Document #1273294
ACCORD – Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (Author)
3. Juli 2014
Das vorliegende Dokument beruht auf einer zeitlich begrenzten Recherche in öffentlich zugänglichen Dokumenten, die ACCORD derzeit zur Verfügung stehen, und wurde in Übereinstimmung mit den Standards von ACCORD und den Common EU Guidelines for processing Country of Origin Information (COI) erstellt.
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Ludwig W. Adamec, emeritierter Professor der University of Arizona, schreibt in seinem im Jahr 2012 erschienenen historischen Wörterbuch zu Afghanistan (vierte Auflage), dass es sich bei den Shinwari um Paschtunen handle, die im 16. Jahrhundert in das Gebiet Nangarhar eingewandert seien:
„The Shinwaris are Pashtuns who migrated in the 16th century into the area of Nangarhar.” (Adamec, 2012, S. 396)
Auf der Website Afghan Bios, als deren Betreiber Bruns V. Erek in Hannover, Deutschland, angegeben wird, und die Daten aus internationalen Medien, Internet-Recherchen und persönlichen Kontakten sammelt, findet sich ein Eintrag vom März 2011 zum Stamm der Shinwari. Die Shinwari seien ein paschtunischer Stamm, der im Westen Pakistans und im Osten Afghanistans angesiedelt sei. Im Osten Afghanistan belaufe sich die Zahl der Shinwari auf 400.000. Neben einer großen Anzahl an Shinwari in der Provinz Nangarhar, gebe es auch einige in der Provinz Kunar und im Norden Afghanistans:
„The Shinwari are an ethnic Pashtun tribe of western Pakistan and eastern Afghanistan. In eastern Afghanistan are living 400.000 Shinwaris. […] A major portion of the Shinwari tribe is settled in the areas between Landi Kotal (Pakistan) and Jalalabad (Afghanistan). These Shinwaris are mostly traders and businessmen. And the large number of Shinwari are settled in Nangahar province of Afghanistan some of them are settled in Kunar province of Afghanistan and some in north of Afghanistan (kelegi) a district.” (Afghan Bios, 25. März 2011)
Dr. Noah Coburn, ein Anthropologe am US-amerikanischen Bennington College, der unter anderem Feldforschung in Afghanistan durchgeführt hat, antwortet in einer E-Mail vom 20. Juni 2014 auf die an ihn weitergeleiteten Fragen zu den traditionellen Ehegesetzen der Shinwari und den Konsequenzen für Personen, die sich diesen widersetzen. Laut Coburn handle es sich dabei nicht um einfache Fragen, da es ein großes Maß an lokalen Abweichungen gebe, selbst innerhalb des Stammes der Shinwari. Zwar habe er einige Zeit im Siedlungsgebiet der Shinwari verbracht, allerdings kenne er die Region nicht so gut wie manch andere Gebiete in Afghanistan. (Coburn, 20. Juni 2014)
Informationen zu den traditionellen Eheschließungsgesetzen/-regeln des Stammes der Shinwari
Wie Dr. Noah Coburn in seiner E-Mail vom 20. Juni 2014 anführt, hätten die Shinwari eigene Stammesgesetze bezüglich Eheschließungen. Allerdings seien diese ortsgebunden und deshalb nicht für alle Shinwari gleich. Laut Coburn könne es vorkommen, dass die Stammesgesetze von den im Paschtunwali enthaltenen Prinzipien abweichen. (Coburn, 20. Juni 2014)
Brent E. Turvey, ein US-amerikanischer Kriminaltechniker und Fallanalytiker, schreibt in einem im Jahr 2014 veröffentlichten Buch zu Gewaltverbrechen, dass es sich bei den Shinwari um einen zutiefst konservativen Stamm im Osten Afghanistan handle. Im Jahr 2014 hätten Stammesälteste der Shinwari aus verschiedenen Distrikten einen Beschluss unterzeichnet, durch den mehrere für Mädchen und Frauen schädliche Praktiken verboten worden seien. Darunter sei auch ein Verbot einer Praxis zur Beilegung von Blutfehden, bei der ein Mann, der einen Mord begehe, seine Tochter oder Schwester einem Mann der geschädigten Familie als Braut zur Verfügung stellen müsse:
„There are also signs of change for the better inside the largest tribe in eastern Afghanistan – the deeply conservative Shinwaris. Shinwari [tribal] elders from several districts signed a resolution this year outlawing several practices that harm girls and women. These included a ban on using girls to settle so-called blood feuds – when a man commits murder, he must hand over his daughter or sister as a bride for a man in the victim’s family. The marriage ostensibly ‚mixes blood to end the bloodshed.’ Otherwise, revenge killings often continue between the families for generations…” (Turvey, 2014, S. 6)
Das norwegische Herkunftsländerinformationszentrum Landinfo geht in einem Bericht vom Mai 2011 auf „baad“-Eheschließungen ein, bei denen es sich um Abmachungen handle, die getroffen würden, wenn eine Familie, ein Clan oder ein Stamm die Verantwortung für die Entschädigung eines Opfers eines Verbrechens übernehme. Bei dieser Praxis werde der Familie/Gruppe des Opfers ein junges Mädchen als Braut übergeben. Bei den Shinwari in Nangarhar sei „baad“ keine mögliche Lösung, wenn ein Mord vorgefallen sei:
„Baad marriages are agreements concluded as a consequence of a family, a clan or a tribe acknowledging the responsibility to compensate the victim of a crime. It involves giving a young girl(s) to the victim’s family/group. The marriages are agreed with a view to solving/ending conflicts that may involve, or have developed into, a blood feud. […] AREU [Afghanistan Research and Evaluation Unit] also points out that this tradition is not practised among certain Pashtun tribes. For example, baad is not a possible solution to a murder case among the Shinwari in Nangarhar (Smith 2009b).” (Landinfo, 19. Mai 2011, S. 13)
Die an der Universität Peschawar ansässige Pashto Academy, eine Einrichtung zur Förderung der Paschtu-Sprache, erwähnt auf ihrer undatierten Website, dass es sich bei Frühverheiratungen um eine Tradition der Shinwari handle (Pashto Academy, ohne Datum).
In den ACCORD derzeit zur Verfügung stehenden Quellen konnten im Rahmen der zeitlich begrenzten Recherche keine weiteren Informationen zu oben genannter Fragestellung gefunden werden. Im Folgenden finden sich allgemeinere Informationen zu traditionellen Eheregeln bzw. Eheschließungstraditionen der Paschtunen. Einige Quellen nehmen auf das Paschtunwali, den Ehrenkodex der Paschtunen Bezug, weshalb auch Informationen zur Bedeutung und Anwendbarkeit dieses Kodex berücksichtigt werden.
Future Generations, eine internationale zivilgesellschaftliche Organisation, die laut eigenen Angaben gemeinschaftsgeführte Entwicklung in Partnerschaft mit den Regierungen fördert, führt in einem Bericht vom Dezember 2013 mit Bezug auf die Provinz Nangarhar an, dass die Provinz ethnisch von Paschtunen dominiert werde und der traditionelle paschtunische Ehrenkodex, das Paschtunwali, in sozialen und bürgerschaftlichen („civic“) Angelegenheiten von allen ethnischen Gruppen angewendet und respektiert werde:
„The province [of Nangarhar] has an approximate population of 1,261,900. Ethnically the province is dominated by Pashtuns, consisting of approximately 90% of the total population; a small number of Pashayes, Arabs, Tajik and ethnic minorities making up the remaining 10%. The primary language spoken is Pashtu with some of the ethnic minorities speaking Pashaye or Dari. The traditional Pashtun tribal code of honor – Pashtunwali – is both applied to, and respected by, all ethnic groups regarding social and civic affairs.” (Future Generations, Dezember 2013, S. 17)
Palwasha Kakar, derzeit als leitende Programmbeauftragte für Religion und Friedenssicherung am United States Institute of Peace (USIP), einer US-amerikanischen Bundeseinrichtung zur Erforschung und Verhinderung gewaltsamer Konflikte, tätig, schreibt in einem undatierten Bericht über das Paschtunwali, das dieses so wichtig für die Identität der Paschtunen sei, dass es keine Unterscheidung zwischen dem Praktizieren des Paschtunwali und dem Paschtunisch-Sein gebe.
