Anfragebeantwortung zur Russischen Föderation: Tschetschenien: Situation hinsichtlich Entführungen von jungen Frauen durch Kadyrowzy; Berichte über Frauen, die Entführungen entkommen sind, und Lage ihrer Verwandten [a-9361]

22. Oktober 2015

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In einem von den russischen Menschenrechtsorganisationen Memorial und Komitee Bürgerbeteiligung 2011 veröffentlichten Bericht wird in einem Kapitel über Menschenrechtsverletzungen an Frauen in Tschetschenien Folgendes erwähnt:

„Solche Ereignisse sind im Tschetschenien von heute die Norm. Da gibt es keinen Platz für Moral. Jede Frau, die von Kadyrow oder einem von Kadyrows Leuten in Augenschein genommen worden ist, wird ein Opfer deren Nachstellungen. Und in so einer Situation können viele Frauen aus Angst um ihre Angehörigen nicht Nein sagen.“ (Memorial / Komitee Bürgerbeteiligung, 2011, S. 32)

In einem Artikel vom März 2012 erwähnt Memorial, dass der Kampf gegen Brautraub bisweilen eigenartige Formen annehme. So würde die Polizei nicht gegen Familienangehörige von Personen vorgehen, die dem Machtzentrum nahestünden und an derartigen Entführungen beteiligt seien:

„However fighting against bridal kidnapping in Chechnya sometimes takes strange forms. Law enforcement workers take no actions regarding family members of those close to power, who are involved in such kidnappings.“ (Memorial, 23. März 2012)

Swetlana Gannuschkina von der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial führt in einem im Juli 2012 veröffentlichten Bericht zu einem von ACCORD organisierten COI-Workshop zum Thema Frauen in Tschetschenien Folgendes aus:

4.1.2 Beispiele zu Zwangsehe, Vergewaltigungen und den Folgen

Mitarbeiter von Memorial nahmen eine junge Frau, die sie im Jahr 2000 in einem Lager in Inguschetien trafen, mit nach Moskau. Sie hatte bereits ein Jahr lang Medizin studiert und schaffte es, ihr Studium in Moskau fortzusetzen und Ärztin zu werden. Eines Tages beschloss die junge Frau, ihre Verwandten in Tschetschenien zu besuchen. Dort wollte man sie entführen, es gelang ihr jedoch, sich loszureißen, wobei sie hinfiel und mit dem Kopf auf dem Asphalt aufschlug. Die junge Frau verlor das Bewusstsein und wachte im Haus eines Mannes wieder auf, der viel älter war als sie, und den sie noch nie zuvor gesehen hatte. Bei dem Mann handelt es sich um keine Person, die Ramsan Kadyrow sehr nahe stehen würde, aber er ist Teil des Systems. Daher konnten weder die junge Frau, noch ihre Verwandten gegen die Ehe mit ihm etwas einwenden. […]

Ein weiteres Mädchen namens Elsa, eine junge Studentin, äußerte Mitarbeitern von Memorial gegenüber, dass ihre Eltern ihr nicht erlauben würden, Veranstaltungen mit vielen Menschen zu besuchen. Der Grund dafür ist, dass das Mädchen, sollte eine Person aus Kadyrows Umgebung ein Auge auf sie werfen, in Gefahr wäre. Es wäre nicht möglich, sich dem Willen dieser Person zu widersetzen. Und es gibt viele Fälle, in denen junge Mädchen dazu gezwungen werden, mit Männern zusammenzuleben, zum Teil im Rahmen einer islamischen Ehe, zum Teil aber auch ohne Eheschließung.

Auf der einen Seite werden in Tschetschenien ‚Zeitehen‘ geschlossen, bei denen ein Mullah seinen Segen zu einer Ehe gibt und die Frau nach einer gewissen Zeit wieder nach Hause geschickt wird. Aus Sicht des Islam war die Frau in diesem Fall verheiratet und wurde geschieden, weshalb sie nicht zum Opfer eines Ehrenmordes wird.

Auf der anderen Seite haben die sogenannten ‚Kadyrowzy‘ eine weitere Art entdeckt, sich zu vergnügen. Sie umgarnen junge Frauen und bitten sie an einem gewissen Punkt zu sich nach Hause. Dorthin laden sie auch ihre Freunde ein, die mit der jungen Frau tun dürfen, was sie wollen. Alles wird aufgezeichnet und per Handy an einen entfernten Verwandten des Mädchens geschickt zusammen mit der Botschaft: Entweder bringt ihr sie selber um oder wir erzählen allen, dass euer Clan Schande über sich gebracht hat. Daraufhin verschwindet die junge Frau.

