Anfragebeantwortung zum Irak: Auswirkungen der Parlamentswahlen auf die schiitischen Milizen; Einbettung in die reguläre Armee, Unterschiede bzgl. rechtlicher Rahmenbedingungen bei Miliz und Militär (z.B. Löhne, Eintritt in Militärakademien); Finanzierung und Ausstattung der Milizen; Beziehungen zum Iran; Entwicklungen bezüglich der Rolle und des Einflusses der Milizen [a-10698-2 (10699)]

7. September 2018

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Die österreichische Tageszeitung Standard berichtet im Dezember 2017 über die schiitischen Milizen der Volksmobilisierungskräfte (Popular Mobilization Forces, PMF; auch Popular Mobilization Units, PMU; auch Haschd Al-Scha'abi, bzw. Haschd):

„Nach dem Ende des IS steht der Irak nun vor einer entscheidenden Richtungsfrage: Werden die Schiitenmilizen in die Armee integriert – oder entwickelt sich nach Muster der iranischen Revolutionsgarden eine Art Parallelarmee auch im Irak? […] Nominell sind die PMF zwar unabhängig, aber bereits Teil der irakischen Armee – konkret ist das jedoch wenig aussagekräftig. Ganz im Gegenteil, das Gesetz von 2016 macht es nur noch schwieriger, sie aufzulösen. Da Milizionäre nun wie Soldaten bezahlt werden, fehlt auch dieser Anreiz. […]

Die Iran-affiliierten irakischen Milizen fühlen sich dem iranischen Projekt der ‚Achse des Widerstands‘ zugehörig. Sie wollen den Irak zum Teil dieser Achse machen und sind auch bereit, außerhalb des Irak einzugreifen. Ihr Oberkommandierender sitzt in Teheran: Khamenei. Der wichtigste schiitische Ayatollah des Irak hingegen, Ali Sistani, der 2014 angesichts des IS-Siegeszug zur Mobilisierung aufrief, drängt auf die Auflösung der Milizen. Der einstmals junge und wilde Schiitenführer Muqtada al-Sadr folgt ihm: Vor wenigen Tagen rief er seine Miliz, die Saraya al-Salam (Friedensbrigaden), auf, ihre Waffen abzugeben. Mahnungen, dass es nach dem Sieg über den IS die Milizen nicht mehr brauche, kommen auch aus dem Ausland, etwa von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron oder von CIA-Chef Mike Pompeo. […]

Denn ihr nächster Schritt wird jener in die Politik sein. Dass Militärpersonal offiziell davon ausgeschlossen ist, kümmert die Milizenführer wenig: Sie sind immer das, was sie gerade sein wollen.“ (Standard, 13. Dezember 2017)

Die internationale Nachrichtenagentur Reuters berichtet im März 2018, dass der irakische Premierminister Haider al-Abadi am 8. März 2018 ein Dekret erlassen habe, das die Eingliederung der schiitischen paramilitärischen Einheiten in den irakischen Sicherheitsapparat formell festschreibe. Gemäß dem Dekret würden den Mitgliedern der schiitischen Milizen, einer Zusammenstellung von Gruppen, die unter dem Namen PMF bekannt seien und größtenteils vom Iran unterstützt und ausgebildet würden, viele der gleichen Rechte gewährt wie den Mitgliedern des Militärs. Mitglieder der paramilitärischen Einheiten würden demnach äquivalente Gehälter wie die unter der Kontrolle des Verteidigungsministeriums stehenden Mitglieder des Militärs beziehen. Sie würden auch den für den Militärdienst geltenden Gesetzen unterliegen und Zugang zu militärischen Instituten und Hochschulen erhalten. Das Dekret, mit dem schon seit einiger Zeit gerechnet worden sei, komme zwei Monate vor einer wichtigen Parlamentswahl. Die PMF genießen unter Iraks mehrheitlich schiitischer Bevölkerung breite Unterstützung und es werde davon ausgegangen, dass sie einen Einfluss auf das Wahlverhalten hätten.

Das irakische Parlament habe im Jahr 2016 ein Gesetz verabschiedet, das die PMF in den Staatsapparat eingliedere, und dem zufolge die Milizen direkt an den Premierminister berichten würden, welcher gemäß dem irakischen Regierungssystem Schiit sei. Der Iran sei deutlich an der Koordinierung der Führungsebene der PMF beteiligt, die sich häufig mit Kassem Sulaimani, dem Kommandeur der zum Korps der Iranischen Revolutionsgarden gehörenden Quds-Brigaden, treffe und berate:

„Iraqi Prime Minister Haider al-Abadi issued a decree on Thursday formalising the inclusion of Shi’ite paramilitary groups in the country’s security forces. According to the decree, members of the Shi’ite militias, an assortment of militia groups known collectively as the Popular Mobilisation Forces (PMF), which are mostly backed and trained by Iran, will be granted many of the same rights as members the military. Paramilitary members will be given equivalent salaries to those members of the military under the Ministry of Defence’s control, the decree said. They will also be subject to the laws of military service and will gain access to military institutes and colleges. The decree had been expected for some time and comes two months ahead of a high-stakes general election. The PMF commands popular support among Iraq’s majority Shi’ite population and is expected to sway voters. […]

Iraq’s parliament passed a law in 2016 to bring the PMF into the state apparatus, with the militias reporting directly to the prime minister, who is a Shi’ite under Iraq’s governing system. Iran has a clear hand in coordinating the PMF leadership, which frequently meets and consults with Qassem Suleimani, the commander of the Quds Force of the Islamic Revolutionary Guard Corps (IRGC).” (Reuters, 8. März 2018)

