Faili-Kurden: Vertreibung und Verlust der Staatsangehörigkeit ("Flüchtlinge", 1/2004)

Faili-Kurden: Vertreibung und Verlust der Staatsangehörigkeit ("Flüchtlinge", 1/2004)

 

DER WEG ZURÜCK

DIE FAILI-KURDEN

Vertreibung. Ein erzwungener Fußmarsch. Und der Verlust der Staatsangehörigkeit.

Schlimmer konnte es nicht werden. Doch jetzt gibt es einen Hoffnungsschimmer für mehrere zehntausend Angehörige einer wenig bekannten irakischen Volksgruppe.

Von Marie-Helen Verney

„Es ist derselbe Gott. Wir alle lieben denselben Gott. Warum sollte also unser Vaterland uns den Rücken zuwenden?“ Jasem Mohamed Salhek schüttelt den Kopf und schweigt. Er geht seinen Erinnerungen nach und betrachtet die nahe gelegenen Zagros-Berge, deren schneebedeckte Gipfel ein majestätisches Bild abgeben. Sie bilden aber auch eine schier unüberwindbare Barriere zwischen Jasems derzeitigem Zuhause im Flüchtlingslager Azna im Iran und seiner Heimat Irak, die ihn vor einem Vierteljahrhundert verstieß.

Jasem ist ein Faili-Kurde, dessen Vorfahren einstmals über beträchtliche wirtschaftliche Macht verfügten, die in den 70er- und 80er-Jahren jedoch Opfer des Regimes von Saddam Hussein wurden.

Mehrere Millionen Menschen aller Glaubensrichtungen – Sumpfaraber, Kurden, schiitische und sunnitische Muslime – verließen in jener Zeit das Land oder wurden zur Flucht gezwungen. Das Schicksal der etwa 300.000 vertriebenen Faili-Kurden war jedoch besonders tragisch. Sie verloren nicht nur ihre Häuser, sondern auch ihre Heimat. Sie wurden offiziell ihrer Staatsangehörigkeit beraubt und dazu verurteilt, wie schätzungsweise neun Millionen andere Menschen auf der ganzen Welt als Staatenlose in eine rechtliche Grauzone abzustürzen, aus der es kaum ein Entrinnen gibt.

Jasem und die Faili-Kurden hatten eine unklare Position in Saddam Husseins Irak. Die Mehrzahl der fast vier Millionen Kurden in dem Land sind sunnitische Muslime und leben im Nordirak. Die Faili sind hingegen Schiiten aus dem so genannten Faili-Dreieck im Zentralirak, das auch Bagdad einschließt. Jahrzehntelang wurden sie diskriminiert und mit Misstrauen behandelt.

Das irakische Staatsangehörigkeitsgesetz von 1924 teilte die Bevölkerung auf der Grundlage von Religions- und Volksgruppenzugehörigkeit in drei Kategorien ein und schuf damit praktisch drei Klassen von Bürgern. Die schiitischen Kurden wurden systematisch in die unterste Kategorie eingeordnet und wiederholt von Vertretern der Regierung angegriffen, die behaupteten, als Schiiten würden sie ursprünglich aus dem Iran stammen, wo die Mehrheit der Bevölkerung dieser islamischen Glaubensrichtung angehört.

Trotz dieser Schikanen meinte es das Leben gut mit Jasem im Irak, und er hatte auch keine Zweifel an seiner Herkunft. Als Inhaber einer Textilfabrik unterhielt er enge Geschäftskontakte mit anderen Faili-Kurden, die den legendären Basar von Bagdad kontrollierten und damit auch einen großen Teil des Reichtums des Landes.

Wie sein Vater, sein Großvater und sein Urgroßvater wurde er in der Hauptstadt geboren. Im Exil schwenkt er immer noch irakische Papiere. „Schauen Sie“, sagt er und zeigt auf das Foto eines jungen Mannes, „das bin ich. Hier steht, dass ich in Bagdad geboren wurde.“ Sorgfältig kramt er ein sehr altes, auseinander fallendes Stück gelben Papiers mit dem Foto eines alten Mannes mit einem langen weißen Bart hervor: den irakischen Personalausweis seines Vaters.

Probleme tun sich auf
Die lange herrschende Baath-Partei im Irak teilte Jasems Sicht der Dinge jedoch nicht. Im Jahre 1978 teilte ihm das Handels- und Wirtschaftsministerium mit, dass er seine irakische Staatsangehörigkeit nachweisen und neu registrieren lassen müsste, um seine Fabrik behalten zu können. Sein gesamter Lebensunterhalt stand plötzlich auf dem Spiel.

„In der Vorladung hieß es, ich solle Belege beibringen, dass mein Großvater, mein Vater und ich selbst im Irak geboren wurden“, erinnert er sich. „Deshalb nahm ich die Urkunden mit, und auf allen Dreien stand: Geburtsort Bagdad, Bagdad, Bagdad. Aber im Ministerium sagten sie zu mir: ‚Hier steht, dass Sie ein Faili-Kurde sind. Sind Sie ein Faili-Kurde?‘ Ich antwortete: ‚Ja, wir sind Faili‘, und der Mann sagte: ‚Dann seid ihr keine Iraker‘“, und weigerte sich, ihn zu registrieren.

