a-4607 (ACC-TUR-4607)

Nach einer Recherche in unserer Länderdokumentation und im Internet können wir Ihnen zu oben genannter Fragestellung Materialien zur Verfügung stellen, die unter anderem folgende Informationen enthalten:
 
Der Islamwissenschaftler Udo Steinbach beschreibt 2002 die Entwicklung des politischen Islam in der Türkei, auf die die Bruderschaft der Nakşibendi unter Scheich Zahid Kotku großen Einfluss hatte:
„Die dritte Facette des Islam in der Türkei ist der politische Islam. Bis in die sechziger Jahre hatte der türkische Islam keinen Anspruch auf politische Wirksamkeit erhoben. Dies änderte sich mit Mehmet Zahid Kotku (1897-1980), einem Scheich der Bruderschaft der Nakşibendi. Er begann in den sechziger Jahren in Istanbul einen Kreis politisch motivierter Studenten um sich zu scharen, verließ den „kulturellen Islam” der türkischen Konservativen und entwickelte einen „politischen Islam”. Zu seinen Studenten gehörten Necmettin Erbakan und Turgut Özal. Auf Anregung Kotkus gründete Erbakan 1970 die erste islamistische Partei der Türkei. Nach diversen Verboten durch das Verfassungsgericht (bzw. das Militär) nannte sie sich in den achtziger und neunziger Jahren „Wohlfahrtspartei” (Refah Partisi, RP). Aufgrund der zwei Phasen ihrer Geschichte - Herkunft aus einer politisierten Bruderschaft, Wählerzuwachs durch die rasche Urbanisierung - besteht die islamistische Partei aus zwei Generationen, die ein unterschiedliches Politikverständnis vertreten. Die erste, traditionalistische Generation stammt überwiegend aus der anatolischen Provinz und ist in den hierarchischen Strukturen der Bruderschaft der Nakşibendi verwurzelt.“ (Steinbach, 4. Quartal 2002)
„Nach ihrem Putsch von 1980 setzten die Generäle den Islam dann gezielt ein, um die politische Linke zurückzudrängen. Als sie 1983 abtraten, gelang es dem neuen Premierminister Turgut Özal, der selbst dem Orden der Nakşibendi (siehe unten) angehörte, die religiösen Stimmen nahezu geschlossen an sich zu binden. Zu den meisten Bruderschaften (siehe unten) unterhielt er gute Kontakte; in seiner „Mutterlandspartei” waren die - gemäßigten - Islamisten lange Zeit stärker als der liberale Flügel. Von 1983 bis 1991 übernahmen sie zahlreiche Stellen in der staatlichen Bürokratie, vor allem in den Ministerien für Erziehung und Inneres sowie im Planungsamt.“ (Steinbach, 4. Quartal 2002)
Weiters beschreibt Steinbach den Einfluss des Ordens durch private Schulen und Medien:
„An der Spitze eines der einflussreichsten Orden, der Nakşibendi, steht Fethullah Gülen, der 1938 in der nordostanatolischen Stadt Erzurum geboren wurde. (Der Orden führt seine Entstehung auf den aus der Gegend von Buchara stammenden Mohammed Naqschband, 1317-1389, zurück.) Der „türkische Islam”, den Gülen vertritt, soll wie das Osmanische Reich gegenüber nichtislamischen Religionen tolerant und gegenüber den Wissenschaften aufgeschlossen sein. Gülen strebt nach einer Einheit zwischen den Traditionen der lokalen Religiosität und den Anforderungen der Moderne. In seinem Imperium nehmen daher die privaten Schulen eine zentrale Stellung ein. Eine zweite Säule seiner Aktivitäten sind die Medien. Die auflagenstärkste islamische Tageszeitung „Zaman” der nationale Fernsehkanal „Zamanyolu” und mehrere Zeitschriften hören auf seine Stimme.“ (Steinbach, 4. Quartal 2002)