Bei den Paschtunen kämen, auch wenn gesagt werde, dass die besten Eheschließungen, die zwischen Cousin und Cousine ersten Grades seien, Eheschließungen mit Angehörigen anderer Familien oft vor. Die Frauen würden die Brautsuche für ihre Söhne oder männlichen Familienangehörigen initiieren. Häufig, nachdem eine Empfehlung ausgesprochen worden sei, besuche die Matriarchin des Haushaltes das Haus der potentiellen Braut. Wenn jeder, der zu diesem Zeitpunkt involviert sei, einverstanden sei, werde die Heirat zuerst mit den Frauen des Haushaltes der potentiellen Braut und anschließend mit den Männern besprochen. Obwohl es üblicherweise die Frauen seien, die eine geeignete Braut aussuchen würden, sei es nicht ungewöhnlich, dass das männliche Familienoberhaupt eine Entscheidung treffe, um durch die Eheschließung seinen Einfluss erweitern zu können. Weder die Braut noch der Bräutigam sei in weite Teile des Prozesses unmittelbar involviert, es sei denn, beim Bräutigam handle es sich um einen autonomen Haushaltsvorstand oder die Braut sei eine Witwe. Für gewöhnlich seien es die Ältesten und Haushaltsvorstände, und oftmals die Matriarchin, die die Entscheidung treffen würden:
„Pashtunwali is so essential to the identity of the Pashtun that there is no distinction between practicing Pashtunwali and being Pashtun.” (Kakar, ohne Datum, S. 2)
„Among Pashtuns, though it is said that the best marriages are those between first cousins, marriage into other families does happen at a high rate. The women initiate the search for the sons or male relatives of their families. Often, after a recommendation has been made, the matriarch of the household will visit the woman’s house. If everyone involved at this point is in agreement, the matter is broached first with the women of that household and then with the men. Though it is usually women who find a suitable wife and a suitable member to join their household network, it is not uncommon for the male leader of the family to make a decision on his own and for his own political gain. Neither the bride nor the groom is directly involved in much of the process, unless the groom is the autonomous head of his household or the woman is a widow. It is usually the elders and leaders of the household who make the decision, and often the matriarch.” (Kakar, ohne Datum, S. 9)
Lutz Rzehak, Privatdozent am Zentralasien-Seminar des Instituts für Asien- und Afrikawissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin, schreibt in einem im März 2011 veröffentlichten Bericht über das Paschtunwali, dass die afghanische Gesellschaft, darunter auch die paschtunische Gesellschaft, in den letzten Jahrzehnten einen tiefgreifenden Wandel erlebt habe. Infolgedessen würden die Ideale des Paschtunwali mit anderen Wertesystemen, die an Einfluss gewonnen hätten, wettstreiten. Die Frage, wie wichtig das Paschtunwali in Afghanistan noch sei, könne nicht allgemein beantwortet werden. Es hänge von jeder einzelnen Situation ab, durch welche Werte das Verhalten einer Einzelperson oder einer Gruppe gesteuert werde. Allerdings bestehe kein Zweifel daran, dass die Ideale des Paschtunwali weiterhin eine attraktive und manchmal bindende Option darstellen würden.