Im Internet ist die Information verfügbar, dass eine Frau, die von einem Kadyrow nahestehenden Mann vergewaltigt wurde, an dessen Telefon gelangen konnte, auf dem sie die Nummer von Kadyrow selbst fand. Sie rief Kadyrow an und bat ihn, ihr zu helfen und sie zu befreien. Dieser weigerte sich jedoch, mit ihr zu sprechen. Stattdessen rief er einige Zeit später seinen Vertrauten an und fragte diesen, wie er es zulassen könne, dass er, Kadyrow, von seinen Nutten belästigt werde.“ (ACCORD, 4. Juli 2012, S. 13-14)

Die deutsche Nachrichten-Website Spiegel Online veröffentlicht im September 2013 ein Interview mit Swetlana Gannuschkina, in dem sie folgende Aussage tätigt:

„SPIEGEL ONLINE: Wie ist die Lage der Frauen in Tschetschenien?

Gannuschkina: Ramsan Kadyrow ist für viele in Tschetschenien heute ein Idol: ein starker Mann, der andere zwingt, sich unterzuordnen. Ein Mann, der sich jede Frau nehmen kann. Hübsche junge Frauen müssen damit rechnen, dass jederzeit einer der ‚Kadyrowzy‘, der Gefolgsleute Kadyrows, Gefallen an ihr findet. ‚Nein‘ kann sie ihm nicht sagen. Das würde sie nicht nur selbst in Gefahr bringen, sondern ihre ganze Familie.“ (Spiegel Online, 6. September 2013)

In einem im September 2014 veröffentlichten, vom norwegischen Herkunftsländerinformationszentrum Landinfo verfassten Bericht des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen (European Asylum Support Office, EASO), einer Agentur der Europäischen Union, die die praktische Zusammenarbeit der Mitgliedsstaaten im Asylbereich fördern soll und die Mitgliedsstaaten unter anderem durch Recherche von Herkunftsländerinformation und entsprechende Publikationen unterstützt, finden sich folgende Informationen über Brautentführungen, die im Rahmen des tschetschenischen Gewohnheitsrechts (Adat) stattfinden:

„5.1 Brautentführungen als Teil des Adat

Eine Brautentführung liegt dann vor, wenn ein Mann mithilfe anderer eine Frau entführt, um sie dazu zu bringen, ihn zu heiraten. Üblicherweise wird eine Brautentführung so vorbereitet, dass die Helfershelfer des Bräutigams die Frau zwingen, in ein Auto zu steigen, und mit ihr wegfahren. Die Frau (die zukünftige Braut) wird dann zu Verwandten oder Freunden des Bräutigams gebracht. Dort versuchen sie, sie zu überzeugen – bzw. wird sie dazu gezwungen –, ihr Einverständnis zu der Eheschließung zu geben. Eine Abordnung der Familienältesten setzt sich mit der Familie der Frau in Verbindung und versucht, einen formellen Vertrag auszuhandeln. Häufig wird hierzu die Familie der Braut bezahlt oder die Situation intern geklärt. Falls die Frau nicht entfliehen kann und am nächsten Morgen nicht freigelassen wird, stehen ihre Chancen, nicht zur Heirat gezwungen zu werden, schlecht. Der Grund dafür ist, dass eine unverheiratete Frau, die die Nacht im Haus eines Mannes verbringt, als dessen Frau gilt. […]

2010 erließ Ramsan Kadyrow die Anordnung, dass Brautentführungen nicht mehr länger stattfinden sollten. Diese Anordnung führte angeblich zu einem leichten Rückgang der Zahl der Brautentführungen. Der bereits zuvor zitierten NRO zufolge gibt es in Tschetschenien zwar nach wie vor Brautentführungen, doch finden diese jetzt eher im Verborgenen statt.