Die Mitgliederzahl der Bruderschaften wird laut einem Bericht von missio aus dem Jahr 2002 mit mehreren Hunderttausend bis mehreren Millionen angegeben. Die formell verbotenen Bruderschaften würden über Vereine, Stiftungen und Wirtschaftsunternehmen agieren:
„Islamische Bruderschaften – Beispiel: Naks¸ibendi Die wichtigsten islamischen Bruderschaften (türk.= tarikat), die traditionell teils in klösterlicher Gemeinschaft, teils als Laienbrüder leben, sind in der Türkei die sunnitischen Naks¸ibendis, Mevlevis, Kadiris, Halvetis mit ihrem Zweig der Cerrahiye, Rufais und Rifais sowie die schiitischen Bektas¸is. Obwohl diese Brudercshaften durch das Gesetz Nr. 677 vom 30. November 1935 geschlossen, d.h. verboten sind58 –, werden sie vom Staat toleriert, solange sie sich aus öffentlichen Angelegenheiten heraushalten. Die staatliche Tolerierung kann insofern auch nicht weiter verwundern, als die genannten Bruderschaften insbesondere in den konservativen und religiös orientierten Parteien von Anfang an mit eigenen Mitgliedern vertreten waren. Diese Parteien haben die Bruderschaften, deren Mitgliederzahl mit mehreren Hunderttausend bis mehreren Millionen angegeben wird, ihrerseits immer als zu berücksichtigendes Wählerpotential wahrgenommen, was natürlich auch den obigen Hinweis relativiert, sie würden vom Staat toleriert, solange sie sich aus öffentlichen Angelegenheiten heraushalten. Aufgrund des gesetzlichen Verbotes der Bruderschaften hat allerdings auch keine dieser Bruderschaften einen Rechtsstatus als juristische Person (tüzelkis¸i) erlangt. Dies bedeutet aber nicht, dass es in der Türkei überhaupt keine institutionalisierte Präsenz der Bruderschaften gibt. So gibt es eine Vielzahl von Vereinen, Stiftungen und Wirtschaftsunternehmen, die größtenteils unverfängliche Namen tragen – i.d.R. solche, die keinen unmittelbaren Hinweis auf eine der Bruderschaften geben – und sicher mit Wissen der Behörden im Sinne der jeweiligen Bruderschaft tätig sind. Wie umfänglich entsprechende Aktivitäten sein können, sei hier am Beispiel der Naks¸ibendi-Bruderschaft aufgezeigt. In einem Nachruf der islamistischen „Zaman Gazetesi“59 auf den am 4.2.2001 verstorbenen Führer der türkischen Naks¸ibendis, Prof. Dr. Mahmut Esat Cos¸an60, wird berichtet, dass er in seiner Funktion die Gründung von zahlreichen Vereinen und Stiftungen sowie Einrichtungen der Gesundheitsfürsorge61 betrieben hat, ab 1983 auch als Herausgeber von Zeitschriften und als Verleger62 auftrat und nach der Aufhebung des staatlichen Rundfunkmonopols den Sender „Ak-Radyo (AKRA)“63 gründete. Neben den Aktivitäten im Medienbereich, war Cos¸an auch an der Gründung des Tourismusunternehmens “ I . skenderpas¸a Turizm ( I . SPA)” beteiligt, das u.a. Pilgerfahrten organisiert. Aber auch im Finanzsektor haben sich die Naks¸ibendis unter der Führung Cos¸ans offensichtlich engagiert. So berichtete die englischsprachige Tageszeitung ‚Turkish Daily News’ am 26.12.1997 von Verbindungen zwischen dem Finanzunternehmen Al Baraka Türk und der Naks¸ibendi-Bruderschaft. Für ein weiteres Finanzunternehmen, Kent Özel Finans, hätten die Naks¸ibendis um Cos¸an beim Finanzministerium eine Betriebserlaubnis beantragt.64 Ferner hat Cos¸an in mehreren Provinzen private Unterrichtsinstitute zur Vorbereitung auf den Besuch von Grund- und Mittelschulen einrichten lassen. Schließlich hat er in Istanbul, Ankara, Konya und Bursa „Institute für islamische Überlieferung und Rechtswissenschaft“ (Hadis ve fıkıh enstitüleri) gründen lassen, an denen von Privatlehrern durchgeführte Kurse für Studenten und Absolventen der staatlichen Theologischen Fakultäten angeboten werden.“ (missio, 2002, S. 16-17)