Rzehak führt weiters an, dass die Stellung der Frau im Paschtunwali vor allem durch das Konzept der patrilinearen Abstammung und der deutlichen Unterscheidung zwischen Verwandtschaft durch Abstammung und Verwandtschaft durch Heirat bestimmt werde. Dies erkläre unter anderem, warum viele Paschtunen patrilineare Eheschließungen bevorzugen würden und Eheschließungen oftmals als patrilineare Kreuzcousinenheiraten arrangiert würden. Das Konzept der patrilinearen Abstammung könne auch Leviratsehen erklären, bei denen der Bruder eines verstorbenen Mannes verpflichtet sei, die Witwe seines Bruders zu heiraten. Die Witwe sei ihrerseits verpflichtet, den Bruder ihres verstorbenen Mannes zu heiraten:
„It is important to stress that the society of Afghanistan, including Pashtun society, was subject to fundamental change in almost every respect during the last decades. As a result, today the ideals of Pashtunwali compete with other value systems that gained influence during that time. The question how important Pashtunwali still is in modern Afghanistan cannot be answered in a general way. […] It depends on every particular situation by which values the behaviour of individuals or groups is guided, but there is no doubt that among the competing value systems the ideals of Pashtunwali still continue to present an attractive and sometimes binding option today.” (Rzehak, 21. März 2011, S. 2)
„In the concept of Pashtunwali, the position of women is mainly defined by the idea of patrilineal descent and by the clear distinction which is made between relationship by descent (khpəlwali) and relationship by marriage (kheșhi). This explains why the birth of a son and the birth of a daughter cause different feelings, why women are excluded from the division of the estate, why many Pashtuns prefer marriages inside the patrilineage, why the transfer of money and goods is compulsory for marriages, and why marriages are often arranged as patrilineal cross-cousin marriages. The idea of patrilineal descent can also explain levirate-marriages according to which the brother of a deceased man is obligated to marry his brother’s widow, and the widow is obligated to marry her deceased husband’s brother. Levirate-marriages are also a question of nāmus [can be translated as ‚honour’, ‚reputation’, ‚esteem’, ‚conscience’, and ‚chasteness’]. They serve as protection for the widow and her children, ensuring not only that they have a male provider responsible for them, but that the children remain in the responsibility of their father’s patrilineage.” (Rzehak, 21. März 2011, S. 10)
Military Corps Intelligence Activity (MCIA), der Militärnachrichtendienst des United States Marine Corps, Public Intelligence, schreibt in einem undatierten Bericht über Paschtunen in Afghanistan, dass Dating in Afghanistan unbekannt sei. Eheschließungen würden arrangiert oder ausgehandelt, in den meisten Fällen durch die weiblichen Familienmitglieder. Es werde bevorzugt, eine(n) PartnerIn unter den Cousins/Cousinen ersten Grades zu suchen, und falls das nicht möglich sei, eine(n) PartnerIn, mit dem/der die Stammessolidarität aufrechterhalten werden könne:
„Dating is an unknown institution in Afghanistan. […] Marriages are arranged or negotiated, mainly by the female family members. It is preferred to find a mate from among one’s first cousins, or if this is not feasible, to seek to choose a mate that would maintain tribal solidarity.” (MCIA, ohne Datum, S. 27)
Der weiter oben zitiert Bericht von Landinfo enthält detaillierte Informationen zu mit der Eheschließung in Afghanistan verbundenen Traditionen und Praktiken. Der Bericht merkt allerdings an, dass die verschiedenen ethnischen Gruppen in Afghanistan verschiedene Traditionen hinsichtlich der Einigung auf eine Heirat und der Eheschließung hätten. Außerdem würden diese Traditionen innerhalb der Gruppen nicht einheitlich praktiziert und es könne zu großen lokalen Abweichungen kommen (Landinfo, 19. Mai 2011, S. 5). Der vollständige Bericht ist unter folgendem Link verfügbar:
· Landinfo - Norwegian Country of Origin Information Centre: Afghanistan: Marriage Report Afghanistan, 19. Mai 2011 (verfügbar auf ecoi.net)
http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1337002361_1852-1.pdf
Folgen für Paare, die sich den Eheregeln der Shinwari widersetzen
Auf die Frage, mit welchen Konsequenzen Paare rechnen müssten, die sich den Heiratsregeln der Shinwari widersetzen würden, antwortet Dr. Noah Coburn in seiner E-Mail vom 20. Juni 2014, dass die Konsequenzen sehr hart sein könnten. Oftmals, wenn die Gemeinschaft die Familie unterstütze, würde der Zwist ignoriert und die Konsequenzen könnten minimal ausfallen. Wenn sich der Zwist allerdings mit anderen Streitigkeiten überschneide, insbesondere Ehebruch, Weglaufen von zu Hause, usw., könne die Todesstrafe in Betracht gezogen werden. Dies seien jedoch die extremeren Fälle:
„The consequences could be very sever. Often times if the community supports the family, discord will be ignored and the consequences could be minimal. If, however, it overlaps with other disputes in particular, adultery, running away from home etc, could all be considered punishable by death. Again, those are in the more extreme cases.“ (Coburn, 20. Juni 2014)
In den ACCORD derzeit zur Verfügung stehenden Quellen konnten im Rahmen der zeitlich begrenzten Recherche keine weiteren Informationen zu oben genannter Fragestellung gefunden werden. Im Folgenden finden sich allgemeinere Informationen zu Konsequenzen für Personen, die gegen Ehetraditionen verstoßen bzw. Informationen zu Konsequenzen für Personen, denen vor- oder außerehelicher Geschlechtsverkehr bzw. eine vor- oder außereheliche Beziehung vorgeworfen wird.
In seinem Bericht vom Mai 2011 geht Landinfo unter anderem auf die Frage ein, wie die Reaktionen auf Ehen ausfallen könnten, die ohne die Zustimmung der Familie geschlossen wurden. Laut Landinfo komme es vor, dass Paare die Ehepartnerwahl ihrer Familien missachten würden, obwohl es wirkungsmächtige kulturelle Codes und im Falle eines Verstoßes gegen Ehetraditionen nur wenige Möglichkeiten für eine faire Behandlung oder echten Schutz gebe. Solche Eheschließungen, bei denen die Entscheidungen der Familien missachtet würden, würden oftmals als Liebesheiraten bezeichnet. Soweit Landinfo bekannt sei, sei die Berichterstattung über Liebesheiraten anekdotisch. Es sei sehr wahrscheinlich, dass die Verbreitung („scope“) solcher Beziehungen eher begrenzt sei.
Paare, die sich ihren Familien entgegenstellen und gegen Ehetraditionen verstoßen würden, indem sie eine unabhängige Entscheidung bei der Ehepartnerwahl treffen würden, seien in der Regel nicht in der Lage, sich in ihrem lokalen Umfeld niederzulassen und müssten ihre Familien und ihr zu Hause verlassen. Laut Angaben des Anthropologen Thomas Barfield komme es häufig vor, dass das betreffende Paar aus der Region fliehe und anderswo Zuflucht suche, da vom Vater und den Brüder der Frau erwartet werde, dass sie das Paar töten.
Landinfo führt weiters an, dass viele Ehetraditionen in Afghanistan gegen die Rechte von Frauen verstoßen würden. Bei einer unabhängigen Wahl des Ehepartners entgegen den Wünschen der Familie könnten auch Männer mit strengen Sanktionen konfrontiert werden. Nichtsdestotrotz seien einigen Quellen zufolge Frauen in solchen Fällen gefährdeter:
„Despite strong cultural codes and few opportunities for fair treatment or real protection in the event of violations of marriage traditions, it nevertheless occurs that couples defy their respective families’ decisions on choice of a spouse. Such marriages are often referred to as love marriages. In the strictly gender-segregated Afghan society there are very few or no arenas where young men and women can meet and develop intimate relationships. Girls who have entered/reached puberty are zealously protected from contact with males not belonging to their families. The reporting of love marriages, as far as Landinfo is aware, can be described as anecdotal, and the scope of such relationships is most likely rather limited.
Couples who confront their families and break marriage traditions by making an independent choice of spouse, will normally be unable to settle in their local environment and will have to leave their families and homes. As Thomas Barfield points out: ‚Because her father and brothers are then expected to kill them, the couple often flees the area and seeks sanctuary (nanawati) elsewhere’ (Barfield 2003).
[…] In general, various marriage traditions in Afghanistan primarily tend to violate women’s rights. Concerning an independent choice of spouse against the wishes of the family, men may also be exposed to severe sanctions. Some sources argue that women are, nevertheless, more vulnerable in these cases.” (Landinfo, 19. Mai 2011, S. 16-17)
Das Danish Immigration Service (DIS) schreibt in einem im Mai 2012 veröffentlichten Bericht zu einer Fact-Finding-Mission nach Kabul im März 2012, dass nach Angaben des afghanischen Ministeriums für Frauenangelegenheiten junge Männer und Frauen, die gesellschaftliche Normen bezüglich der Ehe brechen würden, darunter auch Personen, die eine Zwangsehe ablehnen würden, mit großen Problemen in Afghanistan konfrontiert seien. Nach Angaben des Ministeriums würden junge Frauen und Männer von zu Hause weglaufen, um Zwangsehen zu vermeiden, was laut Gesetz kein Verbrechen sei. Dennoch würden viele junge Frauen und Männer, die von zu Hause weggelaufen seien, ins Gefängnis kommen:
„MOWA [Ministry of Women’s Affairs] stated that young men and women, who are breaking social norms with regard to marriage, including rejecting a forced marriage, are facing huge problems in Afghanistan. Among the cases of violence against women which have been reported to MOWA from provinces in the first three quarters of Afghan year 1390 (2011‐2012), 131 are cases related to forced marriages. MOWA explained that to avoid a forced marriage young men and women run away from home. MoWA stated that according to the law, it is not a crime to run away from home, but many young males and 4/5 females who run away from their homes end up in prison. MWA has launched a campaign to raise awareness about this issue.“ (DIS, 29. Mai 2012, S. 35)
In seinem undatierten Bericht über Paschtunen in Afghanistan schreibt Military Corps Intelligence Activity (MCIA), dass vor- oder außerehelicher Geschlechtsverkehr mit dem Tod bestraft werden könne:
„Pre-marital or extra-marital sex can be punishable by death.” (MCIA, ohne Datum, S. 27)
Der weiter oben bereits angeführte Landinfo-Bericht vom Mai 2011 zitiert die International Legal Foundation, eine NGO, die laut eigenen Angaben Transitionsländer bei der Einrichtung eines Pflichtverteidiger-Systems unterstützt und unter anderem ein Büro in Afghanistan unterhält. Die International Legal Foundation sei der Meinung, dass außereheliche Beziehungen bei allen ethnischen Gruppen ein sehr sensibles Thema sei, Paschtunen allerdings eine restriktivere Haltung haben könnten als andere Gruppen:
„The International Legal Foundation considers extra-marital affairs to be a highly sensitive topic in all the ethnic groups, but argue that Pashtuns may have a more restrictive view than the other groups.” (Landinfo, 19. Mai 2011, S. 19)
Weitere Informationen zu Folgen für Paare, die gegen den Willen der Familie heiraten bzw. zu Konsequenzen für Personen, denen vor- oder außerehelicher Geschlechtsverkehr bzw. eine vor- oder außereheliche Beziehung vorgeworfen wird, finden sich in folgenden älteren ACCORD-Anfragebeantwortungen:
· ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation: Anfragebeantwortung zu Afghanistan: 1) Bedrohung eines Mannes, der eine Frau gegen den Willen ihrer Familie heiratete, durch die Brüder bzw. den Vater der Frau; 2) Schutz durch Behörden im Raum Kabul [a-7223], 22. April 2010 (siehe Kopie im Anhang)
· ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation: Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Sanktionen des Pashtunwali bei einer vorehelichen sexuellen Beziehung und Heirat ohne Zustimmung des Brautvaters; Zugang zu polizeilichem Schutz [a-7532], 5. April 2011 (verfügbar auf ecoi.net)
http://www.ecoi.net/file_upload/response_de_159879.html
· ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation: Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Sanktionen gegen unverheiratetes Paar, das untertaucht (Rolle von Volkszugehörigkeit und Religion?); Sanktionen gegen Familienangehörige des Mannes [a-8230], 27. Dezember 2012 (verfügbar auf ecoi.net)
http://www.ecoi.net/local_link/236654/361931_de.html
Folgen für Personen, die solche Paare unterstützen
In seiner E-Mail vom 20. Juni 2014 antwortet Dr. Noah Coburn auf die Frage, mit welchen Konsequenzen Personen rechnen müssten, die Paare unterstützen, welche sich den Stammesgesetzen der Shinwari bezüglich Eheschließungen widersetzen, und verweist zunächst auf seine Antwort auf die vorhergehende Frage (Konsequenzen für Paare, die sich den Regeln der Shinwari bezüglich Eheschließungen widersetzen). Wenn der Fall jedoch mit anderen lokalen Problemen wie Streitigkeiten um Land oder Macht in Verbindung stehe, könnten die Konsequenzen bis hin zum Tod reichen. Allerdings wäre dies ein extremer Fall. Coburn glaube, dass eine Art Geldstrafe oder soziale Ächtung gängiger wäre. Trotzdem wäre es nicht undenkbar, dass jemand wegen eines solchen Vergehens getötet werde:
„See my answer above, but if this case is related to some other local issues, such as disputes over land or power, the consequences could be as sever as death, though this would be extreme. More typical I believe would be some type of fine or social ostracizing, but it would not be unheard of for someone to be killed for such offenses.” (Coburn, 20. Juni 2014)
In den ACCORD derzeit zur Verfügung stehenden Quellen konnten im Rahmen der zeitlich begrenzten Recherche keine weiteren Informationen zu oben genannter Fragestellung gefunden werden.
