Friedenskonsolidierung: Ruanda

18 Jahre nach Bürgerkrieg und Völkermord gibt es in Ruanda erste Erfolge in der sozioökonomischen Entwicklung und juristischen Aufarbeitung. Bei der politischen Demokratisierung gibt es allerdings wenig Fortschritte, genauso wie bei der gerechten Verteilung des wirtschaftlichen Aufschwungs.
 

Anfang der 1990er Jahre wurde Ruanda von einem Bürgerkrieg erschüttert, der im April 1994 in einen verheerenden Genozid mündete. Ein explosives Gemisch aus überstürzter Demokratisierung, sozioökonomischen Schocks und der Angst vor der Machtübernahme durch einmarschierende Tutsi-Rebellen der Rwandan Patriotic Front (RPF) bildete die Grundlage für die Mobilisierung großer Teile der Bevölkerung und die Durchführung des Genozids. Die RPF wollte mit der Invasion ihren Anspruch auf Teilhabe an der Neugestaltung des politischen Systems gewaltsam durchsetzen. Seit den 1960er Jahren waren Angehörige der Tutsi-Minderheit aus Angst vor Repression und Massakern immer wieder in die Nachbarländer geflohen.

Die Folgen des Genozids waren verheerend: Ihm fielen ca. 800.000 Tutsi und ca. 200.000 moderate Hutu zum Opfer, und Infrastruktur sowie Staatskapazitäten wurden völlig zerstört. Nachdem die internationale Gemeinschaft trotz der stationierten UN-Truppen nicht zu einem Eingreifen bereit war, beendete die RPF nach drei Monaten den Genozid militärisch.

Die ethnischen Differenzen zwischen Hutu und Tutsi gehen auf die Kolonialisierung Ruandas durch Deutschland und Belgien zurück. Die Ungleichbehandlung der verschiedenen Bevölkerungsgruppen hat die ethno-soziale Spaltung zwischen der dominierenden Tutsi-Minderheit und der Hutu-Mehrheit erst gesellschaftlich und politisch virulent werden lassen. Die tiefe Krise des Landes hatte ihre strukturellen Ursachen jedoch hauptsächlich in der ungerechten Sozial- und Herrschaftsstruktur des Landes. In Folge ihrer Instrumentalisierung zur Rechtfertigung ethnisch bedingter Gewalt während des Krieges und des Genozids hat sich die ethno-soziale Spaltung weiter vertieft.

Stabilität und Schritte zur Veränderung nach 1994

17 Jahre nach dem Völkermord bleiben die Schritte hin zu Stabilität und Veränderung ambivalent. Fortschritte sind insbesondere im entwicklungspolitischen Bereich und bei der Verbesserung der inneren Sicherheit zu verzeichnen. Allerdings fand eine Verschiebung der gewaltsamen Auseinandersetzungen in die benachbarte DR Kongo statt. Von der ruandischen Regierung unterstützte Tutsi-Milizen gehen dort gegen in den Ost-Kongo ausgewichene Hutu-Verbände vor, die wiederum ruandisches Territorium angreifen. Bei der Rivalität geht es aber auch um die Kontrolle über die Bergbauressourcen (z.B. Kobalt, Coltan) in der kongolesischen Kivu-Provinz.

Spürbare Fortschritte sind – nicht zuletzt durch massive internationale Unterstützung – in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht, vor allem im Bildungs- und Gesundheitssektor sowie in der Armuts- und Malariabekämpfung, zu verzeichnen. Entgegen einem weitläufigen Trend in Subsahara-Afrika ist Ruanda eines der wenigen Länder, das bei sechs von acht Millenniumszielen (MDGs[1]) voraussichtlich die Vorgaben erfüllen wird.

Die internationale Gemeinschaft hat nach den katastrophalen Erfahrungen der beschleunigten wirtschaftlichen Liberalisierung und politischen Demokratisierung in den 1990er Jahren einen neuen Kurs in der Friedenskonsolidierung eingeschlagen. Die Maßnahmen konzentrieren sich hauptsächlich auf die sozioökonomische Entwicklung, die Einführung von Rechtsstaatlichkeit und die politische und gesellschaftliche Transformation.

Erste Schritte hin zur Demokratisierung wurden– entgegen den üblichen Verfahrensweisen in Postkonfliktländern – erst viele Jahre später eingeleitet. So fanden die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen erst 2003 statt, also neun Jahre nach dem Ende des Bürgerkriegs und Genozids. Daraus gingen die RPF als stärkste Partei und Paul Kagame als Präsident hervor. Die RPF konnte ihre Position bei den letzten Parlamentswahlen 2008 stärken. Auch in den Präsidentschaftswahlen 2010 wurde Paul Kagame mit großer Mehrheit in seinem Amt bestätigt.

Einen wichtigen Bereich des Friedensprozesses bildet die juristische Aufarbeitung des Völkermords. Um einerseits für Gerechtigkeit in dem Übergangsprozess zu sorgen, und andererseits das eigene Versagen während des Genozids auszugleichen, beschloss der UN-Sicherheitsrat bereits 1994, den Internationalen Strafgerichtshof für Ruanda (ICTR) mit Sitz in Arusha (Tansania) einzurichten. Dort werden bis 2014 die Hauptverantwortlichen des Genozids aus Medien, Militär und Politik angeklagt. Der ICTR hat bislang 32 Fälle abgeschlossen, weitere 10 werden noch verhandelt und 19 Fälle befinden sich im Berufungsverfahren. Seit 2011 steht auch in Deutschland ein ruandischer Bürgermeister in Frankfurt vor Gericht, der für den Tod von mehr als 3.000 Menschen verantwortlich sein soll.

Um die große Zahl von Tätern in ruandischen Gefängnissen zur Verantwortung ziehen zu können und den Versöhnungsprozess voranzutreiben, wurden seit 2002 traditionelle Dorfgerichte – die sog. Gacaca – wiederbelebt. Die für den Umgang mit den Genozidverbrechen angepassten Gerichte wurden von Laienrichtern geleitet. Laut einem Gesetz von 2004 sind die Gacacas nur für Täter mit geringerer Verantwortung und Tatschuld zuständig. Die Verantwortlichen für den Genozid unterstehen weiterhin dem ICTR bzw. der nationalen Gerichtsbarkeit. 2010 wurden die letzten Gacaca-Gerichte abgehalten.

In den Gacaca-Verfahren konnten Verwandte und Überlebende über den Verbleib der Opfer und die Art und Weise, wie diese umgekommen sind, Gewissheit erlangen. Mit dieser Form der Wahrheitsfindung wurde ein erster kleiner Schritt in Richtung Versöhnung vollzogen. Nicht zuletzt wurden aufgrund der Geständnisse der Täter auch Massengräber gefunden, und Angehörige konnten die Opfer würdevoll bestatten.

Ihre Bilanz weist auch Schattenseiten auf. So wurden Verbrechen der heutigen Regierungspartei und früheren Rebellenbewegung RPF nicht behandelt, die vor, während und nach dem Genozid begangen wurden. Kritisiert wurden zudem mangelnde Rechtsstandards. Schließlich sahen sich die Überlebenden des Genozids vielfach mit Retraumatisierungen konfrontiert, da im Zuge der Gacaca die erfahrenen Gräueltaten erneut durchlebt wurden.

Probleme und Defizite

Für den Versöhnungsprozess bleiben ausstehende Reparationszahlungen, bspw. in Form von Hilfe bei der Bestellung der Felder oder Wiederaufbau/Reparatur von Häusern, problematisch. Für die Überlebenden ist dies für die Bewältigung des Alltagslebens notwendig, kann aber oftmals von Verurteilten aufgrund ihrer eigenen Armut nicht geleistet werden. Weiterhin behindern, insbesondere in den ländlichen Regionen, Landkonflikte und fortbestehende Traumata auf beiden Seiten ein friedliches Zusammenleben und weitere Versöhnungsfortschritte.

In ökonomischer Hinsicht profitiert nur eine kleine Elite von der wirtschaftlichen Neuausrichtung und dem vor allem durch die internationale Hilfe induzierten Aufschwung. Nichtsdestotrotz kommen die Erfolge im Gesundheits- und Bildungswesen einer breiteren Bevölkerung zugute. Trotz der Bemühungen externer Geber, die Demokratisierung voranzutreiben, bleiben die Erfolge beschränkt. Der Freedom House Index ordnet Ruanda weiter als nicht frei ein. Nach demokratischen Minimalanforderungen kann bestenfalls von einem semi-demokratischen Staatssystem gesprochen werden.