Ein Jahr später nahm die Geschichte dann eine andere Wendung, als Jasems Bruder die Einberufung in die irakische Armee erhielt. „Sie forderten meinen Bruder auf, nachzuweisen, dass er Iraker sei, und mein Bruder erklärte ihnen, dass er sehr wohl Iraker, aber auch Faili sei“, sagte Jasem. „Die Militärverwaltung sagte: ‚Bei Ihnen spielt das keine Rolle. Sie sind Iraker; deshalb können Sie in der Armee Dienst tun.‘“

Im selben Jahr wurde Jasem erneut die Registrierung verweigert. Die islamische Revolution von 1979 im Iran verstärkte die Angst Saddams, seine eigene schiitische Bevölkerung und vor allem die zwei Millionen Faili-Kurden könnten zum Widerstand gegen seine von Sunniten beherrschte Regierung aufrufen.
Am 4. April 1980 um ein Uhr morgens klopfte der Staatssicherheitsdienst an Jasems Tür.

Bei einem darauf folgenden Verhör in der Zentrale des Staatssicherheitsdienstes wurde er gefragt: „Wo stammen Sie her?“
„Ich stamme aus Bagdad.“
„Wie können Sie behaupten, dass Sie aus Bagdad stammen? Ich sehe hier auf Ihrem Ausweis, dass Sie Faili-Kurde sind.“
„Da steht, dass ich Faili-Kurde bin, aber auch, dass ich in Bagdad geboren wurde. Ich bin irakischer Staatsbürger.“
„Wie können Sie ein Iraker sein? Sie sind kein Iraker. Sie stammen aus dem Iran.“

Seine Ehefrau und seine Kinder, seine Brüder und Schwestern wurden festgenommen und auf Lkws verladen. Durch die Nacht fuhren sie einer ungewissen Zukunft entgegen. „Der Lkw hielt an. Sie forderten uns auf, von der Ladefläche herunterzusteigen, und wiesen uns dann an, loszugehen“, erinnert sich Jasem heute. „Wir standen vor einer hohen Bergkette, und ich vermutete, dass wir an der iranischen Grenze waren. Ich fragte: ‚Wie soll ich mit meinen kleinen Kindern die Berge überqueren?‘“

Die Soldaten sagten ihnen, wenn sie nicht losgingen, würden sie erschossen, und fügten hinzu: „Geht und besucht (den iranischen Religionsführer) Khomeini. Ihr seid Schiiten, deshalb geht und lebt bei den Iranern.“

Auf der anderen Seite der Grenze wurden sie von nervösen iranischen Soldaten in Empfang genommen. Nachdem sie einige Tage in Zelten verbracht hatten, wurden sie mit einem Lkw in die Provinz Lorestan und das Flüchtlingslager Azna gebracht. 24 Jahre später sind sie noch immer dort.

Träume
Anfang 2003 lebten mehr als 200.000 irakische Flüchtlinge im Iran, davon 1.300 im Flüchtlingslager Azna. 65 Prozent von ihnen sind Faili-Kurden. Viele sind jünger als 20 Jahre, wurden im Lager geboren und haben nie ein anderes Zuhause gekannt.

Für sie ist der Irak zu so etwas wie einem Mythos geworden. Auf den Mauern einer Schule sieht man Zeichnungen von Bagdad und seinem Basar, einem Ort, den die Mädchen und Jungen nie gesehen, aber von dem sie so viel gehört haben und der ihnen vertrauter ist als die nahe gelegene Stadt Azna.

Die Kinder sind jedoch nicht die Einzigen, die zwischen Erinnerungen an die Vergangenheit und Träumen von der Zukunft gefangen sind. Jasems Sohn Asam hat 24 seiner 30 Lebensjahre in dem Lager verbracht. Er war sechs Jahre alt, als die Familie zu dem Fußmarsch über die Berge in den Iran gezwungen wurde, und kann sich sehr genau an Bagdad erinnern.

Wie sein Vater und viele der anderen Faili-Kurden hier ist sich Asam sicher, dass er zurückkehren möchte. „Es ist mein Land“, sagt er. „Ich bin Iraker. Ich kann doch nichts dafür, dass meine Vorfahren vor mehreren hundert Jahren aus dem Iran kamen.“

Ein verzwicktes Problem
Das Problem der Staatenlosigkeit zu überwinden, ist besonders verzwickt. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte bekräftigt: „Jeder hat das Recht auf eine Staatsangehörigkeit.“ Dennoch gibt es weltweit möglicherweise bis zu neun Millionen Staatenlose.

An ihrem jetzigen Aufenthaltsort in Azna im Iran sagt die im Lager geborene 20-jährige Zeinab: „Alle Faili-Kurden teilen das gleiche Schicksal. Man braucht nur die Namen zu ändern, und es ist die gleiche Geschichte: die Vertreibung, der erzwungene Fußmarsch, der Verlust der Staatsangehörigkeit.“

Im letzten Jahr heiratete Zeinab Asam und zog in der letzten Reihe der kleinen Häuser in Azna zwei Häuser weiter. Sie ist jetzt im fünften Monat schwanger. Ihr Traum ist, dass ihr Kind nicht als Flüchtling, sondern zu Hause in Bagdad geboren wird und niemals jemand zu ihm sagen wird, es sei kein Iraker.

 

Dokumente im PDF-Format:
pdf.gif "Flüchtlinge" Heft 1/2004: Der lange Weg zurück (ca. 1,3 MB)