Yezid Sayigh, ein Nahostexperte am in Beirut ansässigen Carnegie Endowment Middle East Center, einem Ableger der US-amerikanischen Denkfabrik Carnegie Endowment for International Peace, äußert sich in einer E-Mail-Auskunft vom Mai 2018 zur Entwicklung der PMF von Milizen hin zu staatlichen Sicherheitstruppen. Laut Sayigh bestätige das oben erwähnte von Premierminister Abadi erlassene Dekret ein im November 2016 verabschiedetes Gesetz, das die PMU zu einer staatlichen Einrichtung erkläre und sie dem Verteidigungsministerium angliedere. Das Dekret lege auch fest, dass die PMU denselben rechtlichen Rahmenbedingungen hinsichtlich Lohn, Eintritt in Militärakademien etc. unterliegen wie die regulären Streitkräfte. Dieser Aspekt sei im Gesetz von 2016 noch vage gehalten worden. Streng genommen müsste dies bedeuten, dass das Militärgesetz auf die PMU anzuwenden sei. Sayigh selbst habe das Dekret aber nicht in seiner gesamten Länge gesehen, daher könne es sein, dass der Aspekt des Militärstrafgesetzes im Dekret ausgeschlossen oder nicht speziell erwähnt worden sei. Jedoch selbst wenn das Militärstrafgesetz auch für die PMU gelte, so werde dessen Umsetzung möglicherweise durch den anhaltenden politischen Konflikt bezüglich der Existenz und der Autonomie der PMU verhindert. Die PMU würden sich möglicherweise gegen eine Umsetzung von standardmäßigen Vorschriften durch Gremien außerhalb ihrer eigenen Reihen wehren. Andererseits könnten sie für sich möglicherweise die alleinige Autorität beanspruchen, das Militärstrafgesetz in ihren eigenen Reihen anzuwenden:

„[…] the decree a) reaffirms the law issued in November 2016 making the PMU [Popular Mobilization Units] a formal state agency and attaching it to the MoD [Ministry of Defence], which in reality reconfirms it as an autonomous entity, and b) confirms that the PMU will be subject to the same framework (pay, entry to military academies, etc) as the regular armed forces (not security, which refers to internal/police). The latter item was missing and left vague in the 2016 law. Strictly speaking, this should mean that the same military penal code will apply to the PMU (unless it is explicitly excluded from Abadi’s decree, which I haven’t seen in full, or unless his decree covers only those issues that are specifically listed). But even if the code applies, its implementation may be impeded by the continuing political struggle over the existence and autonomy of the PMU, which may seek to block attempts to enforce standard provisions by anyone outside its ranks. Conversely, the PMU may claim sole authority to apply the code (or other issues) to its own members: [...]“ (Sayigh, 8. Mai 2018)

Joel Wing, ein in den USA ansässiger Irakexperte und Betreiber des Blogs „Musings on Iraq“, geht in einer E-Mail-Auskunft vom Mai 2018 auf die Frage ein, ob das Dekret des Premierministers Abadi zur Integrierung der Volksmobilisierungseinheiten in die irakischen Sicherheitskräfte (Iraqi Security Forces, ISF) umgesetzt werde und ob dies bedeute, dass das Militärgesetz zur Desertion auch für diese Einheiten gelte. Laut Wing würden die Volksmobilisierungseinheiten (Haschd) eigentlich der Militärgesetzgebung unterliegen, da sie nun als Teil der offiziellen Sicherheitskräfte gelten würden. Jedoch handle es sich hierbei mehr um Bestimmungen auf Papier als um reale Zustände. Die einzelnen Einheiten der Volksmobilmachungskräfte würden weiterhin eher ihren individuellen Anführern als Anordnungen der Regierung folgen:

„The Hashd are supposed to follow military rules now that it has been declared part of the security forces but that is really on paper more than in practice. The individual Hashd forces still follow their leaders more than the govt or any regulations.“ (Wing, 8. Mai 2018)

Renad Mansour, Research Fellow bei Chatham House, einer britischen Denkfabrik, die sich mit internationalen politischen Themen befasst, und Soziologe Faleh Jabar schreiben in einem im April 2017 vom Carnegie Middle East Center veröffentlichten Artikel unter Verweis auf andere Quellen Folgendes zum Thema Gehälter der Milizsoldaten: Anstatt einer monatlichen Auszahlung der Gehälter direkt vom Staat überweise das Büro des Premierministers einen Pauschalbetrag an Abu Mahdi al-Muhandis (Leiter des Komitees der Volksmobilisierungseinheiten). Laut mehrerer PMF-Quellen habe Muhandis bezüglich der Verteilung des Geldes das letzte Wort. Dadurch, dass Pro-Khamenei-Milizenführer wie Hadi al-Ameri und Muhandis für die Verteilung der für die PMF vorgesehenen Pauschalgelder zuständig seien, seien sie in der Lage, den Zustrom der freiwilligen Milizsoldaten zu kontrollieren, indem sie ihren bevorzugten Gruppen Gelder zuteilen würden. Der Premierminister habe wenig Wissen darüber, wie genau diese finanziellen Mittel innerhalb der Kommission verwaltet werden. Dies führe zu Spannungen mit Pro-Sistani und Pro-Sadr-Gruppen, die das Gefühl hätten, von diesem System der Ressourcenverteilung ungleich behandelt zu werden:

As such, rather than a monthly distribution of salaries directly from the state, the PMO [Prime Minister's Office] sends a lump sum to Muhandis. According to multiple PMF sources, Muhandis has the final word on whom to pay. By being in charge of dividing the lump funds designated for the PMF from the PMO, then, pro-Khamenei leaders such as Ameri and Muhandis are in a position to control the flow of volunteers by allocating funds to their preferred groups. The prime minister has little knowledge of how precisely these financial resources are managed within the commission. This creates tension with pro-Sistani and pro-Sadr groups, which feel that they are not being treated equally under this system of resource distribution.” (Mansour/Jabar, 28. April 2017)

Die schweizerische Online-Zeitung Journal21 befasst sich in einem Artikel vom Dezember 2017 mit der Zahl der Mitglieder der Milizen, mit deren Lohn im Vergleich zu Armeeangehörigen, der ethnischen und konfessionellen Einteilung der Milizen, sowie mit deren Eingliederung in die irakischen Streitkräfte:

„Gesamthaft gibt es zur Zeit 140’000 Angehörige der Volksmobilisation. Von ihnen sind 34’000 Mann sunnitische Kämpfer und rund 10'000 Angehörige der Minderheiten wie Christen, Schabak und Jesiden, alle in ihren eigenen Einheiten. Die übrigen knapp 100’000 sind Schiiten. Doch auch unter den Schiiten gibt es Unterschiede. Manche von ihren Milizen sind loyal gegenüber dem irakischen Grossayatollah Sistani und anderen irakischen Geistlichen, andere jedoch neigen dem iranischen ‚Herrschenden Gottesgelehrten‘ Khamenei zu. Letztere werden direkt von Iran unterstützt. Seit dem vergangenen Sommer sind die Milizen der Volksmobilisation durch einen Parlamentsbeschluss reguläre Angehörige der irakischen Streitkräfte, und Ministerpräsident Haidar al-Abadi gilt formell als ihr Oberbefehlshaber. Doch sie stehen weiterhin unter ihren eigenen Anführern und rekrutierten ihre eigenen Mannschaften. Der Staat bezahlt gegenwärtig jedem Milizsoldaten den Gegenwert von 500 Dollar im Monat. Die regulären Armeesoldaten erhalten das Doppelte, doch es gibt Bestrebungen im Parlament, ihren Sold auf den Gegenwert von monatlich 2’000 Dollar zu erhöhen.“ (Journal21, 15. Dezember 2017)

Laut einem Artikel der in London erscheinenden Wirtschaftszeitung Financial Times (FT) vom Juli 2018 habe das irakische Parlament im November 2016 ein Gesetz verabschiedet, das die PMU zu einer unabhängigen Kraft mache, die nun über einen eigenen Haushalt von 1,6 Milliarden Dollar verfüge und anscheinend dem Büro des Premierministers und nicht dem Innen- oder Verteidigungsministerium unterstellt sei:

„In November 2016, parliament passed a law making the PMU an independent force, which now has its own $1.6bn budget and ostensibly answers to the prime minister’s office rather than the interior or defence ministries.” (FT, 31. Juli 2018)

Das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen (European Asylum Support Office, EASO), eine Agentur der Europäischen Union zur Umsetzung der praktischen Zusammenarbeit der EU-Mitgliedstaaten im Asylbereich, veröffentlicht im Juli 2017 einen Bericht über ein Meeting zum Irak, in dem Experten ihre Einschätzung zur aktuellen Lage abgeben. Joost Hiltermann, der Direktor des Programms für den Nahen Osten und Nordafrika von der International Crisis Group (ICG), habe ausgeführt, dass die stärksten schiitischen Milizen - die Badr-Organisation, die Asaib Ahl al-Haqq (AAH) und Kataib Hisbollah - militärische Unterstützung aus dem Iran hätten. Weitershabe Hiltermann festgestellt, dass die schiitischen Milizen im Irak vorwiegend vom Iran bezahlt würden:

„As the army collapsed in June 2014, Shiite leaders mobilised the community in self-defence. The strongest Shiite militias – the Badr Organisation, Asaeb Ahl al-Haq, Kataeb Hezbollah – have Iranian military backing, and as they have moved northward into Sunni areas, neighbouring Turkey has started to see them as a threat to its security. […]

Their involvement in the fight against IS in the north has created new geopolitical problems. As the Shiite militias are largely paid by Iran, Turkey fears that Iran is gaining influence in the area near its border and its interests.” (EASO, Juli 2017, S. 11-12)

Walter Posch, der an der österreichischen Landesverteidigungsakademie (LVAk) und am Institut für Friedenssicherung und Konfliktmanagement (IFK) tätig ist, veröffentlicht im August 2017 ein Forschungspapier zu schiitischen Milizen im Irak und in Syrien, in dem er unter Verweis auf andere Quellen auf die Führungsebene der PMF sowie auf die Dominanz der Iran-nahen Milizen innerhalb der PMF eingeht:

„Das Volksmobilisierungskomitee untersteht dem Büro des Premierministers und wird vom nationalen Sicherheitsberater Falih al-Fayyadh geleitet, sein Stellvertreter und Operationschef ist der Leiter der Kata’ib Hizbullah, Abu Mahdi al-Muhandis. In der Tat scheint es sich so zu verhalten, dass radikal-schiitische Gruppen mit Bindungen zum Iran die VME [Volksmobilisierungseinheiten] dominieren. Das spiegelt sich auch in ihren eigenen Medien wieder, dort werden fast ausschließlich die wichtigsten Frontkommandanten wie Muhandis, Hadi al-Amiri, der Sprecher der VME, Ahmad al-Asadi sowie Qays al-Khazali und Akram al-Ka’bi regelmäßig erwähnt, andere Kommandanten wie Muqtada Sadr oder Shibli al-Zeydi von den Kata’ib Imam Ali werden in der Regel ignoriert. […]

Den Kern für den Aufbau der VME bildeten Badr und Rückkehrer aus Syrien wie der oben erwähnte Abu Muntazir al-Muhammadawi. Dazu kommen die klassischen proiranischen Milizen, vor allem die Kataib Hizbullah, Asaib Ahl al-Haqq, Harakat Hizbullah al-Nujaba aber auch die relativ unbedeutende Jund al-Imam oder die oben beschriebenen Khorasan Kompanien. Sie dürften insgesamt die Mehrheit stellen und stammen entweder aus der Sadriyyin Bewegung oder aus der Hizbullah Familie.“ (Posch, August 2017, S. 55-56)

Im selben Forschungspapier behandelt Posch unter Verweis auf andere Quellen das Thema der Integration der PMF in die irakische Armee:

„Erwartungsgemäß dominieren zur Zeit proiranische Milizen die VME, was deren Gegner in Zugzwang bringt, ob sie bleiben und ein System mittragen, das sich als Vertreter einer globalen Revolution sieht und einer Iran-nahen irakischen Hizbullah das Wort redet ob sie sich davon trennen. Dass für nicht iranische Lesarten der VME immer weniger Platz ist, wurde im Sommer 2017 deutlich. Am 15. Juli paradierte ein Bataillon der VME in Uniformen, die den iranischen Revolutionsgarden ähneln. Eine Woche später wiederholte VME-Sprecher Ahmad al-Asadi die schon in Beirut geäußerte Vision, dass die VME eine neue unabhängige Kraft zusätzlich zur Armee wären. Nicht zu übersehen ist auch der Wunsch dieser Gruppen – Nujaba, Asaib, Kata’ib Hizbullah, Khurasani usw. ein Teil der iranischen Widerstandsachse zu sein, bei der automatisch die von Teheran vertretene Weltsicht des velayat-e faqih dominiert. Nach Asadi seien die VME stolz darauf, dass

‚es eine revolutionäre Kraft im Iran gibt [gemeint sind die Revolutionsgarden], die in der Lage war den Staat und die iranische [recte: islamische] Revolution zu verteidigen. Wir sind auch stolz darauf, dass die VME einen Grad von Stärke, Kompetenz und ein Ausbildungsniveau erreicht hat, das mit der iranischen revolutionären Kraft vergleichbar ist.‘

Damit spielte er wohl auf oben beschriebene von den Iranern praktizierte Methode des train-the-trainer an, mit der militärisches Wissen der Iraner rasch in der Region verbreitet wurde. Am Unwillen Sistanis und Muqtada Sadr, an einem System analog zur iranischen Revolutionsgarde teilzuhaben, änderte dies freilich nichts. Noch während Asadi die weitere Entwicklung der VME in Richtung Revolutionsgarde und Hizbullah vorgab, übernahm der irakische Verteidigungsminister nach Rücksprache mit Premierminister al-Abadi einen Teil der Al-Abbas Kampfdivision in die irakische Armee. Laut Medienstelle der Al-Abbas Division wurden ‚1.000 Kämpfer der Einheit durch das Verteidigungsministerium registriert nachdem sie vom Oberbefehlshaber und vom Verteidigungsminister akzeptiert wurden.‘ Begründet wurde dieser Schritt damit, dass ein Teil der Al-Abbas Kampfdivision bereits Armee-Niveau erreicht hätte und jetzt schon, obwohl sie von den VME bezahlt werden, operative Befehle nur vom Generalstab der Armee entgegen nehmen und somit den Stabschef der VME, Abu Mahdi al-Muhandis, ignorieren. In diesem Sinne betont Maytham al-Zaydi, dass ihm und seinen Leuten streng verboten worden ist, sich mit Angehörigen von Sicherheitskräften zu treffen, die keine Iraker sind. In dasselbe Horn stoßen die Saraya al-Salam von den Sadristen, sie betonten, dass sie niemanden ins Ausland – sprich Iran und Syrien - geschickt haben, sondern sich immer auf irakisches Talent verließen. Die Jihad Kommission der Friedenskompanien ging noch einen Schritt weiter und hatte sich unlängst dazu entschlossen, die eigene Sayyid al-Kunin Militärakademie zu schließen, als einen ersten Schritt, um die Institutionen des irakischen Staates zu stärken. Dieser Schritt entspricht genau dem Willen der Erklärung Sistanis, der ja von vor Milizenbildung gewarnt und die Stärkung der Armee und der staatlichen Institutionen gefordert hatte – daher die Betonung der bürokratischen Natur des Aktes. Sistani selbst hat sich nie zu den VMEs geäußert, aber mit seiner Entscheidung, die Milizen des heiligen Schreins der Armee zu unterstellen, ihnen sein Missfallen ausgedrückt. Die Integration der Milizen in die Armee könnte auch die Integration der Sunniten und mithin die schiitisch-sunnitische Versöhnung stärken. Muqtada al-Sadr ging noch einen Schritt weiter, anlässlich seines Überraschungsbesuchs beim König von Saudi Arabien forderte er die Auflösung der VME und die Integration ihrer Mitglieder in die reguläre Armee ‚als disziplinierte Mitglieder‘ derselben. Möglicherweise war dies ein strategischer Fehler. Seine Äußerungen stimmen zwar mit den Wünschen Sistanis und Premierminister al-Abadis überein, aber Stil und Zeitpunkt waren unglücklich gewählt und die Gegenseite wird den Druck auf Premierminister al-Abadi, den VME Privilegien einzuräumen, noch erhöhen. Allerdings stellt das Integrationsmodell auch einen guten Ansatz für eine erweiterte, diesmal von den Irakern selbst betriebene, Sicherheitssektorreform dar, deren Notwendigkeit immer wieder betont wird.“ (Posch, August 2017, S. 61-63)

Die in Berlin ansässige Denkfabrik Global Public Policy Institute (GPPi) schreibt in einem Bericht vom März 2018, dass die PMF formell Teil der irakischen Sicherheitskräfte seien und dem irakischen Premierminister unterstellt seien, dass sie jedoch in vielen Fällen Anweisungen vonseiten ihrer eigenen Führung oder vonseiten ihrer iranischen Unterstützer prioritär behandeln würden:

The PMF are formally part of the ISF and report to the Iraqi Prime Minister but in many cases give priority to the orders of their own leadership or their Iranian supporters.” (GPPi, März 2018, S. 10)

Der oben bereits angeführte Research Fellow bei Chatham House Renad Mansour äußert in einem Eintrag vom März 2018 in den Middle East Centre Blog der London School of Economics and Political Science seine Einschätzung zur gegenwärtigen und zukünftigen Position der PMF innerhalb der irakischen Sicherheitslandschaft, Politik und Wirtschaft. Trotz der Forderungen nach Integration oder Auflösung seien die PMF laut Mansour weiterhin mächtig und populär und seien rechtlich betrachtet als unabhängige staatliche Einheit anerkannt. Darüber hinaus würden die stärkeren PMF-Milizen planen, bei den Wahlen im Mai 2018 anzutreten und weitere Kontrolle über lokale und nationale Staatsinstitutionen zu erlangen. Die paramilitärischen Gruppen würden mit dem Staat um Macht, Legitimität und Befugnisse sowohl kooperieren als auch konkurrieren. Dieser Konkurrenzkampf sei nicht nur militärischer Natur, sondern erstrecke sich auch auf den politischen und sozioökonomischen Bereich.

Die PMF seien weit davon entfernt, eine monolithische Organisation zu sein und würden für eine Vielfalt unterschiedlicher Ideologien stehen, die auf politischen Loyalitäten zum iranischen Obersten Führer Ali Khamenei, zu Großayatollah Ali al-Sistani oder dem irakischen schiitischen Kleriker Muqtada al-Sadr basierten. Innerhalb der PMF bleibe die Pro-Khamenei-Gruppe die stärkste und stünde für eine eher langfristig orientierte militärische und politische Vision.

Trotz des scheinbaren Widerspruchs würden die PMF als hybride militärische und politische Organisation, als staatlicher und nichtstaatlicher Akteur, eine Rolle für die nächste Phase des Wiederaufbaus des irakischen Staates sowohl auf lokaler als auch auf nationaler Ebene anstreben. Der Vision einer Übernahme des Staates werde entweder als staatlicher Akteur oder als nicht-staatlicher Akteur - oder aber zweigleisig - nachgegangen. Die erste Variante sei jedoch die bevorzugte vieler politischer Gruppen.

Sollte es der PMF-Wahlliste und ihren Verbündeten, wie z.B. Maliki, gelingen, die nächste Regierung zu bilden, dann würden nach der Einschätzung Mansours die Paramilitärs weiter institutionalisiert und sie würden den Staat übernehmen und am Wideraufbau direkt teilhaben können. Sollte es jedoch Abadi oder einer anderen Gruppe gelingen, die nächste Regierung zu bilden, dann würden gemäß Mansour die PMF und ihre Verbündeten die Opposition bilden und sowohl ihre staatlichen als auch ihre nicht-staatlichen Befugnisse nutzen, um den Premierminister unter Druck zu setzen. Dadurch würden die Grenzen zwischen staatlichen und nicht-staatlichen militärischen, politischen und wirtschaftlichen Akteuren weiter verwischt werden:

„However, and despite calls for integration or dissolution, the PMF remains powerful, popular, and legally recognised as an independent state entity. Moreover, the stronger PMF groups plan to compete in the 2018 elections and gain further control of local and national state institutions. As such, they will feature in the next attempt to re-build the state in a post-ISIS context. These paramilitary groups simultaneously cooperate and compete against the state for power, legitimacy, and capacity. This competition is not only military, but extends to the political and socio-economic realms. […]

Far from a monolithic organisation, the PMF represents a mix of divergent ideologies, based on political allegiances to either Iranian Supreme Leader Ali Khamenei, Grand Ayatollah Ali al-Sistani, or Iraqi Shia cleric Muqtada al-Sadr. Within the PMF, the pro-Khamanei grouping remains the strongest and represents a more long-term oriented military and political vision. […]

Despite the seeming contradiction, the PMF, as a hybrid military and political organisation, as a state and non-state actor, seeks a role in the next phase of re-building the Iraqi state at both the local and national level. The vision of state capture will be pursued either as a state actor or as a non-state actor or both. The former, however, is the preference for many of the political groups.

At the national level, if the PMF electoral list and its allies, such as Maliki, manage to form the next government, then the paramilitaries will be further institutionalised and directly take part in the state re-building exercise, since they can capture the state. However, if Abadi or another group manages to form the next government, then the PMF and its allies will serve as an opposition, using both its state and non-state powers to pressure the prime minister. As such, the lines between state and non-state military, political, and economic actor will continue to be blurred.” (Mansour, 15. März 2018)

Garrett Nada, leitender Redakteur der Webseiten "The Iran Primer" und "The Islamists" am US Institute of Peace (USIP) und Mattisan Rowan, Programmassistent am USIP verfassten einen Artikel zu proiranischen Milizen im Irak, der im April 2018 auf der Homepage des Wilson Centers, einem unabhängigen Forschungszentrum mit Sitz in Washington, D.C., veröffentlicht wurde. Die Autoren schreiben darin unter Verweis auf andere Quellen, dass sich der iranische Einfluss im Irak seit 2003 durch eine Vielzahl schiitischer Milizen vertieft habe, sowie, dass Teheran von seinen langjährigen politischen, militärischen und finanziellen Investitionen im Irak profitiert habe. Schiitische Milizen seien innerhalb der irakischen Streitkräfte institutionalisiert worden und auch deren Führer seien tiefer in die Politik eingedrungen. Im März 2018 habe Abadi ein Dekret erlassen, das den PMF-Kämpfern gleichwertige Gehälter und Leistungen wie dem vom Verteidigungsministerium geführten Militärpersonal zusichere und die PMF noch weiter als eigenständige Entität verankere. Technisch gesehen sei es PMF-Mitgliedern gemäß der im Februar 2016 erlassenen Verfügung Abadis (Executive Order 91) nicht erlaubt in die Politik zu gehen. Dennoch hätten sich mehr als 500 Milizionäre oder Politiker, die mit Milizen – häufig mit Verbindungen zum Iran – verbunden seien, als Kandidaten für das Parlament registriert. Hadi Al-Amiri, einer der mächtigsten PMF-Führer, habe sich als Spitzenkandidat für das Amt des Premierministers etabliert. Um die Wahl zu bestreiten habe er mit mehreren anderen PMF-Gruppen – darunter die Badr Organisation, Asaib Ahl al-Haqq (AAH), Kataib Hisbollah und die Imam Ali Brigaden (KIA) – die Fatah-Koalition (Fatah: Eroberung) gebildet:

„Since 2003, Iranian influence has deepened in Iraq through a wide array of Shiite militias. […] Tehran has benefited from its longstanding political, military and financial investments in Iraq. Shiite militias have been institutionalized within Iraq’s armed forces; their leaders have also waded deeper into politics. […]

In March 2018, Abadi issued a decree entitling PMF fighters equivalent salaries and benefits as military personnel under the Ministry of Defense, further enshrining the PMF as a distinct entity. […]

Technically, PMF members cannot participate in politics, Abadi declared in Executive Order 91 in February 2016. But more than 500 militia members or politicians affiliated with militias—many with Iranian connections—registered to run for parliament. […]

Amiri […], one of the most powerful PMF leaders, has emerged as a top contender for the premiership. To contest the election, he formed the Fatah (Conquest) Coalition with several other PMF groups, including the Badr Organization, Asaib Ahl al Haq (AAH), Kataib Hezbollah, and the Imam Ali Brigades (KIA).” (Wilson Center, 27. April 2018)

Bill Roggio und Caleb Weiss von der in den USA ansässigen Denkfabrik Foundation for Defense of Democracies (FDD) behandeln in einem im Long War Journal im Juni 2018 veröffentlichten Artikel über einen Zusammenstoß zwischen der irakischen Polizei und Mitgliedern der vom Iran gestützten Hisbollah-Brigaden das Thema PMU in Zusammenhang mit den Parlamentswahlen vom Mai 2018. Die PMU seien durch ihre - in vielen Städten - führende Rolle beim Kampf gegen den „Islamischen Staat“ (IS) stärker geworden und ihre politische Partei habe bei den Parlamentswahlen den zweiten Platz belegt. Sie werde sich, um eine Regierung zu bilden, mit dem anti-amerikanischen Kleriker Muqtada al-Sadr verbünden, dessen Partei bei den Wahlen den ersten Platz eingenommen habe. Die PMU seien von schiitischen Milizen dominiert, die vom Iran und seinem Korps der islamischen Revolutionsgarden (IRGC) unterstützt würden.

