Anfragebeantwortung zu Syrien: Obsorgeregelung nach Scheidung, Einverständniserklärung des Vaters für die Ausreise des Kindes [a-9991]

12. Jänner 2017

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Das US-amerikanische Außenministerium (US Department of State, USDOS) schreibt in seinem Bericht zur Religionsfreiheit vom August 2016 (Berichtszeitraum: 2015), dass das syrische Personenstandsgesetz hinsichtlich der Scheidung von Muslimen auf einer Interpretation des islamischen Scharia-Rechts basiere und durch von der Regierung ernannte religiöse Richter umgesetzt werde. Eine geschiedene Mutter verliere ihr Anrecht auf Obsorge ihrer Söhne, wenn sie ein Alter von 13 Jahren und ihrer Töchter, wenn sie ein Alter von 15 erreichen würden. Danach ginge die Obsorge auf die väterliche Seite der Familie über:

„The personal status law on divorce for Muslims is based on an interpretation of sharia implemented by government-appointed religious judges. In the case of interreligious disputes, sharia takes precedence. A divorced woman is not entitled to alimony in some cases; a woman may also forego her right to alimony to persuade her husband to agree to the divorce. Additionally, under the law, a divorced mother loses the right to guardianship and physical custody of her sons when they reach the age of 13 and of her daughters at age 15, when guardianship transfers to the paternal side of the family.“ (USDOS, 10. August 2016, Section 2)

In einer Studie zum syrischen Familienrecht aus dem Jahr 2014, die auf Feldforschungen in den Jahren 2008 und 2009 basiert, schreibt die Arabistin und Juristin Esther van Eijk von der niederländischen Universität Maastricht, dass familiäre Beziehungen in Syrien von religiösen bzw. von der Religion inspirierten Personenstandsgesetzen reguliert würden. Das wichtigste Gesetz sei dabei das auf islamischen Rechtsquellen basierende syrische Personenstandsgesetz (Syrian Law of Personal Status, SLPS) aus dem Jahr 1953 mit Novellierungen aus den Jahren 1975, 2003 und 2010:

Family relations in Syria are governed by a variety of religious – or religiously-inspired –family or personal status laws. The main law that regulates family relations, the 1953 Syrian Law of Personal Status (hereafter SLPS) [Fußnote 2: The Syrian Law of Personal Status (qanun al-ahwal al-shakhsiyya), Law no. 59, was promulgated on 17 September 1953 and amended in 1975, 2003, and 2010], is predominantly based on Islamic legal sources, particularly Hanafi fiqh (Islamic jurisprudence).” (van Eijk, 2014, S. 73)

Van Eijk führt in ihrem 2016 erschienenen Buch zum Familienrecht in Syrien aus, dass das Sorgerecht ein ausschließlich männliches Privileg sei und daher an den Vater falle (Artikel 170 bis 175 des Familienrechts). Die Mutter sei dagegen laut Artikel 137 bis 151 dazu verpflichtet und habe das Recht, die Kinder großzuziehen (Hadana). Falls die Mutter nicht in der Lage sei, dieses Recht wahrzunehmen, dann könne es von der Großmutter mütterlicherseits eingefordert werden, danach von der Großmutter väterlicherseits. Im Falle einer Trennung der Eltern dürfe die Mutter beim Gericht danach ansuchen, ihr das Recht auf Hadana zu gewähren, bis zu einem Alter von 15 Jahren bei Töchtern und 14 Jahren bei Söhnen (Art.146). Falls die geschiedene Mutter das Recht bekomme, die Kinder großzuziehen, so müsse der Vater für die Kosten des Großziehens aufkommen (Art. 142). Er sei nämlich der gesetzliche Vormund und daher für den Unterhalt seiner Kinder verantwortlich. Trotzdem sei es eine andere Frage, ob der Vater tatsächlich den Unterhalt zahle. Daher sei es für eine Mutter, die sich scheiden wolle, wichtig sicherzugehen, dass sie von ihrer eigenen Familie finanziell versorgt werden könne, falls sie beabsichtige, für die Kinder zu sorgen. Unabhängig der Tatsache, wer von beiden Elternteilen physisch für die Kinder sorge, behalte der Vater als rechtlicher Vormund immer das letzte Wort hinsichtlich der Erziehung der Kinder. Wenn der Hadana-Zeitraum ende, könne der Vater verlangen, dass die Kinder wieder in seine Obhut zurückgegeben würden. Während der Hadana habe der Vater das Recht, die Kinder zu sehen (ira’a). Das syrische Personenstandsgesetz reguliere jedoch nicht die Umsetzung dieses Besuchsrechtes. Die genauen Besuchsvereinbarungen würden laut Aussage eines syrischen Anwalts auf Grundlage des Gewohnheitsrechts geregelt. Laut Artikel 138 des Familienrechts verliere eine geschiedene Frau dann ihr Hadana-Recht, wenn sie einen Mann außerhalb der engeren Familie des Kindes heirate:

„Legal guardianship is an exclusively male prerogative and therefore belongs to the father (Arts 170-5); the mother, on the other hand, has the obligation and right to nurse her children (hadana) (Arts 137-51). If the mother cannot exercise this nursing right, it can be claimed by the child’s maternal grandmother or (subsequently) the paternal grandmother, the maternal aunt, and so on (Art.139). In the event of separation of the parents, the mother may ask the court to give her the right to nurse (hadana) her children until the age of 15 for girls and 14 for boys (Art. 146). When the (divorced) mother obtains the hadana-right over her children, the father remains responsible for the cost of nursing (art.142); after all he is the legal guardian and therefore remains responsible for the maintenance of his children.

Whether child maintenance is actually paid by the father is another matter. It is therefore important for a mother, who seeks divorce, to know that she can fall back on her family members for financial support, if she intends to take care of the children. Regardless of who physically takes care of the children, the father (as the legal guardian) will always have the final say in the upbringing of his children, in all matters related to their education, property, etc. (Art.170 ff.). When the hadana period ends, the father can demand that the children are ‘returned‘ to his care. During this nursing period, the father has the right to see his children (ira’a). The SLPS [Syrian Law of Personal Status] (or any other law) does not regulate the actual implementation of visitation rights. The precise visitation arrangements are worked out based on custom (taqlid), according to senior lawyer Ali. Finally, a divorcée can also lose her nursing rights. Article 138 stipulates that a Muslim woman loses her right of the nursing of her children when she remarries someone outside the child’s immediate family (i.e. a non-mahram man).“ (van Eijk, 2016, S. 121-122)

Aayesha Rafiq, Dozentin an der Fatima Jinnah Women University in Pakistan, geht in einem im März 2014 in der Zeitschrift International Journal of Humanities and Social Science erschienenen Artikel zur Obsorgeregelung in muslimischen Ländern unter anderem auch auf Syrien ein. Auch in Syrien sei das islamische Scharia-Recht als primäre Rechtsquelle festgehalten. Die Hanafitische Rechtsschule sei die vorherrschende islamische Rechtsschule in Syrien. Unter Berufung auf eine Quelle von 2002 schreibt Rafiq, dass wenn eine geschiedene syrische Frau eine Unterkunft für sich habe und nicht wieder heirate, es ihr gestattet sei, für Söhne bis zum Alter von neun Jahren und Töchter bis zum Alter von elf Jahren zu sorgen. Falls das Gericht entscheide, dass der Vater (danach) nicht mit der Obsorge über die Kinder betraut werden könne, so würden Gerichtsentscheidungen dahin tendieren, die Obsorge der Mutter über Töchter bis zu deren Heirat, oder über Söhne und Töchter bis zum „Ruschd“ [islamisches Konzept geistiger Reife, dessen Alter nicht genau festgelegt ist, Anm. ACCORD] auszuweiten:

„Most of the Arab countries – including Egypt, Libya, Oman, Saudi Arabia, and even Syria proclaim the Shari’a to be the ‘principal source of legislation.‘ (Rafiq, März 2014, S. 267)

Hanafi fiqh is the predominant madhab in Syria. If a divorced Syrian woman has a home and she does not marry she will be allowed to retain her boys till the age of nine and girls till the age of eleven. Trends of the courts show that Qadhi may extend the mother’s custody over girls until marriage or over boys and girls until they attain rushd, if the court finds that father is not to be trusted with the children.“ (Rafiq, März 2014, S. 273)