Der vorstehend genannten NRO in Grosny zufolge ist es für eine Frau, die im Rahmen einer Brautentführung gekidnappt wurde und die Nacht im Haus eines Mannes verbracht hat, sehr schwer, die Ehe zu verweigern und später jemand anderen zu heiraten. Auch wenn die Familie der Frau sie wieder aufnimmt, kommt es mit großer Wahrscheinlichkeit zu einer Konfrontation zwischen der Familie der jungen Frau und der des jungen Mannes. Wenn die Frau gleich entfliehen kann und die Nacht nicht im Haus des Mannes verbringt, bringt sie auch keine Schande über ihre Familie. Brautentführungen enden normalerweise damit, dass die Frau den Mann heiratet, da sie keine andere Wahl hat.

Die NRO in Grosny führte an, dass Brautentführungen zu einer gefährlichen Situation führen könnten, wenn die Frau eine Eheschließung ablehne und zu ihrer Familie zurückkehre. Dies treffe insbesondere dann zu, wenn der ‚Bräutigam‘ bei einem Sicherheitsdienst beschäftigt sei. […]

Gannushkina führte an, dass Brautentführungen noch immer als legitim gelten, wenn sie von einem der Mitarbeiter von Kadyrow begangen würden, trotz der Anordnung von Kadyrow.“ (EASO, September 2014, S. 23-24)

Die russische kremlkritische Zeitung Nowaja Gasjeta erwähnt in einem im April 2015 veröffentlichten Artikel der Journalistin Jelena Milaschina über die (zu diesem Zeitpunkt noch nicht durchgeführte) Heirat einer Minderjährigen mit einem Vertreter des tschetschenischen Sicherheitsapparates, dass die Braut nicht entführt worden sei. Der Mann habe Kontrollposten um das ganze Dorf errichten lassen, damit die Eltern, die sich strikt geweigert hätten, ihre Tochter mit ihm zu verheiraten, sie nicht hätten wegbringen können. Außerdem habe der Mann den Eltern des Mädchens ein Ultimatum gestellt, sie sollten das Mädchen am 2. Mai 2015 freiwillig hergeben, ansonsten hole er sie sich mit Gewalt und verschone die Familie nicht:

Ко мне за помощью обратились односельчане 17-летней Хеды Гойлабиевой, жительницы села Байтарки Ножай-Юртовского района. 57-летний начальник местного РОВД [Районное Отделение Внутренних Дел] Нажуд Гучигов захотел на ней жениться. Красть невесту он не стал. Вместо этого выставил посты по всему селу, чтобы родители, наотрез отказавшиеся выдавать дочь за человека, которому она годится во внучки, не увезли ее подальше от престарелого жениха. Начальник РОВД Гучигов поставил родителям девушки ультиматум: выдать дочь добровольно 2 мая. Или он заберет девушку силой, а семью не пощадит.“ (Nowaja Gasjeta, 20. April 2015)

Caucasian Knot, ein von der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial im Jahr 2001 gegründetes Nachrichtenportal, das über menschenrechtliche Themen im Kaukasus informiert, berichtet im Mai 2015, dass es nach Angaben örtlicher EinwohnerInnen in den letzten Jahren systematisch Fälle gegeben habe, in denen Beamte oder hochgestellte Personen aus dem Machtapparat verschiedene Hebel in Bewegung gesetzt hätten, um zwecks Eheschließung auf Familien junger Mädchen Druck auszuüben. Der Leiter einer örtlichen NGO habe Caucasian Knot gegenüber angegeben, dass üblicherweise eine Delegation aus einflussreichen Personen zum Vater der Braut oder zum Dorfältesten geschickt worden sei und dass die Frage der Eheschließung im Rahmen der tschetschenischen Bräuche und Traditionen gelöst worden sei. Die Meinung des Mädchens sei auf jeden Fall auch berücksichtigt worden. Im Fall der (zum damaligen Zeitpunkt noch nicht durchgeführten) Heirat einer Minderjährigen mit einem Vertreter des tschetschenischen Sicherheitsapparates sei es aber offensichtlich, dass ein Polizeichef seine Position und seinen Einfluss genutzt habe und die Familie öffentlich gezwungen habe, ihm ihre Tochter zu geben. Eine örtliche Einwohnerin habe angegeben, dass es in derartigen Situationen leicht sei, die Mädchen dazu zu überreden, einen alten Mann zu heiraten, da ihnen erklärt werde, dass davon das Leben und das Wohlergehen der ihnen nahestehenden Personen abhingen. Niemand denke daran, dass das Leben des Mädchens zerstört werde, dass sie früher oder später nach Hause zurückkehren müsse. Eine weitere Einwohnerin habe angemerkt, dass Mädchen immer öfter gewaltsam verheiratet würden, aber wenn die Männer sie satt hätten, würden sie nach Hause geschickt:

Неравные браки в Чечне действительно имеют место, однако в последние годы в республике систематически происходят случаи, когда чиновники или высокопоставленные силовики используют различные рычаги давления на семьи молодых девушек, заявили корреспонденту Кавказского узла местные жители.

К отцу невесты или старейшине обычно направляли делегацию из авторитетных людей, которые и решали этот вопрос в рамках чеченских обычаев и традиций. Мнение девушки тоже обязательно учитывалось. В данном же случае налицо тот факт, что начальник полиции, используя свое положение, свои связи и другие, фактически открыто вынуждает семью отдать за него девушку, которая годится ему во внучки, – рассказал на условиях анонимности руководитель одной из местных общественных организаций.

Ситуация вокруг девушки из села Байтарки привлекла большое внимание общественности, отметила жительница Ножай-Юртовского района Хава. По ее словам, в таких ситуациях молодых девушек легко уговорить выйти за пожилого человека, - им заявляют, что от этого зависят жизнь и благополучие близких.

То, что ломается жизнь девушки, что ей рано или поздно придется вернуться домой, никто не думает, - говорит Хава.

Сегодня в Чечне власти и муллы часто поднимают тему роста числа разводов, сказала корреспонденту Кавказского узла другая местная жительница Петимат. По ее мнению, девушек все еще часто насильно отдают замуж, а когда они надоедают мужьям, возвращают домой.(Caucasian Knot, 11. Mai 2015)

Die in Lettland ansässige russischsprachige Internetzeitung Medusa gibt in einem Artikel vom Mai 2015 in einer Bildunterschrift an, dass die berühmte tschetschenische Sängerin Cheda Chamsatowa einige Zeit als verschollen gegolten habe – kurz nachdem sie sich geweigert habe, einen hochgestellten Tschetschenen zu heiraten, so MenschenrechtlerInnen. Danach habe sie geplant, einen Armenier zu heiraten, aber die Hochzeit habe wegen einer Einmischung von Ramsan Kadyrow nicht stattgefunden. Bei einer Regierungssitzung habe er Folgendes erklärt: „Wir sind ihr nach Armenien nachgefahren und haben ihr gesagt, dass es eine Schande für eine Tschetschenin, und eine verdiente Künstlerin der Republik, ist, so einen „Verbrecher“ zu heiraten. Ich habe vielen das Versprechen gegeben, ihr hinterherzufahren. Ich habe die Erlaubnis der Eltern eingeholt und sie von dort weggeholt“:

Известная чеченская певица Хеда Хамзатова некоторое время числилась пропавшей без вести — вскоре после того, как, по словам правозащитников, отказалась выйти за высокопоставленного чеченца. Впоследствии она планировала выйти замуж за армянина, но свадьба не состоялась из-за вмешательства Рамзана Кадырова. На заседании правительства он заявил: Мы поехали за ней в Армению, сказав, что позор для чеченки, плюс заслуженной артистки республики — выходить за такой сброд! Я многим дал поручение, чтобы за ней поехали. Взял разрешение у ее родителей, и забрал ее оттуда.“ (Medusa, 13. Mai 2015)