Missio erwähnt auch, dass beim Begräbnis des türkischen Führers der Naksibendis im Jahr 2001 zahlreiche Politiker teilnahmen, darunter auch der heutige Ministerpräsident Erdogan:
„Nicht unerwähnt sei, dass Prof. Dr. Mahmut Esat Cos¸an, der vom 13. November 1980 bis zu seinem Tod am 4. Februar 2001 Führer der türkischen Naks¸ibendis war, neben den zahlreichen Aktivitäten als Naks¸ibendi-Führer auch noch als Hochschullehrer an staatlichen Hochschulen in der Türkei tätig war. Nach der Habilitation 1973 über die Schriften von Haci Bektas¸-i Veli, dem Begründer der Bektas¸i-Bruderschaft, wurde er Lehrbeauftragter für türkisch- islamische Literatur an der Theologischen Fakultät der Ankara Universität. In gleicher Funktion war er ab 1977 an der staatlichen Sakarya-Akademie für Architektur und Ingenieurwissenschaften tätig, wo er 1982 zum Professor ernannt wurde und bis zu seinem freiwilligen Ausscheiden im Jahre 1987 lehrte.65 Auf Antrag seines Sohnes des verstorbenen Mahmut Esat Cos¸an stimmte der Ministerrat der Beisetzung Cos¸ans auf dem geschlossenen Moscheefriedhof der Süleymaniye-Moschee zu.66 Dieser Kabinettsbeschluss rief teilweise heftige Reaktionen hervor. So kritisierten Staatsminister S¸ükrü Sina Gürel von der Demokratischen Linkspartei (DSP) und mehrere Abgeordnete der DSP, der Ministerratsbeschluss stelle einen Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz der Verfassung dar.67 Der als strikter Laizist bekannte Staatspräsident Necdet Sezer verwarf den Kabinettsbeschluss68 und Cos¸an wurde schließlich auf dem Eyüp- Sultan-Friedhof beerdigt. An seiner Beerdigung nahmen u.a. der ehemalige Ministerpräsident und Vorsitzende der vom Verfassungsgericht verbotenen islamisch-fundamentalistischen Nationalen Wohlfahrtspartei (MSP), Necmettin Erbakan, der Vorsitzende der mittlerweile ebenfalls vom Verfassungsgericht verbotenen islamisch-fundamentalistischen Tugendpartei – der Nachfolgerin der MSP –, Recai Kutan69 und der frühere Bürgermeister von Istanbul, Recep Tayyip Erdog˘an70, Mitglied des Vorstandes der verbotenen Tugendpartei, sowie mehrere Parlamentsabgeordnete teil.71 Wie eingangs erwähnt sind die islamischen Bruderschaften in der Türkei verboten. Und immer wieder hat es in der Vergangenheit in den Medien Berichte über die Verhaftung von Mitgliedern, z.B. der Naks¸ibendi-Bruderschaft, gegeben.72 Seit der Aufhebung des Art.163 TStGB, der jahrzehntelang die Basis für die strafrechtliche Verfolgung antilaizistischer Bestrebungen bildete, gibt es offiziell keine strafrechtliche Sanktion mehr für religiöse Propaganda. In der Praxis stützen sich die Strafverfolgungsbehörden in entsprechenden Fällen nunmehr aber auf die Artikel 159 und 312 TStGB. Dessen ungeachtet scheint sich die Naks¸ibendi-Bruderschaft in der Türkei heute recht frei entfalten zu können.“ (missio, 2002, S. 18-19)
Weitere Details über die Rolle des Naksibendi-Ordens in der Türkei finden Sie im beigelegten Ausschnitt aus dem Arbeitspapier von Erhard Franz über das Parteiensystem in der Türkei (Franz, Juni 2003, S. 23-26).

Diese Informationen beruhen auf einer zeitlich begrenzten Recherche in öffentlich zugänglichen Dokumenten, die ACCORD derzeit zur Verfügung stehen. Die Antwort stellt keine abschließende Meinung zur Glaubwürdigkeit eines bestimmten Asylansuchens dar.

Quellen: