschrieb die wirtschaftliche Entwicklung als zentrale Aufgabe in Tibet. Das jüngste Weißbuch der chinesischen Regierung zu Tibet vom Oktober 2013 bezeichnete den ökonomischen Fortschritt als den besten Weg, die Menschenrechte in der Region zu wahren.
Von chinesischer Seite wird eine vollständige politische Autonomie ausgeschlossen. Im "Gesetz für regionale Autonomie ethnischer Minoritäten" (1984, zuletzt überarbeitet 2005) wird eine Ethnie als kulturelle und soziale, nicht aber als politische Einheit definiert. Selbstverwaltung könne deshalb nur im Rahmen des zentralistischen Systems und unter Führung der Kommunistischen Partei eingeräumt werden. Peking schreibt u.a. vor, dass in allen Schulen in den autonomen Regionen sämtliche Unterrichtsfächer – außer Tibetisch und Englisch – in Chinesisch unterrichtet werden.
Auch aus Sorge über den wachsenden Einfluss radikaler exiltibetischer Kräfte will Peking die Entstehung einer neuen, charismatischen Führungsfigur wie die des amtierenden, 14. Dalai Lama verhindern. Im Rahmen eines im August 2007 von Peking verabschiedeten Gesetzes wurde die Anerkennung der Reinkarnation des nächsten Dalai Lamas an zwei Bedingungen geknüpft: Sie muss innerhalb der Volksrepublik stattfinden und durch das nationale Religionsbüro anerkannt werden. Als Reaktion auf die Regelung hat der Dalai Lama bereits 2009 eine Debatte über andere Möglichkeiten seiner Amtsweitergabe, u.a. durch Wahl oder Bestimmung zu Lebzeiten, angestoßen, die bis dato ohne Ergebnis geblieben ist.
Nach dem Antritt der neuen Führung um Parteichef Xi Jinping im Oktober 2012 hat der Dalai Lama in Interviews mehrmals dessen “realitätsnahe Denkweise" und zupackende Art gelobt. Das tibetische Oberhaupt erinnerte sich ebenfalls an die "freundlichen" Begegnungen mit Xis Vater, Xi Zhongxun, in den 1950er Jahren in Peking. Seit 2012 hat sich der in Indien ansässige, 27-jährige Kamapa Lama, Oberhaupt der ältesten Reinkarnationslinie und Schule des tibetischen Buddhismus, vermehrt zu China geäußert. Manche Beobachter sehen den internetaffinen Ogyen Trinley Dorje als Brückenbauer nach Peking, andere verdächtigen ihn als von Peking gekauften Spion. Trotz massiver Repressionen bemüht sich das tibetische-chinesische Ehepaar Tsering Woeser und Wang Lixiong, den sporadischen Dialog zwischen Han-Chinesen, dem Dalai Lama und Tibetern aufrechtzuerhalten.
Geschichte des Konflikts
Der heutige Konflikt hat direkt mit der Gründung der Volksrepublik China 1949 begonnen und der kurz darauf folgenden Ankündigung Mao Zedongs, auch Tibet zu "befreien". 1950/51 drang die Volksbefreiungsarmee bis nach Lhasa vor. Im Mai 1951 unterzeichneten Repräsentanten der tibetischen und chinesischen Regierung das "17-Punkte-Abkommen zur friedlichen Befreiung Tibets", das die Souveränität Chinas über die tibetischen Gebiete, die Stationierung von Truppen bei gleichzeitiger Anerkennung einer regionalen politischen Autonomie und der Klerusherrschaft festschreibt. Der Dalai Lama hatte das Dokument per Telegramm anerkannt. Später bezeichnete er wie auch andere Teile der exiltibetischen Gemeinde die Unterzeichnung als "mit Waffengewalt erzwungen".
Wachsende Unzufriedenheit der Tibeter angesichts zunehmender sozialer und politischer Kontrolle Pekings führte schließlich zu einer offenen Revolte. Bei dem größten Aufstand am 10.3.1959 in Lhasa kamen vermutlich Tausende ums Leben. Der Dalai Lama, ein großer Teil seiner Administration sowie rund 80.000 Tibeter flohen nach Indien. 1965 gründete die chinesische Regierung in dem ehemaligen Einflussgebiet des Dalai Lama die Autonome Region Tibet.
Im Zuge der Reform- und Öffnungspolitik 1978/79 erlaubte Beijing religiöse Aktivitäten im Rahmen politischer Kontrolle (u.a. erzwungene Verleugnung der Autorität des Dalai Lama durch Geistliche). 1995 bestimmten der Dalai Lama und Beijing zwei unterschiedliche tibetische Kinder als Reinkarnation des Pantschen Lama, des zweithöchsten geistlichen Führers. Der Verbleib des vom Dalai Lama eingesetzten Mönches ist nicht bekannt. Menschenrechtsorganisationen beschuldigen Beijing, ihn entführt und eingesperrt zu halten.
In der Auseinandersetzung um die Statusfrage Tibets interpretieren beide Seiten die Geschichte der Region unterschiedlich. Die tibetische Exilregierung in Dharamshala verweist auf die Unabhängigkeitserklärung des 13. Dalai Lama nach dem Fall der Qing-Dynastie 1911. Eine Anerkennung durch andere Staaten erfolgte damals nicht. Aufgrund der inneren Unruhen in China durch Kriege war Tibet von 1911 bis 1949 de facto unabhängig. China betont jedoch, dass die tibetischen Gebiete bereits während der Yuan-Dynastie (1279-1368) in das chinesische Staatsgebiet eingegliedert worden seien. Diese Zugehörigkeit sei nie durch eine andere politische Souveränität unterbrochen worden.
Literatur
Blume, Georg (2008): China ist kein Reich des Bösen: Trotz Tibet muss Berlin auf Peking setzen, Körber Stiftung.
Hoppe, Thomas (1997): Tibet heute. Aspekte einer komplexen Situation, Mitteilungen des Instituts für Asienkunde, No. 281, Hamburg.
Ma, Rong (2012): Population and Society in Contemporary Tibet, Hongkong: Hongkong University Press
Mayer, Maximilian (2008): Tibet: Im Schraubstock der Modernisierung", in: Blätter für deutsche und internationale Politik, No. 5, S. 17-21.
Wang, Lixiong/ Tsering, Shakya (2012): The Struggle for Tibet, Brooklyn/London: Verso.
Links
»Heberer, Thomas (2008): Peking erlässt die "Verwaltungsmaßnahmen für die Reinkarnation Lebender Buddhas des tibetischen Buddhismus". Analyse vor dem allgemeinen Hintergrund der Tibet-Frage.«»Webseite des Blogs High Peak Blue Earth«»Heberer, Thomas (2008): Ethnischer Nepotismus – Tibet ist keine Einzelfall: Zwischen den nationalen Minderheiten und den Han-Chinesen nehmen die Spannungen zu, Handelsblatt, 1.4.2008.«»Webseite des Tibetan Center for Human Rights and Democracy:«
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