In dem Artikel, der sich auf die (zum damaligen Zeitpunkt noch nicht durchgeführte) Heirat einer Minderjährigen mit einem Vertreter des tschetschenischen Sicherheitsapparates bezieht, wird auch Grigorij Schwedow, der Chefredakteur von Caucasian Knot zitiert. Dieser gibt an, dass junge Frauen in Tschetschenien ziemlich schutzlos seien, wenn sie keine Vertreter des Machtapparats in der Familie hätten. Attraktiven Mädchen, die zu Familien ohne besondere Stellung gehören würden, würde besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Die tatsächlichen Interessen des Mädchens und die Existenz eines Freundes (im Sinne von Partner, Anm. ACCORD) seien keine ernstzunehmenden Faktoren. Wenn es um die Heirat „älterer“ Personen gehe und die Initiative von Personen ausgehe, die aus den Machtkreisen kämen, würde eine Weigerung erhebliche Ängste bei den Verwandten der Braut auslösen. Es sei bekannt, dass Personen aus dem Machtapparat absoluten Einfluss auf dem Gebiet Tschetscheniens hätten und zu Entführungen, dem Anzünden von Häusern usw. in der Lage seien. Es gebe Beispiele dafür, dass die Umgehung einer Hochzeit nur durch eine Flucht in eine andere Region möglich sei. Ein weiteres Problem in diesem Zusammenhang seien Scheidungen. Mädchen würden nicht nur unter Zwang verheiratet, sondern auch wieder nach Hause zurückgeschickt. Das Zurückschicken nach Hause in einer derart traditionellen Gesellschaft bleibe an dem Mädchen haften, unterstreiche ihre Rechtlosigkeit und mache eine spätere Heirat schwierig. Die Mädchen würden nach Hause geschickt, weil eine Zweit- oder eine Drittfrau nicht immer das sei, was Männer tatsächlich brauchen würden. Nach einer gewissen Zeit könnten sie das Interesse an ihnen verlieren:

Григорий Шведов

Главный редактор «Кавказского узла»

Молодые девушки в Чечне довольно беззащитны, если у них нет силовиков в семье. Привлекательные девушки, которые относятся к семьям, не занимающим особое положение, являются объектами особого внимания. Реальные интересы девушки и наличие молодого человека — не серьезный фактор.

В случаях, когда сватовство за пожилых людей происходит со стороны людей, обличенных властью, отказ, конечно, побуждает существенные страхи у родственников невесты. Известно, что силовики на территории Чечни обладают абсолютным влиянием и могут похитить, сжечь дом и так далее. […]

Есть примеры, когда избежать свадьбы можно, только сбежав в другой регион.

Другая проблема, с этим связанная — это разводы. Девушек не только насильно отдают замуж, но и возвращают домой. Возвращение домой в таком традиционном обществе на всю жизнь накладывает отпечаток на девушку, подчеркивает уровень ее бесправности, выйти замуж потом бывает затруднительно. Возвращают, потому что вторая или третья жена — не всегда то, что по-настоящему мужчине нужно. Через некоторое время он может потерять к ней интерес.“ (Medusa, 13. Mai 2015)

Die russische Tageszeitung Moskowskij Komsomoljez (MK) befragt in einem Artikel vom Mai 2015 einer Person, die als englische Juristin mit dem Namen Margret Satterwait [Es ist nicht klar, ob es sich dabei um die Juristin Margaret Satterthwaite handelt, Anm. ACCORD] bezeichnet wird, zur (zum damaligen Zeitpunkt noch nicht durchgeführten) Heirat einer Minderjährigen mit einem Vertreter des Sicherheitsapparates. Die Juristin gibt an, dass für sie diese Situation nichts Verwunderliches sei. Derartiges komme in Tschetschenien und Dagestan ständig vor, nur früher habe man darüber geschwiegen. In den letzten Jahren sei die Anzahl der Vergewaltigungen in diesen Republiken nicht zurückgegangen, und sie spreche dabei nicht vom sogenannten Brautraub, sondern von realen Verbrechen. Günstlinge, Personen, die den örtlichen Führungen nahestehen würden und Polizeichefs hätten keine Angst, sich Mädchen, die ihnen gefallen würden, auszusuchen, wegzubringen, mit ihnen zu tun, was ihnen einfalle, und sie dann „wegzuwerfen“. Auf die Frage der Zeitung nach dem von Ramsan Kadyrow ausgesprochenen Verbot von Vielehe und Zwangsehe antwortet die Juristin, dass das alles nur Worte seien. Die enge Umgebung von Kadyrow könne nach wie vor alles tun. Und es würde sich niemand darüber beschweren, weil die Leute Angst hätten. Angst um sich selbst, um die Töchter, wenn diese nach dem Missbrauch unversehrt [vermutlich im Sinne von: noch am Leben] seien, und um die Verwandten, an denen man ebenfalls Rache nehmen könne:

Из-за начавшейся шумихи свадьба пока что так и не состоялась. Но в любом случае – что ждет Луизу дальше? Все-таки неравный брак или участь наложницы? Или печать порченой, на которую никто из-за дурной славы больше не позарится, и судьба старой девы? И сколько таких вот кавказских пленниц реально живет сейчас на положении вторых жен в южных республиках?