Geleitet würden die PMU von Abu Mahdi al-Muhandis, der von den USA als „Specially Designated Global Terrorist“ gelistet werde und auch Führer der Hisbollah-Brigaden sei und Hader al-Amiri, dem Leiter der Badr-Organisation. Sowohl Muhandis als auch Amiri seien eng mit dem IRGC und dem Iran verbunden. Die PMU seien direkt dem irakischen Premierminister unterstellt und würden nicht unter das Kommando des Innen- oder Verteidigungsministeriums fallen. Im Juli 2016 seien die PMU offiziell in die irakischen Sicherheitskräfte eingegliedert worden. Die Einheit (PMU) agiere ähnlich dem IRGC, und bekannte PMU-Führer hätten gesagt, dass sie Irans Oberstem Führer folgen würden, sollte er den Befehl erteilen, die irakische Regierung zu stürzen:

„The PMU has risen in stature after leading the charge to defeat the Islamic State in many Iraqi cities, and its political party placed second in Iraq’s parliamentary elections. It will ally with anti-American cleric Muqtada al Sadr, whose party placed first in the elections, to form the next government. […]

The PMU is dominated by Shia militias that are backed by Iran and its Islamic Revolutionary Guards Corps (IRGC). It is led by Abu Mahdi al Muhandis, who is listed by the US as a Specially Designated Global Terrorist and also the leader of the Hezbollah Brigades, and Hader al Amiri, the head of the Badr Organization. Both Muhandis and Amiri are closely tied to the IRGC and Iran.

The PMU directly reports to Iraq’s prime minister and does not fall under the command of the Ministries of Interior or Defense. In July 2016, the PMU was officially incorporated into Iraq’s security forces. The unit acts much like Iran’s IRGC, and prominent PMU leaders have said they would obey Iran’s Supreme Leader if he ordered them to overthrow the Iraqi government.” (FDD’s Long War Journal, 21. Juni 2018)

Die in London ansässige, unabhängig finanzierte Online-Nachrichtenorganisation Middle East Eye (MEE), die Artikel freiberuflicher Journalisten und Beiträge von Think Tanks veröffentlicht, schreibt in einem Artikel vom August 2018, dass sich die Siegerparteien drei Monate nach den Wahlen immer noch in Verhandlungen zur Bildung der nächsten Regierungskoalition befänden. Es gebe keine Anzeichen für ein baldiges Ende der Verhandlungen. In einer Neuauszählung der Stimmen sei es nur zu geringfügigen Änderungen des Wahlergebnisses gekommen. Muqtada al-Sadr komme demnach auf 54 Sitze, eine Gruppe der vom Iran unterstützten schiitischen Milizführer befinde sich mit 48 Sitzen an zweiter Stelle, und der Block des derzeitig amtierenden Premierministers Haider al-Abadi befinde sich mit 42 Sitzen an dritter Stelle:

„The winning parties are still embroiled in negotiations over forming the next governing coalition three months after the vote, with no sign of an imminent conclusion. The recount did not alter the initial results significantly, with Sadr keeping his tally of 54 seats. A group of Iran-backed Shiite militia leaders remained second behind Sadr’s bloc but gained an extra seat that pushed them to 48, with incumbent Prime Minister Haider al-Abadi’s bloc still in third place with 42 seats.” (MEE, 20. August 2018)

Laut einem Artikel der Jerusalem Post (JPost) vom September 2018 sei das irakische Parlament am 4. September 2018 in einen Zustand der Ungewissheit gebracht worden, nachdem es Dutzenden von Parteien nicht gelungen sei, eine Koalitionsregierung zu bilden oder sich auf einen Parlamentspräsidenten oder die Besetzung anderer Funktionen innerhalb des Parlaments zu einigen. Drei Monate nachdem das Land sein neues Parlament gewählt habe, sei das Land so gespalten und unregierbar wie eh und je, mit pro-iranischen Parteien, die sich mit Washingtons Verbündeten streiten würden, sowie mit den Kurden, die versuchen würden, ihre Rechte in Kirkuk zurückzuerlangen. Am Wochenende zuvorhätten die führenden politischen Parteien des Irak noch die Bildung der "größten Koalition" angekündigt, die die nächste Regierung bilden würde. Premierminister Haider al-Abadi hätte eine sehr große Koalition aus 184 (56 Prozent) der insgesamt 329 Abgeordneten gebildet . Einige im Irak seien erleichtert gewesen, da es nun eine neue Regierung geben würde, im Westen sei diese Entwicklung von anderen gefeiert worden. Abadi, der Verbündete der USA, habe Muqtada al-Sadr und eine Reihe anderer Parteien zusammengebracht, die den pro-iranischen Parteien die kalte Schulter zeigen könnten. Nur wenige Stunden nachdem Abadis Verbündete den Medien über die Bildung der nächsten Regierung erzählt hätten, hätten seine Rivalen bekanntgegeben, dass auch sie den größten parlamentarischen Block gebildet hätten. Der Führer der Fatah-Allianz, Hadi al-Amiri, und der ehemalige irakische Premierminister Nuri al-Maliki mit seiner State of Law-Koalition hätten gesagt, dass sie 145 Unterstützer gefunden hätten. Laut dem Artikel würden die beiden großen Blöcke nach wie um die Regierungsmacht in Bagdad wetteifern:

„Iraq’s parliament was thrown into uncertainty on Tuesday after dozens of parties failed to create a coalition government and couldn’t agree on a speaker or other parliamentary roles. Three months after the country elected its new parliament the country is as divided and ungovernable as ever, with pro-Iranian parties feuding with Washington’s allies and Kurds seeking to regain their rights in Kirkuk. Over the weekend, Iraq’s leading political parties had announced the formation of the ‘largest coalition’ that would form the next government. Prime Minister Haider al-Abadi had formed a giant coalition of 184 MPs [members of parliament] (56%), out of the 329 who were elected to parliament on May 12. Some in Iraq breathed a sigh of relief: there would be a new government, finally. In the West, others celebrated. Abadi, the ally of the US, had brought together Muqtada al-Sadr and a bunch of other parties that might give the pro-Iranian parties the cold shoulder. Just hours after Abadi’s allies were whispering to media about forming the next government, his rivals said they had also formed the largest parliamentary bloc. Fatah alliance leader Hadi al-Amiri, and former Iraqi Prime Minister Nouri al-Maliki and his State of Law coalition said they had found 145 supporters. The two large groups are still vying to govern Baghdad.” (JPost, 5. September 2018)

Die Financial Times (FT) schreibt im oben bereits angeführten Artikel vom Juli 2018, dass die vom Iran unterstützten Volksmobilisierungseinheiten gegründet worden seien, um den IS zu besiegen, dass diese aber nun politische Bündnisse bilden und die Kontrolle über Teile der Wirtschaft übernehmen würden. Die kürzlich gegründete politische Allianz der Paramilitärs, Fatah, sei bei den Parlamentswahlen vom Mai 2018 auf den zweiten Platz gekommen. Nun, da Politiker die Zusammensetzung der nächsten Regierung verhandeln würden, stelle sich durch das starke Abschneiden der Fatah-Koalition die höchst polarisierende Frage, ob die geschätzt 120.000 Mann starke PMU-Truppe eine konstruktive oder destabilisierende Rolle in der Post-IS-Ära des Irak spielen werde. Einige irakische und westliche Beamte würden befürchten, dass die überwiegend schiitischen paramilitärischen Gruppen eine im Schatten operierende Kraft werden könnten, die dem Korps der islamischen Revolutionsgarden oder der libanesischen Bewegung Hisbollah, die politische und militärische Flügel hat, nachempfunden sei.

Renad Mansour meine, dass Hadi al-Ameri, der Führer der Badr-Organisation (er wird in einer Bildbeschreibung innerhalb des Artikels auch als Führer der PMU bezeichnet, Anmerkung ACCORD) das „Spiel des Staates spielen“ werde, sofern ihm dies zusage. Mansour habe hinzugefügt, dass es das Endziel der PMU sei, entweder die Kontrolle über den Staat zu übernehmen, oder, sofern ihnen dies nicht gelänge, Teil des Staates zu werden. Sie hätten aber auch einen Plan B für den Fall, dass der Staat eines Tages beschließen würde, die PMU einzugliedern oder aufzulösen, demzufolge sie Macht oder Einfluss gewinnen könnten, indem sie dem Staat auf wirtschaftlicher und politischer Ebene entgegentreten würden.

Laut Experten sei es unrealistisch davon auszugehen, dass zehntausende bewaffnete Männer einfach ihre Sachen packen und nach Hause gehen. Tatsächlich würde laut dem Artikel ein solcher Schritt die Instabilität nur noch verschärfen, in einem Land, das mit Waffen übersät sei und das von weit verbreiteter Arbeitslosigkeit heimgesucht werde.

Einige Iraker und Analysten hätten angegeben, dass die PMU-Gruppen auch ihre Geschäftsfelder erweitern und sich angeblich an ähnlichen Schmuggelgeschäften beteiligen würden, die zuvor vom IS betrieben worden seien – mit Gütern wie Schafen, Getreide und Öl.

Laut einem irakischen Analysten seien in Gebieten, die der IS kontrolliert habe, PMU-Gruppen aufgetaucht und hätten dort Checkpoints errichtet, die Schmuggler auf dem Weg von Syrien oder der Türkei passieren müssten.

Vieles würde laut dem Artikel davon abhängen, wie sich die Machtverteilung in der nächsten Regierung darstellen werde. Der schiitische Kleriker und Wahlsieger Muqtada al-Sadr, dessen politische Allianz namens Sairoon Gespräche zur Bildung einer Koalition führe, habe bislang die Auflösung der PMU gefordert und gegen den Einfluss des Iran gewettert. Er betreibe seine eigene Miliz, die Mahdi-Armee, die später in Friedenskompanien (Peace Companies) umbenannt worden sei. Im Juni 2018 hätten Sadr und Ameri bekanntgegeben, dass ihre beiden Blöcke ein "nationales Bündnis" gründen würden, mit dem Ziel, Gespräche über die Bildung einer Regierung zu führen:

„The Iran-backed Popular Mobilisation Units were created to defeat Isis but now they are forming political alliances and taking control of parts of the economy […]

[T]he paramilitaries’ recently formed political alliance — Fatah, or Conquest — stormed to second place in Iraq’s parliamentary elections in May. Now, as politicians jockey over the composition of the next government, both the video and Fatah’s strong electoral performance point to one of the most polarising questions in Iraq: will the estimated 120,000-strong PMU force have a constructive or destabilising role in the post-Isis era? […]

Some Iraqi and western officials fear the predominantly Shia paramilitary groups could become a shadow force, modelled on Iran’s Islamic Revolutionary Guards Corps or Hizbollah, the Lebanese movement that has political and military wings. […]

Renad Mansour, an analyst at the Chatham House think-tank who has researched the PMU, says Mr Ameri ‘plays the game of the state when it suits him’. He adds: ‘The PMU’s endgame is either to take control of the state, or, if they can’t, [to at least] be part of the state. But they also have a plan B. If the state one day decides it needs to integrate or disband the PMU, they can gain power or influence through contesting the state economically and politically.’ Experts say it is unrealistic to expect tens of thousands of armed men to simply pack up and go home. Indeed, such a move in a country awash with weapons and blighted by widespread joblessness would only risk exacerbating instability. […]

Some Iraqis and analysts say PMU groups are also expanding their business interests and allegedly engaging in similar smuggling rackets that Isis once operated, from sheep to grain and oil. ‘Where Isis controlled territory, PMU groups have emerged manning checkpoints so smugglers taking stuff through Turkey or Syria must go through them,’ says an Iraqi analyst. […]