Quellen: (Zugriff auf alle Quellen am 3. Juli 2014)
· ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation: Anfragebeantwortung zu Afghanistan: 1) Bedrohung eines Mannes, der eine Frau gegen den Willen ihrer Familie heiratete, durch die Brüder bzw. den Vater der Frau; 2) Schutz durch Behörden im Raum Kabul [a-7223], 22. April 2010 (siehe Kopie im Anhang)
· ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation: Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Sanktionen des Pashtunwali bei einer vorehelichen sexuellen Beziehung und Heirat ohne Zustimmung des Brautvaters; Zugang zu polizeilichem Schutz [a-7532], 5. April 2011 (verfügbar auf ecoi.net)
http://www.ecoi.net/file_upload/response_en_159879.html
· ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation: Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Sanktionen gegen unverheiratetes Paar, das untertaucht (Rolle von Volkszugehörigkeit und Religion?); Sanktionen gegen Familienangehörige des Mannes [a-8230], 27. Dezember 2012 (verfügbar auf ecoi.net)
http://www.ecoi.net/local_link/236654/361931_de.html
· Adamec, Ludwig H.: Historical Dictionary of Afghanistan, 4th edition, 2012
· Afghan Bios: Afghan Biographies: Shinwari Tribe, 25. März 2011
· Coburn, Noah: E-Mail-Auskunft, 20. Juni 2014
· DIS - Danish Immigration Service: Afghanistan; Country of Origin Information for Use in the Asylum Determination Process; Report from Danish Immigration Service’s fact finding mission to Kabul, Afghanistan; 25 February to 4 March 2012, 29. Mai 2012
http://www.nyidanmark.dk/NR/rdonlyres/3FD55632-770B-48B6-935C-827E83C18AD8/0/FFMrapportenAFGHANISTAN2012Final.pdf
· Future Generations: Research Report: Engaging Community Resilience for Security, Development and Peace building in Afghanistan, Dezember 2013
· Kakar, Palwasha: Tribal Law of Pashtunwali and Women’s Legislative Authority, ohne Datum
http://www.law.harvard.edu/programs/ilsp/research/kakar.pdf
· Landinfo - Norwegian Country of Origin Information Centre: Afghanistan: Marriage Report Afghanistan, 19. Mai 2011 (verfügbar auf ecoi.net)
http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1337002361_1852-1.pdf
· MCIA - Military Corps Intelligence Activity: Cultural Intelligence for Military Operations: Pashtuns in Afghanistan, ohne Datum (verfügbar auf Website von Public Intelligence)
http://info.publicintelligence.net/MCIA-AfghanCultures/Pashtuns.pdf
· Pashto Academy: Poets (Humza Shinwari), ohne Datum
http://pashto.upesh.edu.pk/humza.htm
· Rzehak, Lutz: Doing Pashto: Pashtunwali as the ideal of honourable behaviour and tribal life among the Pashtuns, 21. März 2011 (veröffentlicht von AAN)
· Turvey, Brent E.: Victimology: A Brief History with an Introduction to Forensic Victimology. In: Forensic Victimology: Examining Violent Crimes in Investigative and Legal Contexts (Hg.: Brent E. Turvey), 2014, S. 1-30 (Auszüge auf Google Books verfügbar)