Anfragebeantwortung zum Irak: Lage von LGBT-Personen; Rechtliche Situation und staatlicher Schutz; Diskriminierung und Vorfälle von Gewalt, Behandlung durch Milizen; Schutzunterkünfte, LGBTI-Aktivismus [a-10587]

30. Mai 2018

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Rechtliche Situation und staatlicher Schutz

Die international tätige Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) schreibt in einem im April 2018 erschienenen Bericht zu LGBT-Aktivismus im Nahen Osten und in Nordafrika, dass der Irak einvernehmlichen gleichgeschlechtlichen Verkehr zwischen Erwachsenen nicht verbiete. § 401 des Strafgesetzes sehe vor, dass jede Person, die sich in der Öffentlichkeit ‚unzüchtig‘ verhalte, zu einer Gefängnisstrafe von bis zu sechs Monaten verurteilt werden könne – eine vage formulierte Bestimmung, die unter Umständen dazu benutzt werden könne, um gegen sexuelle Minderheiten vorzugehen. Es seien jedoch keine derartigen Fälle dokumentiert worden. Weiters gäbe es Bestimmungen, die bei bestimmten unerwünschten Themen die Meinungs-, Versammlungs- und Vereingungsfreiheit einschränken würden, was die Arbeit von LGBT-Menschenrechtsverteidigern beeinträchtigen könne. §210 verbiete jegliche Verbreitung von Informationen und Anschauungen, die den ‚öffentlichen Frieden‘ stören würden, und §403 und §404 würden jegliche obszöne Ansprache oder Veröffentlichung unter Strafe stellen. In einem dokumentierten Fall sei ein Arzt in der Autonomen Region Kurdistan zu sechs Monaten Haft verurteilt worden, weil er einen Artikel über gesundheitliche Aspekte von gleichgeschlechtlichem Verkehr zwischen Männern veröffentlicht habe. Er sei später begnadigt worden:

„Iraq does not criminalize consensual adult homosexual intercourse. Paragraph 401 of the Code holds that any person who commits an ‚immodest act‘ in public can be put in prison for up to six months, a vague provision that could be used to target sexual and gender minorities, although such cases have not been documented. In addition, other provisions restrict the freedoms of expression, association, and assembly relating to unpopular issues, which can impact human rights defenders working on LGBT rights. Paragraph 210 prohibits the dissemination of any information or idea that ‚disturbs the public peace,‘ while paragraphs 403 and 404 penalize any ‚obscene or indecent publication or speech.‘ In one case, Kurdish Regional Government prosecutors used paragraph 403 to sentence a doctor to six months imprisonment for publishing an article on health issues impacting men who have sex with men. He was later pardoned.“ (HRW, 16. April 2018, Seite 66)

Die International Lesbian, Gay, Bisexual, Trans and Intersex Association (ILGA), ein weltweiter Dachverband von LGBTI-Interessensgruppen, erwähnt in ihrem im Mai 2017 veröffentlichten weltweiten Bericht zu LGBT-Themen, dass das irakische Strafgesetz aus dem Jahr 1969 nach der US-amerikanischen Invasion im Jahr 2003 wiedereingesetzt worden sei. Dieses Gesetz verbiete gleichgeschlechtliche Beziehungen nicht:

„After the American invasion in 2003 the Penal Code of 1969 was reinstated in Iraq. This code does not prohibit same-sex relations.“ (ILGA, Mai 2017, S. 128)

Das US-amerikanische Außenministerium (US Department of State, USDOS) schreibt in seinem Menschenrechtsbericht vom April 2018 (Berichtszeitraum: 2017), dass es der Regierung trotz wiederholter Drohungen und Gewalt gegen LGBTI-Personen nicht gelungen sei, Angreifer zu identifizieren, festzunehmen, zu verfolgen oder die Opfer der Angriffe zu schützen. Laut dem Bericht würden die Behörden auf Vorwürfe wegen öffentlicher Indiskretion oder Prostitution zurückgreifen, um gleichgeschlechtliche sexuelle Aktivitäten rechtlich zu verfolgen. Die Behörden würden dieselben Vorwürfe benutzen, um heterosexuelle Personen, die sexuelle Beziehungen mit anderen Personen als ihrem Ehepartner eingingen, zu verhaften:

„Despite repeated threats and violence targeting LGBTI individuals, the government failed to identify, arrest, or prosecute attackers or to protect targeted individuals. Authorities relied on public indecency or prostitution charges to prosecute same-sex sexual activity. Authorities used the same charges to arrest heterosexual persons involved in sexual relations with anyone other than their spouse.” (USDOS, 20. April 2018, Section 6)