Свое мнение по этому поводу МК попросил высказать англичанку Маргрет Саттеруэйт. Международный юрист, она долго работала в зонах вооруженных конфликтов, в том числе и на Кавказе, готовила экспертные заключения для трибунала в Боснии. […]

- Маргрет, что вы можете сказать по поводу этой насильственной свадьбы - фактически принуждению несовершеннолетней девочки к сожительству?

- Но я не вижу в этой ситуации ничего удивительного. Такое сегодня происходит сплошь и рядом: и в Чечне, и в Дагестане. Просто раньше об этом молчали. Но за последние годы изнасилований в этих республиках меньше не стало. Я говорю не о так называемых похищениях невест, а о реальных преступлениях. Фавориты, приближенные к руководству региона, сотрудники местных правоохранительных органов, главы полиции — они не боятся выбирать понравившихся девчонок и увозить их, куда вздумается, делать с ними все, что угодно, а затем выбрасывать...

- Но как же Кадыров и его запрет на многоженство и браки по принуждению?

- Это все слова. Близкое окружение по-прежнему может делать все, что угодно. И никто не пожалуется — люди боятся. За себя, за дочек, если те остались целы после надругательств, за родных, которым могут тоже отомстить...“ (MK, 14. Mai 2015)

Die Online-Ausgabe der österreichischen Tageszeitung Die Presse berichtet im Mai 2015 Folgendes:

„Der russische Fernsehsender Lifenews nannte es schließlich die ‚Hochzeit des Jahrhunderts‘ und berichtete live von den Feierlichkeiten in Tschetschenien am Samstag. Kurz vor dem Jawort stellte die Moderatorin der 17-jährigen Luisa G. die Frage, die den letzten Zweifler überzeugen sollte: ‚Sag uns, bist du einverstanden mit dieser Ehe?‘ Luisa, in Weiß und Schleier, antwortete mit gesenktem Haupt: ‚Ja, ich bin einverstanden.‘– ‚Bist du glücklich?‘ – ‚Ja, ich bin glücklich.‘ Wer mag schon etwas gegen glückliche Eheleute einwenden, selbst wenn ihre Hochzeit gegen das russische Recht verstößt? […]

Auch im Fall der umstrittenen Eheschließung sieht es so aus, als wolle Kadyrow dem Moskauer Zentrum und der russischen Öffentlichkeit beweisen, was in seiner Republik alles möglich ist – wenn er nur will. Denn die Minderjährige ehelichte am Wochenende nicht nur einen um viele Jahre älteren Mann, was sie eigentlich erst mit 18 dürfte. Luisa G. hat außerdem einen Mann geheiratet, der bereits verheiratet ist und Kinder hat. Polygamie, wiewohl es in Tschetschenien polygame Traditionen gibt, ist per Gesetz verboten. Nichtsdestoweniger unterschrieb das Paar eine Heiratsurkunde. Nun spielt freilich eine Rolle, wer der bereits ergraute Gatte ist: Naschud Gutschigow, 46, ist Polizeichef des Bezirks Noschaj-Jurt. Auf einem Foto, das im Internet kursiert, ist er in brüderlicher Umarmung mit Kadyrow zu sehen.

Kadyrow hat sich in der Vergangenheit durchaus positiv auf die Mehrehe bezogen. In Tschetschenien hat sich in den letzten Jahren die Tendenz verstärkt, dass Männer – so sie es sich leisten können – mehrere Frauen durch islamische Ehen haben. Hochzeiten im Nordkaukasus finden nur in seltenen Fällen ohne die Mitsprache vieler statt. Doch im Fall der 17-Jährigen scheint der Zwang von außen eine besonders große Rolle zu spielen. Laut Berichten der ‚Nowaja Gazeta‘ habe Gutschigow die Hochzeit erzwingen wollen. Er habe die Eltern des Mädchens unter Druck gesetzt und ihnen ein Ultimatum gestellt. Schließlich hat Kadyrow einen ‚Vermittler‘ zur Familie G. geschickt, die daraufhin der Ehe zugestimmt haben soll. Kadyrow selbst ist auf der Hochzeit aufgetaucht und hat dort getanzt, wie er es gern vor Publikum macht, eine Lesginka, einen kaukasischen Tanz.“ (Die Presse, 18. Mai 2015)