Much will depend on where power lies in the next government. Mr Sadr, the Shia cleric whose Sairoon political alliance is leading talks to form a coalition after winning the largest share of the vote at May’s election, has previously called for the PMU to be disbanded and has railed against Iran’s influence. But he also has his own militia, the Mahdi Army. It retreated from the streets after a crackdown by the Iraqi and coalition forces in the late 2000s, and has since been rebranded the ‘Peace Companies’. Last month, Mr Sadr and Mr Ameri said their blocs were creating a ‘national alliance’ to lead talks on forming a government.” (FT, 31. Juli 2018)

Walter Posch schreibt im oben erwähnten Forschungspapier – teilweise unter Verweis auf andere Quellen - Folgendes über den immer wieder angestellten Vergleich der Volksmobilisierungseinheiten mit den iranischen Revolutionsgarden:

„Die falsche Analogie: VME [Volksmobilisierungseinheiten] und iranische Revolutionsgarden

2016 nach der Eroberung von Fallujah war nur eine Sache klar, dass die Milizen nicht aufgelöst werden sollen. Gefragt, welche Art von Verhältnis sie zum Staat oder zur Armee unterhalten wollen, wurde in einem geheimen von der UN organisierten Treffen mit europäischen Diplomaten in Beirut darauf hingewiesen, dass der Armee aufgrund der auch von westlicher Seite bestätigten Korruption und der geringen Motivation des Offizierskaders nicht getraut wird, eine volle Integration in diese also außer Diskussion stünde. Vielmehr sei man entschlossen, eine alternative militärische Einheit ähnlich den iranischen Revolutionsgarden zu werden. Gleichzeitig würden sich die Leiter der VME darauf vorbereiten, an den irakischen Parlamentswahlen 2017 teilzunehmen, an ihrer demokratischen Glaubwürdigkeit sei nicht zu zweifeln, immerhin würden auch Vertreter anderer Religionen den VME angehören. Hinsichtlich der Nachbarschaft wolle man nur Stabilität und sich in die Region integrieren.

Hierzu folgendes, der Wunsch eine Einheit analog zu den iranischen Revolutionsgarden aufzubauen ist für jene schiitischen Gruppen verständlich, die eine Zeit im iranischen Exil verbracht haben oder von den Iranern unterstützt werden. Dennoch liegt diesem Wunsch ein großes Missverständnis über die Rolle der islamischen Revolutionsgarde zugrunde, weil die VME-Vertreter auch von einer politischen Rolle, gar von einer Teilnahme im Staat gesprochen haben. Das iranische System der Revolutionsgarden begann wie die VMEs mit verschiedenen Milizen und Parteien, diese wurden jedoch sehr bald harmonisiert, sprich nur Khomeini-treue Gruppen durften die Revolutionsgarden bilden. Und das nur unter der Voraussetzung, dass sie auf jegliche Rolle in der Politik verzichten. Dieses Prinzip wurde rigoros durchgezogen und die Einmischung der Revolutionsgarden in die iranische Politik finde über Lobbying oder über Drohungen statt. Auf den Irak umgelegt würde dies bedeuten, dass die VMEs sofort einheitlich uniformiert, ihre Abzeichen verboten und alle Feldzeichen durch die VME Banner ersetzt werden. Die Führungsschicht der VME also die bisherigen Kommandanten müssten sich dann entscheiden, ob sie Politiker oder Generäle werden wollen. Das iranische Modell würde sich also nicht ohne Schmerzen in das irakische System übertragen lassen, obwohl anzunehmen ist, dass westliche und iranische Beobachter einer derartigen Maßnahme wohlwollend gegenüber stünden.

Noch schwieriger als die Vereinheitlichung wird jedoch die politische Ausrichtung sein, die irakischen VME sind ideologisch unterschiedlich während die iranischen Revolutionsgarden ideologisch einheitlich und mit dem post-charismatischen institutionalisiertem Führerkult um Khamenei zur Verteidigung der – global gedachten – islamischen Revolution beauftragt sind. Hier liegen nun zwei Probleme vor: erstens unterstehen die VMEs dem Volksmobilisierungskomitee VMK und damit dem Premierminister. Damit steht diesem ein weiteres Machtmittel zur Verfügung, das er freilich auch zur inneren Sicherheit z.B. gegen die politische Konkurrenz einsetzen kann.

Bemüht man jedoch die Analogie zum Iran weiter, wo nicht der Präsident sondern der Revolutionsführer den Oberbefehl ausübt, dann würde sich für den Irak eine andere Alternative ergeben, nämlich dass der irakische Präsident analog zum Kommando über die Sondereinsatzkräfte unter dem Terrorismus Akt auch den Oberbefehl über die VMEs ausübt, was anhand der jetzigen rechtlichen Regelung explizit ausgeschlossen wird.

Das zweite Problem liegt im Auftrag der VMEs begründet. Die internationale Gemeinschaft akzeptiert die VMEs zwar als Organe der inneren Sicherheit und der Landesverteidigung aber nicht als Mittel zur Machtprojektion in der Region. Damit kommt der ideologische Widerspruch zwischen islamistisch-revolutionär und nationalstaatlich orientierten VMEs zum Tragen. Denn obwohl der Einsatz einzelner Milizen der VME, die unter ihren eigenen Feldzeichen in Syrien kämpfen, von der internationalen Gemeinschaft weitgehend ignoriert (wenn auch genau beobachtet) wird, so stößt doch der geschlossene Einsatz der VME als operativer Großverband im Nachbarland auf Widerstand. Die USA bombardierte bereits einige Einheiten von denen sie Grund zur Annahme hatten, dass sie Ausgangspositionen für eine mögliche Intervention in Syrien schaffen wollen. Anders ausgedrückt, die internationale Gemeinschaft wird die Entwicklung einer Super-Hizbullah verhindern aber einer für die Innere Sicherheit und zur Landesverteidigung tauglichen VME selbst mit pro-iranischen Elementen begrüßen. Eine derartige VME wäre aber dann funktional betrachtet einfach eine Nationalgarde, was an sich nicht das schlechteste Modell wäre und im Geiste der Sistani fatwa stünde. Aber eine Mutation der VME zur gewöhnlichen Nationalgarde würde ein eigenständiges institutionelles Leben kaum rechtfertigen.“ (Posch, August 2017, S. 59-61)

 

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Quellen: (Zugriff auf alle Quellen am 7. September 2018)