Die oben erwähnten Paragraphen des Strafgesetzbuchs in einer englischsprachigen Übersetzung können unter folgendem Link nachgelesen werden:

·      Penal Code No. 111 of 1969 (as amended to 14 March 2010) (übersetzt und veröffentlicht vom Global Justice Project Iraq, GJPI), 14. März 2010
http://gjpi.org/wp-content/uploads/gjpi-pc-1969-v1-eng.doc

Diskriminierung und Vorfälle von Gewalt, Behandlung durch Milizen

In einem im Juni 2017 erschienenen Artikel von Daily Beast, einer US-amerikanischen Nachrichtenwebsite mit Fokus auf Politik und Popkultur, kommt der Gründer der Organisation IraQueer, Amir Ashour, ausführlich zur Situation von LGBT-Personen im Irak zu Wort. IraQueer ist eine im Irak aktive, auf LGBT-Themen spezialisierte Menschenrechtsorganisation. Ashour sei kurdisch-arabischer Abstammung und habe IraQueer im Jahr 2015 gegründet. Er lebe nun als politischer Flüchtling in Schweden, da er nach eigenen Angaben nicht in den Irak zurückkehren könne. Laut Ashour seien LGBT-Personen seit dem Jahr 2006 von einer organisierten Mordkampagne betroffen, die mit der Eliminierung des Islamischer Staat (IS) keineswegs beendet sein werde. Der Hauptfeind der LGBT-Personen im Irak sei die Regierung selbst. Diese würde den Betroffenen nicht nur keinen Schutz bieten, sondern sei direkt an den Verletzungen ihrer Rechte beteiligt. Derzeit würden irakische LGBT-Personen von allen Seiten bedroht, vom IS, von Milizen, sowie von der Regierung und deren Sicherheitskräften. Daneben könne für LGBT-Personen auch die Familie, insbesondere die Großfamilie, eine Gefahr darstellen. Eine der wichtigsten bewaffneten Gruppen in Bagdad habe laut Ashour angekündigt, bei der Bekämpfung des IS mit der Regierung zusammenzuarbeiten. Diese Gruppe sei eine der wichtigsten Gruppen, die an der Organisation von Mordkampagnen an homosexuellen Männern und Männern, die aufgrund ihres Aussehens als homosexuell wahrgenommen worden seien, beteiligt gewesen sei. Ashour merkt an, dass im Irak keine Gesetze gegen Homosexualität existieren würden, das Hauptproblem sei vielmehr die Nicht-Anwendung von bestehenden Gesetzen, die LGBT-Personen vor Verfolgung schützen sollten. Darüber hinaus seien Gesetze zur „öffentlichen Moral“ oder zur „Ehre“ so vage definiert, dass sie ständig gegen Mitglieder sexueller Minderheiten angewandt werden könnten. Weiters stellt Ashour fest, dass LGBT-Personen im Irak in ihrem Alltag in Angst leben und sich unauffällig verhalten würden, ihr soziales Umfeld sei klein. In der Kurdenregion sei ihr soziales Umfeld zwar ein wenig größer, dies bedeute jedoch nicht, dass es dort nicht auch zu Gewalt an LGBT-Personen komme:

‘But in reality we’ve been facing an organized killing campaign since 2006, and that’s not going to stop with the elimination of ISIS. The first enemy of LGBT people in Iraq is the government itself. Not only are they not providing protection for us, but they are directly involved in violating our rights.’ […]

One of the main armed groups in Baghdad, Ashour said, had announced a partnership with the government in the name of fighting ISIS, and this group was one of the main groups organizing the killing campaigns of gay men and feminine men perceived to be gay. Ashour said, ‘Regardless of the fact that the Iraqi Constitution protects privacy and freedom of expression the Iraqi government has not been taking any steps to hold the people killing queer people accountable, or upholding laws which protect individuals regardless of people’s perceived idea of who they are.’ Day to day, Iraqi LGBTQ+ people live in fear, Ashour said. ‘Everyone maintains a really low profile. Their social circles are small. The social circles in the Kurdish region are a bit bigger, but does not mean violence is not happening there also.’ […]

He formed IraQueer in 2015. Half-Kurd, half-Arab, Ashour now lives as a political refugee—meaning, he said, that he cannot return to Iraq—in Malmö, Sweden. […]

For now, the threats to LGBT+ Iraqis remain on all sides: from ISIS, militias, and the government and its own forces. ‘On top of that, also families are a source of threat, especially the extended family,’ Ashour said. ‘Mainly LGBTQ+ people just think of surviving. Of course people believe in our rights and existence, but the problem is living in so much fear for so many years those individuals who support us are silent. They don’t talk about things publicly. Therefore, we tend to remain by ourselves or reach out to a small circle who are queer. Or, like what happened to Karar, we get killed.’ […]

While there are no laws against homosexuality in Iraq, ‘the main problem,’ said Ashour, is the non-application of existing laws that should protect LGBTQ+ people from persecution and violence. ‘The Constitution says that everyone is equal under the law, and does not discriminate on the basis of race, ethnicity et cetera. There is no mention of LGBTQ+ people per se, but our rights should be protected,’ said Ashour. ‘Laws on ‘public morality’ and ‘honor’ are so vague they are used against us all the time,’ he added. ‘According to these laws drinking water could be punishable. They do not define what ‘damaging to public honor’ is.’“ (Daily Beast, 7. Juni 2017)

ILGA weist im Bericht vom Mai 2017 darauf hin, dass es bekannt sei, dass im Irak nichtstaatliche Akteure (einschließlich Scharia-Richter) Exekutionen von Männern und Frauen aufgrund gleichgeschlechtlicher sexueller Handlungen angeordnet hätten. Wie von der NGO OutRight seit 2014 dokumentiert, sei auch bekannt, dass Polizei und Milizen häufig LGBT-Personen entführt, bedroht und getötet hätten:

„Non-State actors in Iraq including Sharia judges, are known to order executions of men and women for same-sex sexual behaviour, despite the fact that Iraq’s civil code is silent on same-sex sexual behaviour, and the country‘s legal system does not defer to the Sharia court. It is also known that both police and militias have frequently kidnapped, threatened and killed LGBT people, as documented by OutRight since 2014, and charted on their Timeline.“ (ILGA, Mai 2017, S. 128)

Laut USDOS sei im Berichtszeitraum 2017 die gesellschaftliche Diskriminierung aufgrund sexueller Orientierung, geschlechtlicher Identität und unkonventionellem Auftreten in den Bereichen Arbeit und Wohnen weit verbreitet gewesen. LGBTI-Personen seien von Seiten ihrer Familien oder von Seiten nichtstaatlicher Akteure häufig von Missbrauch oder Gewalt betroffen gewesen. Lokale Informanten hätten berichtet, dass Milizen LGBTI-Tötungslisten erstellt und Männer hingerichtet hätten, die als schwul, bisexuell oder transgender angesehen worden seien. Am 4. Juli 2017 sei Medienberichten zufolge Karar Nushi (Schauspieler, Model und Student) in Bagdad auf Grund seiner vermuteten Zugehörigkeit zu einer sexuellen Minderheit erstochen worden. Der IS habe im Berichtsjahr weiterhin Videos veröffentlicht, in denen Hinrichtungen von Personen zu sehen gewesen seien, die der Homosexualität bezichtigt worden seien. In Bagdad hätten einige bewaffnete Gruppen eine Hetzkampagne gegen Homosexuelle gestartet:

Societal discrimination in employment, occupation, and housing based on sexual orientation, gender identity, and unconventional appearance was common. LGBTI persons often faced abuse and violence from family and nongovernmental actors. […]

Local contacts reported that militia groups drafted LGBTI ‘kill lists’ and executed men perceived as gay, bisexual, or transgender. On July 4, media reported that Karar Nushi, an actor, model, and student, was stabbed to death in Baghdad because of his perceived sexuality. ISIS continued to publish videos depicting executions of persons accused of homosexual activity that included stoning and being thrown from buildings. Some armed groups also started a campaign against homosexual persons in Baghdad.” (USDOS, 20. April 2018, Section 6)

Die in London ansässige, unabhängig finanzierte Online-Nachrichtenorganisation Middle East Eye (MEE), die Artikel freiberuflicher Journalisten und Beiträge von Think Tanks veröffentlicht, behandelt in einem im April 2018 veröffentlichten Artikel das Thema LGBT-Personen im Irak und in der Autonomen Region Kurdistan. Die autonome Region werde im Vergleich zum Restirak allgemein als säkularer und gesellschaftlich liberaler angesehen, auch wenn dies nicht für alle Bereiche gelte – als Beispiel wird an dieser Stelle genannt, dass die Mehrheit der Frauen in der Autonomen Region Kurdistan weiblicher Genitalverstümmelung ausgesetzt sei. Dennoch, so der Artikel, sei der Einfluss konservativer religiöser Kräfte und bewaffneter Gruppen in der Kurdenregion verglichen mit dem Restirak schwächer ausgeprägt. Der in diesem Artikel zitierte stellvertretende Direktor der Menschenrechtsorganisation Rasan, Ayaz Shalal, meint zu diesem Thema, dass in Kurdistan sogar die Situation der LGBT-Personen besser sei als im Restirak, aus dem viele Menschen in den Norden des Landes flüchten würden, in dem es für LGBT-Personen sicherer sei. Er ergänzt allerdings, dass es auch dort keinesfalls sicher sei, aber dass LGBT-Personen dort immerhin nicht auf offener Straße ‚der Kopf eingeschlagen werde‘:

„The KRG [Kurdistan Regional Government], as a whole, has generally been perceived as more secular and socially liberal than the Arab-majority regions of Iraq - although not on all issues, with the majority of Kurdish women facing FGM [Female Genital Mutilation], for example. Overall, though, the influence of socially conservative religious organisations and armed groups is less pronounced. ‚Even if you compare the situation of LGBTs themselves, it's better and safer in Kurdistan. So many people just run away from the rest of the cities and they come to the north because it’s safer,‘ said Shalal. ‚That doesn’t mean it’s safe. At all. But it’s safer. Compared to the rest of Iraq, they don’t get their heads smashed in the street.‘ […]

The most well documented and virulent recent cases of violence against LGBT people in Iraq were the executions carried out in areas controlled by the Islamic State group.“ (MEE, 13. April 2018)

In dem Artikel wird weiters ferstgestellt: Während in den Medien vorwiegend über die Grausamkeiten des IS gegenüber der LGBT-Community berichtet werde, seien gerade jene Gruppen, die den IS bekämpfen würden, eine Hauptquelle der Gewalt gegenüber LGBT-Personen. Unter Saddam Hussein sei Homosexualität zwar illegal gewesen, doch habe dessen Sturz im Jahr 2003 zu einer Vermehrung bewaffneter Gruppen mit finanzieller und ideologischer Nähe zur Islamischen Republik Iran geführt, ein Land in dem seit 1979 mehr als 5.000 LGBT-Personen exekutiert worden seien. Laut Menschenrechtsorganisationen hätten bewaffnete Gruppen LGBT-Personen und Personen, denen die Zugehörigkeit zu einer dieser Minderheiten unterstellt worden sei, schikaniert und bedroht. Zumindest in einem Fall im Jahr 2014 habe die Organisation Asa'ib Ahl al-Haq eine Fahndungsliste mit den Namen mutmaßlicher LGBT-Personen veröffentlicht. In Bagdad habe im Jahr 2012 eine von bewaffneten Gruppen ausgehende Hetzkampagne begonnen, die sich gegen Männer gerichtet habe, die der ‚Emo‘-Community angehört hätten oder die als feminin oder sexuell ambivalent angesehen worden seien. Laut der UN-Unterstützungsmission für den Irak seien in Folge dessen ungefähr 56 Menschen auf Grund ihrer (vermuteten) Zugehörigkeit zu dieser Community ermordet worden. Der Artikel berichtet weiters, dass im Jahr 2017 ein Schauspieler auf Grund seines ‚homosexuellen Aussehens‘ zu Tode gefoltert worden sei:

„Images of gay men being thrown from buildings in Mosul filtered into the media, another addition to the litany of abuses carried out by the group. But the other primary source of violence against LGBT people in Iraq has stemmed from the same people who took most credit for defeating IS. Although homosexuality was illegal under Saddam Hussein, his overthrow by the US-led invasion in 2003 has seen the growth of armed groups with financial and ideological links to the Islamic Republic of Iran, a country responsible for more than 5,000 executions of LGBT people since 1979. According to human rights organisations, the armed groups have harassed and attacked LGBT people (or those perceived to be LGBT) and in at least one instance in 2014 the Asa'ib Ahl al-Haq organisation released a wanted list with the names of suspect gay men. In 2012, armed groups, primarily in Baghdad, started a campaign against people perceived to be ‚emo,‘ referring to usually young men perceived to be effeminate and sexually ambiguous. The UN Assistance Mission for Iraq reported that around 56 people were murdered for being ‚emo‘ as a result. And in 2017, an actor was stabbed and tortured to death in Baghdad for ‚looking gay,‘ according to local media reports.“ (MEE, 13. April 2018)