Russia Beyond The Headlines (RBTH), ein Medium, das vom Verlag der Rossijskaja Gasjeta, dem offiziellen Amtsblatt der russischen Regierung, unterstützt wird und in verschiedenen Sprachen als Supplement erscheint, schreibt in einem Artikel vom Juni 2015 Folgendes:

„Ende Mai sorgte die Geschichte der 17-jährigen Luisa Gojlabiewa in den russischen Medien für Aufsehen. Sie soll mit einem 46-jährigen, bereits verheirateten Oberst des tschetschenischen Innenministeriums zwangsverheiratet worden sein. Unter vielen Russen war die Aufregung groß. Öl ins Feuer goss Tschetscheniens Oberhaupt Ramsan Kadyrow, der die Eheschließung absegnete, und der russische Kinderschutzbeauftragte Pawel Astachow, der ungeachtet aller Appelle der Journalisten darauf verzichtete, in der Angelegenheit einzugreifen, und zudem erklärte, niemand könne gegen den eigenen Willen verteidigt werden.

Traditionen treffen auf Religion

Menschenrechtler stellen immer wieder fest, dass es in einigen kaukasischen Republiken um die Frauenrechte zunehmend schlechter bestellt ist. Nach Einschätzung Ekaterina Sokirjanskajas von der Internationalen Krisengruppe sind beispielsweise Zwangsehen auf tschetschenischem Boden eine neue Erscheinung, die nicht nur mit Tradition zu erklären sei: ‚Für tschetschenische Familien war es eine Schande, eine Frau zu einer Heirat zu zwingen. Jetzt aber – das stellen lokale Aktivisten fest – nutzen Sicherheits- und Staatsbeamte ihre Positionen aus‘, erklärt die Menschenrechtlerin.“ (RBTH, 22. Juni 2015)

Das US-Außenministerium (US Department of State, USDOS) bemerkt in seinem im Juni 2015 veröffentlichten Länderbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2014, dass Frauen in einigen Teilen des Nordkaukasus weiterhin von Zwangsheirat sowie Brautraub betroffen seien. Es würden Berichte darüber vorliegen, dass Männer in einigen Teilen des Nordkaukasus unter dem Vorwand, dass Brautraub eine alte örtliche Sitte darstelle, junge Frauen entführt und vergewaltigt hätten. In einigen dieser Fälle hätten sie die Frauen gezwungen, eine Ehe mit ihnen einzugehen:

„In some parts of the North Caucasus, women continued to face bride kidnapping, polygyny, forced marriage (including child marriage), legal discrimination, and enforced adherence to Islamic dress codes. […] There were cases in some parts of the North Caucasus where men, claiming that kidnapping brides is an ancient local tradition, reportedly abducted and raped young women, in some cases forcing them into marriage.“ (USDOS, 25. Juni 2015, Section 6)

Die International Crisis Group (ICG), eine unabhängige, nicht profitorientierte Nicht-Regierungsorganisation, die mittels Informationen und Analysen gewaltsame Konflikte verhindern und lösen will, erwähnt in einem im Juni 2015 veröffentlichen Bericht, dass viele Familien sich nicht gegen des Druck wehren könnten, der von einflussreichen Personen im Sicherheitssektor oder von Personen mit guten Verbindungen ausgeübt werde, wenn diese minderjährige Mädchen als Zweitfrauen nehmen wollten:

„Ramzan’s efforts to enforce tradition and morality affect women more than men. He has described women as a husband’s property, whose main role is to bear children. A polygamy advocate, he says it is ‚better to be a second or third wife, than be killed … we have very harsh customs … if a young or divorced woman has relations, her brother would kill her and the man she was with‘. Though he bans underage marriage and bridal abduction, a recent scandal involving the 46–year-old (57, according to other reports) Nozhai-yurt region police chief suggests that many families cannot resist pressure from powerful security types or those with good connections who seek to take underage girls as second wives.“ (ICG, 26. Juni 2015, S. 33)

 

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Quellen: (Zugriff auf alle Quellen am 22. Oktober 2015)

·      ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation: Frauen in Tschetschenien - Bericht zum COI-Workshop vom 17. Februar in Wien mit Vorträgen von Uwe Halbach und Swetlana Gannuschkina, 4. Juli 2012 (verfügbar auf ecoi.net)
https://www.ecoi.net/file_upload/90_1341385356_accord-bericht-coi-workshop-frauen-in-tschetschenien-2012-07-04.pdf