Mit der Festigung der Machtposition der RPF und des Präsidenten durch die Wahlen von 2010 haben Menschenrechtsverletzungen und Einschränkungen politischer und medialer Freiheiten wieder zugenommen. Dies zeigte sich insbesondere im Zuge der Präsidentschaftswahlen, die durch die Unterdrückung jeglicher politischer Opposition gekennzeichnet waren. Es gelang keiner Oppositionspartei, sich für den Urnengang registrieren zu lassen. Auch gab es massive Übergriffe gegen kritische Intellektuelle und Politiker und Verhaftungen.

Als schwierig könnte sich zudem das Nationbuilding-Projekt der Regierung erweisen, das durch die Leugnung ethno-sozialer Zugehörigkeiten eine übergreifende nationale Identität befördern will. Die Aberkennung ethno-sozialer Identitäten wird von der Regierung festgelegt und widerspricht dem subjektiven Empfinden der meisten Menschen, die sich immer noch überwiegend an ethnischen Kategorien orientieren. Gerade für die jüngere Generation entstehen dadurch Identitätsfindungskonflikte, die jedoch in der Gesellschaft weitestgehend ausgeblendet werden. Anstatt die gesellschaftliche Versöhnung zu unterstützen, könnte damit langfristig genau der gegenteilige Effekt bewirkt werden.

Literatur

Andersen, Regine (2000): How multilateral development assistance triggered the conflict in Rwanda, in: Third World Quarterly, Vol. 23, Nr. 3, S. 441-456.

Hintjens, Helen (2008): Post-genocide identity politics in Rwanda, in: Ethnicities, Vol. 8, Nr. 1, S. 5-41.

Reyntjens, Filip (2006): Post-1994 Politics in Rwanda: Problematising liberation and democratisation, in: Third World Quarterly, Vol. 27, Nr. 6, S. 1103-1117.

Stroh. Alexander (2007): Legitimation allein durch Entwicklung? Das Beispiel Ruanda, GiGA Focus Afrika, Nr. 11, German Institute for Global and Area Studies, Hamburg.

Uvin, Peter (2001): Difficult Choices in the post-conflict agenda: the international community in Rwanda after the genocide, in: Third World Quarterly, Vol. 22, No. 2, S. 177-189.

Links

»Burnet, Jennie E.: Countries at the Crossroads 2007 – Rwanda Country Report, Freedom House Index.«.

»Freedom House – Meldungen und Berichte zur Demokratie- und Menschenrechtsentwicklung in Ruanda«

»Human Rights Watch – Berichte zu aktuellen Entwicklungen auf dem Gebiet der Menschenrechte in Ruanda«

»International Criminal Tribunal for Rwanda – Dokumente und aktuelle Entwicklungen«

» Zorbas, Eugenia (2004): Reconciliation in Post-Genocide Rwanda, in: African Journal of Legal Studies, Vol. 1, No. 1, S. 29-52.«
 

Fußnoten

1.
 Die acht Millennium Development Goals (MDGs) wurden auf dem Millennium-Gipfel der UNO im September 2000 beschlossen. Danach sollen bis 2015 zentrale Entwicklungsziele wie die Halbierung der weltweiten Armut, die Einführung von Primarschulen und die Gleichstellung der Geschlechter realisiert sein.
   
 
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Zur Person

Julia Viebach

Julia Viebach ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Konfliktforschung der Philipps-Universität Marburg und Associate Fellow am Institut für Entwicklung und Frieden (INEF). Zuvor war sie am Lehrstuhl für Internationale Beziehungen und Entwicklungspolitik der Universität Duisburg-Essen tätig. Forschungsschwerpunkte: Postconflict-Peacebuilding, Demokratisierung in Nachkriegsgesellschaften, Transitional Justice, Kriegsursachen- und Gewaltforschung. Regionale Schwerpunkte: Subsahara-Afrika, insbesondere Region der Großen Seen.