Laut dem MEE-Artikel habe der einflussreiche schiitische Kleriker Muqtada al-Sadr im Jahr 2016 verkündet, dass es inakzeptabel sei, Menschen wegen des Verdachts auf Homosexualität anzugreifen, wobei er allerdings gleichzeitig betont habe, dass es wichtig sei, sich von LGBT-Personen zu distanzieren. Der stellvertretende Nahost-Direktor der NGO Human Rights Watch habe in einer Stellungnahme die Tatsache begrüßt, dass der Anführer einer jener Gruppen, deren Mitglieder im Irak ernstzunehmende Übergriffe auf LGBT-Personen ausgeübt hätten, diese Angriffe verurteilt habe. Human Rights Watch, sowie die NGO IraQueer hätten zu den Worten Sadrs allerdings auch angemerkt, dass diese nicht weit genug gehen würden:

„The influential Shia cleric Muqtada al-Sadr, who also recently made headlines for his opposition to sectarianism and his alliance with the secular Communist party, announced in 2016 that it was unnacceptable to attack people suspected of homosexuality. Although he reiterated the need for Iraqis to ’disassociate‘ themselves from LGBT people, he emphasised that they must ’not attack them, as it increases their aversion, and you must guide them using acceptable and rational means‘. IraQueer and Human Rights Watch welcomed his words, though noting that they did not go far enough. ’Finally, the head of one of the groups whose members have carried out serious abuses against lesbian, gay, bisexual and transgender (LGBT) people in Iraq is condemning these heinous attacks,’ said Joe Stork, then deputy Middle East director of HRW.“ (MEE, 13. April 2018)

Im oben angeführten Bericht von HRW wird eine Stellungnahme des bereits genannten IraQueer-Gründers Amir Ashour zu der oben erwähnten Verurteilung der Morde seitens Muqtada al-Sadrs zitiert. Ashour meint, dass die Äußerung al-Sadrs keineswegs zu einem Ende des Mordens geführt habe. Al-Sadrs Worte seien gemäß Ashour nicht gesetzlich bindend und hätten nur geringe Auswirkungen auf das Verhalten der Mörder gehabt:

„But IraQueer activist Amir Ashour, asked whether the 2016 statement made a positive impact, said: ’The only thing that is positive about it is that we can refer to it. On the ground it didn’t stop the killing.’ Ashour said that although the militia responsible for the killings was affiliated to al-Sadr, ’his word is not law,’ and his condemnation of the killings made little impact on the killers.“ (HRW, 16. April 2018, Seite 19)

HRW berichtet weiters über das in der MENA-Region (Naher und Mittlerer Osten und Nordafrika) stattfindende Vorgehen gewalttätiger Extremisten gegen sexuelle Minderheiten. Diese Gewalt finde manchmal außerhalb des staatlichen Einflusses statt (wie z.B. in vom IS kontrollierten Gebieten in Irak und Syrien) und manchmal in Gebieten, in denen sich eine schwache Regierung auf verbündete bewaffnete Gruppen stütze und diesen Gruppen freie Hand bei polizeilichen Tätigkeiten lasse (wie z.B. in offiziell von der Regierung kontrollierten Gebieten Bagdads). Diese Gewalt sei zusammen mit dem Umstand, dass LGBT-Aktivismus in solchen Gebieten lebensgefährlich sein könne, einer der Gründe dafür, dass es für LGBT-Personen unmöglich sei, sich zu organisieren:

„Violent extremists have targeted gay men, transgender women and gender non-conforming people in several countries in the region. This violence, which sometimes is outside the reach of the state (as in ISIS-controlled regions of Iraq and Syria) and sometimes takes place where weak governments depend on allied armed groups to provide security and allow them free rein to ’police’ as they choose (as in nominally government-controlled areas of Baghdad, and parts of Libya), is one of the most severe obstacles to LGBT organizing: being an ’out’ LGBT activist in such circumstances can mean courting death.“ (HRW, 16. April 2018, Seite 16)

Laut dem HRW-Bericht seien einige Aktivisten der Meinung, dass durch den Fokus auf das extrem brutale Vorgehen des IS gegen LGBT-Personen die von der Regierung und regierungsnahen Gruppen verübten Übergriffe in der Berichterstattung unterrepräsentiert seien. In Bezug auf von Seiten Verbündeter der Regierung ausgeübter Gewalt habe der Irak im regionalen Vergleich die am stärksten belastete Geschichte: Im Jahr 2009 habe eine Gruppe von Kämpfern - mutmaßlich assoziiert mit Muqtada al-Sadr’s Mahdi-Armee, einer bewaffneten Gruppe, die homosexuelle und weiblich aussehende Männer als ‚das dritte Geschlecht‘ diffamiert habe - innerhalb einiger Monate mehrere hundert Männer getötet, die meisten davon in Bagdad. Eine weitere Welle von Morden, die laut einigen Medienberichten einer anderen bewaffneten regierungsnahen Gruppe, der Asa'ib Ahl al-Haq (Liga der Rechtschaffenen), zugeschrieben werde, habe im Jahr 2012 stattgefunden, nachdem der irakische Innenminister die Subkultur ‚Emo‘ als satanistisch verurteilt habe. Im Jahr 2014 habe die Gruppe Asa'ib Ahl al-Haq mehrere Männer getötet, die homosexuell gewesen oder als homosexuell wahrgenommen worden seien, und hätten Fahndungsplakate für weitere solche Personen aufgehängt. Im Jahr 2017 seien erneut Morde an schwulen Männern gemeldet worden, die der Gruppe Asa'ib Ahl al-Haq zugeschrieben worden seien:

„At the same time, some activists have raised concern that a narrow focus on ISIS’ horrific anti-LGBT abuses may distract from abuses by governments and their proxies who are also responsible for homophobic and transphobic violence. […]

Iraq has the most troublesome history in the region in terms of violence by pro-government armed groups. In 2009, fighters suspected of affiliation with Muqtada al-Sadr’s Mahdi army, an armed group which publicly vilified gay and effeminate men as ’the third sex,’ kidnapped, tortured and murdered as many as several hundred men in a matter of months, most of them in Baghdad. The Mahdi army was allied with the government at the time. Another wave of killings, attributed in some media reports to another government-allied armed group, Asa'ib Ahl al-Haq (Leagues of the Righteous), took place in 2012 after Iraq’s interior minister condemned as ’Satanist‘ the ’emo‘ subculture—a subculture related to a form of punk music and marked by a particular form of dress, including tight jeans and long or spiky hair for men. The government failed to act against the killings, which targeted nonconformist young people, including but not limited to people perceived to be LGBT. In 2014, Asa'ib Ahl al-Haq killed several men who were, or who were perceived to be, gay and put up ’wanted‘ posters for others. Killings of gay men attributed to Asa'ib Ahl al-Haq were reported once again in 2017.“ (HRW, 16. April 2018, Seite 16ff)

USDOS berichtet, dass LGBTI-Personen abgesehen von der gezielten Gewalt ihnen gegenüber im Berichtsjahr 2017 auch weiterhin der Gefahr ausgesetzt gewesen seien, Opfer von Ehrenverbrechen zu werden. So hätte beispielsweise am 1. März 2017 ein nahes Familienmitglied einen Mann getötet, von dem angenommen worden sei, dass er einer von zwei Männern sei, die in einem im Internet kursierenden Schwulen-Sex-Video zu sehen waren:

In addition to targeted violence, LGBTI persons remained at risk for honor crimes. For example, on March 1, a close family member killed a man purported to be one of two men shown in a gay-sex video circulated online.” (USDOS, 20. April 2018, Section 6)

Die kanadische Einwanderungsbehörde (Immigration and Refugee Board, IRB), lässt in einer Anfragebeantwortung von Februar 2016 zum Thema Ehrengewalt in Kurdistan unterschiedliche Meinungen bezüglich der Häufigkeit von Ehrenmorden an Männern und zu Schutzunterkünften zu Wort kommen. Gemäß Angaben eines Repräsentanten der NGO Wadi sei in den meisten Fällen, in denen Männer von Ehrenmorden betroffen seien, Verdacht auf Homosexualität das Motiv dafür. Laut einer weiteren in dem Bericht zitierten Quelle, Dr. Aisha K. Gill, sei das Coming Out als homosexuelle, bisexuelle oder transsexuelle Person einer der Gründe, warum Männer ‚Schande auf sich ziehen‘ würden. Die meisten Opfer von Ehrenmorden seien jedoch laut Gill Frauen. Unter Verweis auf verschiedene Quellen wird darauf hingewiesen, dass über stattfindende Ehrengewalt häufig keine Berichterstattung erfolge:

„Information on male victims of honour-based violence was scarce among the sources consulted by the Research Directorate within the time constraints of this Response. Citing the country representative for Diakonia, an international development organization (Diakonia 27 Sept. 2013) in the city of Dahuk, the Danish fact-finding mission report states that ’men are equally at risk of becoming victims of honour crimes as women‘ (Denmark 2010, 3). In contrast, in the opinion of the WADI representative, boys and men are ’not very likely‘ to become victims of honour-based violence in Iraqi Kurdistan, and when they are affected, ’most‘ of the time it is due to ’supposed homosexuality‘ (WADI 25 Jan. 2016). A March 2014 article by Dr. Gill similarly states that men are most likely to cause dishonour as a result of their behaviour towards women, including through (i) their choice of romantic and/or sexual partners, (ii) refusing an arranged marriage, (iii) coming out as gay, bisexual or transgender, and/or (iv) refusing to commit an act of HBV [honour-based violence]. Nevertheless, the fact remains that the majority of victims are female and the majority of perpetrators male. (Gill 14 Mar. 2014). The 2015 Ceasefire Centre for Civilian Rights and MRG joint report states that men are ’occasionally’ the victims of honour-based violence and they are ’sometimes’ killed to restore the offended family's honour (Nov. 2015, 26). […]