·      Caucasian Knot: Даудов Магомед Хожахмедович [Daudow Magomed Choschachmedowitsch], 11. März 2010
http://www.kavkaz-uzel.ru/articles/166438/

·      Caucasian Knot: Жители Чечни заявили о давлении на семьи девушек при заключении браков [Einwohner Tschetscheniens berichten von Druckausübung auf Familien der Mädchen bei Eheschließungen], 11. Mai 2015
http://www.kavkaz-uzel.ru/articles/262088/

·      Die Presse: Tschetschenien: Kadyrow ermöglicht Zweitehe mit Minderjähriger, 18. Mai 2015
http://diepresse.com/home/panorama/welt/4734176/Tschetschenien_Kadyrow-ermoglicht-Zweitehe-mit-Minderjaehriger

·      EASO - European Asylum Support Office: Chechnya: Women, Marriage, Divorce and Child Custody, September 2014 (verfügbar auf ecoi.net)
https://www.ecoi.net/file_upload/1830_1421055069_bz0414843den-pdf-web.pdf

·      FT - Financial Times: The Grozny warlord reminding Moscow who is boss, 25. April 2015
http://www.ft.com/cms/s/0/e6a4accc-ea4d-11e4-a701-00144feab7de.html#axzz3pHxjV7DR

·      ICG - International Crisis Group: Chechnya: The Inner Abroad, 26. Juni 2015 (verfügbar auf ecoi.net)
https://www.ecoi.net/file_upload/1226_1435827871_236-chechnya-the-inner-abroad.pdf

·      Medusa: «Конечно, по закону запрещено, но по шариату можно» Специалисты по Кавказу — о том, часто ли женятся на несовершеннолетних в Чечне [Natürlich ist es laut Gesetz verboten, aber gemäß der Scharia möglich. Kaukasus-Spezialisten darüber, ob in Tschetschenien oft Minderjährige geheiratet werden], 13. Mai 2015
https://meduza.io/feature/2015/05/13/konechno-po-zakonu-zaprescheno-no-po-shariatu-mozhno

·      Memorial / Komitee Bürgerbeteiligung: Tschetschenen in Russland, 2011
http://old.refugee.ru/Articles/2011_11_07_doklad_de_01.pdf

·      Memorial: Chechnya: Fighting For Women’s Moral Look Is Becoming More and More Severe, 23. März 2012
http://www.memo.ru/eng/news/2012/03/23/2303121.htm

·      MK - Moskowskij Komsomoljez: Похищения девушек в Чечне были и после запрета Кадырова [Entführungen von Mädchen gab es auch nach dem Verbot von Kadyrow], 14. Mai 2015
http://www.mk.ru/social/2015/05/14/pokhishheniya-devushek-v-chechne-byli-i-posle-zapreta-kadyrova.html

·      Nowaja Gasjeta: Сигналы от Лорда [Signale von Lord], 30. Juni 2014
http://www.novayagazeta.ru/inquests/64211.html

·      Nowaja Gasjeta: Глава чеченского РОВД захотел жениться: требуется помощь [Der Leiter der Abteilung des Innenministeriums des Rajons will heiraten: Wir brauchen Hilfe], 20. April 2015
http://www.novayagazeta.ru/columns/68304.html

·      RBTH - Russia Beyond The Headlines: Frauenrechte im Kaukasus: Zwangsverheiratung und Ehrenmord, 22. Juni 2015
http://de.rbth.com/gesellschaft/2015/06/22/frauenrechte_im_kaukasus_zwangsverheiratung_und_ehrenmord_34063

·      RFE/RL – Radio Free Europe/Radio Liberty: Former Insurgent Elected Chechen Parliament Speaker, 5. Juli 2015
http://www.rferl.org/content/chechnya-daudov-parliament-speaker/27110868.html

·      Spiegel Online: Fluchtwelle aus Tschetschenien: "Kadyrow ist ein Sadist", 6. September 2013
http://www.spiegel.de/politik/ausland/tschetscheniens-machthaber-kadyrow-sein-regime-ist-grausam-a-920274.html

·      USDOS - US Department of State: Country Report on Human Rights Practices 2014 - Russia, 25. Juni 2015 (verfügbar auf ecoi.net)
http://www.ecoi.net/local_link/306252/443524_de.html