Immigration and Refugee Board of Canada (IRB), ein kanadisches Verwaltungsgericht, das sich mit Fällen von Asyl und Migration befasst, schreibt in einer älteren Anfragebeantwortung vom März 2007 unter Bezugnahme auf verschiedene Quellen, dass die Obsorge in Syrien für alle Syrer, auch Christen, nach dem auf dem islamischen Scharia-Recht basierenden Personenstandsgesetz geregelt werde. Eine geschiedene Frau würde die physische Obsorge über ihre Kinder verlieren, wenn Söhne das Alter von 13 Jahren und Töchter das Alter von 15 Jahren erreicht hätten. Der Bericht über religiöse Freiheit des US-Außenministeriums von 2006 erwähne zudem, dass der Mutter das Sorgerecht auch früher entzogen werden könne, wenn sie sich dazu entschließe, wieder zu heiraten, außerhalb des Zuhauses zu arbeiten, oder die Stadt oder das Land zu verlassen. Die väterliche Seite der Familie behalte immer die gesetzliche Vormundschaft der Kinder:

„With respect to custody laws, all Syrians, including Christians, are governed by Sharia-based personal status laws (ibid. 8 Mar. 2006, Sec. 2.c; ibid. 15 Sept. 2006, Sec. 2). If a woman becomes divorced, she loses physical custody of her sons once they reach 13 years of age, and daughters once they reach 15 years of age (ibid.; ibid. 8 Mar. 2006, Sec. 5). The International Religious Freedom Report 2006 also states that custody can be taken away from women prior to her children reaching the designated ages should she ‘remarry, work outside the home, or move outside of the city or country‘ (ibid. 15 Sept. 2006, Sec. 2). Country Reports 2005 indicates that the paternal side of the family always retains guardianship of children (ibid. 8 Mar. 2006, Sec. 5).“ (IRB, 7. März 2007)

Auf der Seite des syrischen Parlaments findet sich ein Arbeitspapier einer Professorin namens Mai Eissa vom Mai 2015, in welchem sie das syrische Personenstandsgesetz von 1953 dessen Novellierungen aus dem Jahr 1975 gegenüberstellt und die Entwicklungen unter anderem im Hinblick auf die rechtliche Stellung der Frau kommentiert. Das Personenstandsgesetz sei 1953 verabschiedet worden, 1975 seien einige Paragraphen abgeändert worden. Während im Gesetz von 1953 der Hadana-Zeitraum auf neun Jahre für den Jungen und elf Jahre für das Mädchen festgelegt worden sei, habe die Änderung eine Verkürzung dieses Zeitraums auf sieben Jahre für den Jungen und neun Jahren für das Mädchen festgesetzt.

Nach beiden Gesetzesversionen verliere die Mutter ihr Sorgerecht, wenn sie einen “Fremden”, d.h. jemanden außerhalb der engeren Familie des Kindes, heirate. Dieses könne sie nur dann wiedererlangen, wenn sie sich scheiden lasse.

Laut beiden Gesetzesversionen dürfe die Mutter mit ihrem Kind, solange sie noch verheiratet sei, nur mit Erlaubnis des Vaters verreisen. Die geschiedene Mutter, der das Hadana-Recht zugesprochen worden sei, könne nach Ablauf der „Idda“ [gesetzliche Wartefrist der Frau nach Auflösung der Ehe durch Scheidung bis zur Wiederverheiratung, Anm. ACCORD] ohne die Zustimmung des Vormunds des Kindes an den Ort reisen, an dem ihr Ehevertrag ausgestellt worden sei. Die Gesetzesversion von 1953 sehe vor, dass die geschiedene Mutter auch dann keine Erlaubnis des Vormundes des Kindes benötige, wenn sie mit dem Kind an ihren ursprünglichen Wohnort oder an einen anderen Ort reise, an dem sie im öffentlichen Dienst angestellt sei, unter der Bedingung, dass an diesem Ort enge Verwandte leben würden. Es findet sich keine Bemerkung dazu, ob dieser Text in der neueren Fassung abgeändert worden sei. (Al-Jumhuriya al-carabiya al-Suriya Majlis al-Shacb, 5. Mai 2015)

 

Auf Facebook findet sich eine Seite mit dem Namen „The Syrian Law“, die sich selbst als eine Seite beschreibt, die das syrische Recht vereinfacht erklärt und rechtliche Ratschläge gibt. Auf dieser Seite findet sich ein Eintrag vom Juli 2013 zum Thema Obsorge und Reise. Laut „The Syrian Law“ habe der Vater des Kindes während der Zeit, in der die Mutter das Hadana-Recht habe, ein Anrecht darauf, sein Kind zu sehen. Daher dürfe die Mutter nicht mit dem Kind an einen weit entfernten Ort ziehen, wo es dem Vater nicht mehr möglich sei, das Kind zu besuchen. „Weit entfernt“ werde gerichtlich meist als eine Reise ausgelegt, die mehr als einen Tag erfordere. Das gleiche gelte bei der Übertragung des Sorgerechts nach Ablauf des Hadana-Zeitraums an den Vater. Hier habe die Mutter das Recht, das Kind zu besuchen, und der Vater dürfe mit diesem deshalb nicht an einen weit entfernten Ort ziehen. Eine Reise mit dem Kind ohne die Zustimmung desjenigen, der das Besuchsrecht habe, sei ein Grund, das Sorgerecht zu entziehen. (The Syrian Law, 26. Juli 2013)

 

Al-Qanuniyin al-Arab, ein Internetportal, das Artikel und Studien zu rechtlichen Fragen in verschiedenen arabischen Ländern veröffentlicht, bemerkt in einer kurzen Übersicht zur Obsorgeregelung in Syrien vom Februar 2015, dass es Unterschiede im Personenstandsgesetz zwischen den einzelnen Konfessionen hinsichtlich der Dauer des Hadana-Zeitraums gebe. Sowohl bei Muslimen und Syrisch-Orthodoxen falle das (physische) Sorgerecht im Hadana-Zeitraum der Mutter zu. Bei Muslimen ende diese Zeitperiode, wenn die Tochter ein Alter von 15 Jahren und der Sohn ein Alter von 13 Jahren erreicht habe. Bei Mitgliedern der Syrisch-Orthodoxen Kirche jedoch ende die Hadana-Zeitperiode für Jungen mit neun Jahren und für Mädchen mit elf Jahren. (Al-Qanuniyin al-Arab, Februar 2015)

 

 

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Quellen: (Zugriff auf alle Quellen am 12. Jänner 2017)

·      IRB - Immigration and Refugee Board of Canada: Syria: Divorce and custody laws that apply to Christians; validity in Syria of a divorce granted in Canada, 7. März 2007 (verfügbar auf refworld)
http://www.refworld.org/docid/46fa538123.html

·      Al-Jumhuriya al-carabiya al-Suriya Majlis al-Shacb [Parlament der Arabischen Republik Syrien]: qanun al-‘ahwal al-shakhsiya wa tatbiqatuhu…bayn al-madi wa-l-hadir wa-l-mustaqbal [Das Personenstandsgesetz und seine Umsetzung…zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft], 5. Mai 2015
http://www.parliament.gov.sy/arabic/index.php?node=5518&cat=14483&

·      Al-Qanuniyin al-Arab: sann al-hadhana fi-l-qanun al-suri [Erlass zur Obsorge im syrischen Gesetz], Februar 2015
http://www.law-arab.com/2015/02/Preschool-in-Syrian-law.html

·      Rafiq, Aayesha: Child Custody in Classical Islamic Law and Laws of Contemporary Muslim World (An Analysis) In: International Journal of Humanities and Social Science 4(5): S. 267-277, März 2014
http://www.ijhssnet.com/journals/Vol_4_No_5_March_2014/29.pdf

·      The Syrian Law: al-hadana wa-l-safr [Obsorge und Reise], 26. Juli 2013 (veröffentlicht auf Facebook)
https://www.facebook.com/TheSyrianLaw/posts/207814999342674

·      USDOS - US Department of State: 2015 Report on International Religious Freedom - Syria, 10. August 2016 (verfügbar auf ecoi.net)
http://www.ecoi.net/local_link/328447/469225_de.html

·      van Eijk, Esther: Pluralistic Family Law in Syria: Bane or Blessing? In: Electronic Journal of Islamic and Middle Eastern Law (EJIMEL), 2(12):73-82, 2014
http://www.zora.uzh.ch/97039/1/VanEjkEsther_Final.pdf

·      van Eijk, Esther: Family Law in Syria – Pluralism and Personal Status Codes, I.B.Tauris, 2016
https://books.google.at/books?id=kEhyDAAAQBAJ&pg=PA121&lpg=PA121&dq=syria+custody+of+child+after+divorce&source=bl&ots=N1Qu-i5P-S&sig=BmcWkQepooelUtKXDSg1Cy_p7VQ&hl=de&sa=X&ved=0ahUKEwi03KCTzajRAhXPyRoKHaA9CgkQ6AEIYTAJ#v=onepage&q=syria%20custody%20of%20child%20after%20divorce&f=false