According to sources, there is no assistance for male victims of honour-based violence (Denmark 2010, 9; WADI 25 Jan. 2016). According to the Danish fact-finding mission report, if a man who had sexual relations outside of marriage feared honour-based violence and approached the police, ’he would most likely be offered protection. However, the only possible way for him to be protected would be to be kept in police custody,’ which is not viable in the long-term as staying in prison is ’not a durable solution’ (Denmark 2010, 10). […]

The WADI representative stated that the ’official number of honour killing cases is 50-60 per year’ for the Kurdistan region of Iraq, but that this is likely an underestimation, as cases ’are not registered in a professional fashion,’ with only those cases involving a visit to the police station or hospital counted (WADI 25 Jan. 2016). Other sources similarly state that acts of honour-based violence often go unreported (The Guardian 17 Mar. 2013; PassBlue 6 May 2014; Gill 14 Mar. 2014)”. (IRB, 15. Februar 2016, Abschnitt 1.2)

Schutzunterkünfte, LGBTI-Aktivismus

Der bereits erwähnte Gründer von IraQueer, Amir Ashour, kommt in einem Artikel vom Februar 2017, erschienen in dem in den USA ansässigen Musik- und Lifestylemagazin The Fader, zu Wort. Er berichtet über seine persönlichen Erfahrungen, sowie über die allgemeine Situation von LGBT-Personen im Irak. Er erzählt, dass er im Irak zwei Mal auf Grund seines Engagements für die LGBT-Community von den Behörden inhaftiert worden sei. Er schreibt des Weiteren, dass es unter dem Regime von Saddam Hussein durchaus eine Untergrundszene gegeben habe, zum Teil sogar mit Partys mit hunderten Gästen, dass etwas Derartiges im heutigen Irak jedoch undenkbar sei:

The first time [I got arrested] was in 2014 when I was 23. Someone accused me of running a brothel [when I was actually organizing training sessions about LGBTQ issues]. So I went to the police to file a complaint. Then the investigation turned from me being the accuser to becoming the accused. I was detained for a couple of hours and then let go with a warning. The second time was at the end of 2014, after I gave a speech in Dublin about the situation of LGBTQ individuals in Iraq. A number of people that were representing the Kurdish Regional Government were there and they didn't like what I was saying. After returning to Iraq, I was taken from the airport and held for questioning by some high profile people in the government. I threatened to sue internationally and they let me go, but basically said that they were going to revisit [the questioning]. I left the country a few hours later.

In Iraq we’ve had killing campaigns [targeting LGBTQ people] once every year since 2006, at least. That’s eight years before ISIS. Saddam had a lot of groups that would target specific people, but he didn’t really care as long as what was happening wasn’t happening against him. That’s what many of the older LGBTQ people have told me; of course, they weren't able to go and kiss on the street, but they had an underground scene, and there were organized parties with hundreds of people. There were even cruising areas in the cities. They would feel safe. Now all this is impossible.” (The Fader, 22. Februar 2017)

Auf der Homepage der auf LGBT-Themen spezialisierten Menschenrechtsorganisation Iraqi LGBT, deren Mitglieder unter anderem im Irak (verdeckt) arbeiten, findet sich ein undatierter Eintrag zu einem Projekt der Organisation mit dem Titel ‚Sichere Unterkünfte‘. Früher habe die Organisation vier Unterkünfte im Irak betrieben, inzwischen sei die Zahl der Unterkünfte jedoch auf zwei reduziert worden, da es zu finanziellen Engpässen gekommen sei. Außerdem sei es zur Ermordung von Mitgliedern der Organisation, sowie zu Einbrüchen in – und zur Offenlegung von Standorten der Organisation durch Milizen gekommen. Iraqi LGBT habe in den letzten vier Monaten aus Sicherheitsgründen die Adressen der Unterkünfte dreimal ändern müssen. In den beiden Unterkünften würden mit Stand Mai 2010 insgesamt 28 Menschen wohnen:

“Our organisation is running and managing two safe houses inside Iraq at the meantime funded by HIVOS programme and a third is additional standby safe house for emergencies. We had in the past six months four safe houses at a time, but the lack of extra funds to open more new safe houses to support them and keep it running and open was a major obstacle. […]

We still have no office to run the project, we meet often in cafe in central London or in the houses of members of our groups, we luckily managed to get four new members to be involved in our group to volunteer their times to help rung the group’s work. […]

The location of the houses has been changed three times on the past four months for security reasons. The two houses reside 12 and 16 people which makes the total of 28 members in total on the 1st of May 2010. […]

We are unable to use the internet, due to security and the lack of setting up a stable internet connection in Iraq as we have been moving out and changing locations frequently, most of our communication is by phone, which is easier and difficult to track down by the Iraqi authority, we have been using mobile phone calling cards. […]

We have run more safe houses but due to the killings of members, invasions and disclosure by militias as well as lack of funds we are only able to run two at present.” (Iraqi LGBT, ohne Datum)

Laut dem HRW-Bericht vom April 2018 sei in der Autonomen Region Kurdistan eine Organisation namens Rasan aktiv, ursprünglich eine Frauenrechtsorganisation, die sich ab dem Jahr 2012 auch der Rechte von LGBT-Personen angenommen habe. In Bagdad dagegen, so der Bericht, sei es solchen Gruppen auf Grund der ihnen drohenden Gewalt nicht möglich, öffentlich aufzutreten:

„In some countries, LGBT activists work within organizations with broader objectives, such as in the Kurdistan Region of Iraq, where Rasan Organization, a women’s rights organization, also formally took on LGBT rights in 2012. In Baghdad, where LGBT groups cannot have a public presence due to the risk of violence, partnerships with other human rights organizations have also been essential to carrying out day-to-day work.“ (HRW, 16. April 2018, Seite 36)

Ältere Informationen zu diesem Thema finden Sie auch in folgender ACCORD-Anfragebeantwortung von Februar 2017:

·      ACCORD – Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation: Anfragebeantwortung zum Irak: Lage von LGBTI-Personen [a-10035], 9. Februar 2017
https://www.ecoi.net/de/dokument/1394029.html

 

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Quellen: (Zugriff auf alle Quellen am 30. Mai 2018)

·      ACCORD – Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation: Anfragebeantwortung zum Irak: Lage von LGBTI-Personen [a-10035], 9. Februar 2017
https://www.ecoi.net/de/dokument/1394029.html

·      Daily Beast: Murdered for ‘Looking Gay’: How LGBT Iraqis Are Fighting for Their Lives, 7. Juni 2017
https://www.thedailybeast.com/murdered-for-looking-gay-how-lgbt-iraqis-are-fighting-for-their-lives

·      HRW – Human Rights Watch: Audacity in Adversity - LGBT Activism in the Middle East and North Africa, 16. April 2018
https://www.ecoi.net/en/file/local/1429537/5228_1523875416_lgbt-mena0418-web-0.pdf

·      ILGA – International Lesbian, Gay, Bisexual, Trans and Intersex Association: State Sponsored Homophobia 2017, Carroll, Aengus; Mendos, Lucas Ramón (Autor): A world survey of sexual orientation laws: criminalisation, protection and recognition, Mai 2017
https://www.ecoi.net/en/file/local/1399981/90_1495430692_ilga-state-sponsored-homophobia-2017-web-corr.pdf

·      IRB – Immigration and Refugee Board of Canada: Iraq: Honour-based violence in the Kurdistan region; state protection and support services available to victims [IRQ105424.E], 15. Februar 2016
https://www.ecoi.net/de/dokument/1212358.html

·      Iraqi LGBT: Safe Houses Project, ohne Datum
https://www.iraqilgbt.org.uk/the-safe-houses-project/

·      MEE - Middle East Eye: 'The world is changing': Iraqi LGBT group takes campaign to streets, 13. April 2018
http://www.middleeasteye.net/news/rasan-1330280220

·      Penal Code No. 111 of 1969 (as amended to 14 March 2010) (übersetzt und veröffentlicht vom Global Justice Project Iraq, GJPI), 14. März 2010
http://gjpi.org/wp-content/uploads/gjpi-pc-1969-v1-eng.doc

·      The Fader: What It’s Really Like To Fight For LGBTQ Rights In Iraq, 22. Februar 2017
http://www.thefader.com/2017/02/22/amir-ashour-iraqueer-interview-lgbtq-iraq

·      USDOS – US Department of State: Country Report on Human Rights Practices 2017 - Iraq, 20. April 2018
https://www.ecoi.net/de/dokument/1430110.html