Friedenskonsolidierung: Sierra Leone

Die Friedenskonsolidierung in Sierra Leone gilt seit dem Ende des Bürgerkriegs im Januar 2002 als Beispiel für den international begleiteten Wiederaufbau staatlicher und gesellschaftlicher Strukturen. Doch trotz der internationalen Unterstützung bleiben die strukturellen Ursachen des Konflikts weitgehend bestehen.
 

Zwischen 1991 und 2002 herrschte in Sierra Leone ein blutiger Bürgerkrieg mit geschätzten 75.000 hauptsächlich zivilen Todesopfern. Zwei Millionen Menschen (und damit mehr als zwei Drittel der Bevölkerung) wurden zu Flüchtlingen im eigenen Land und in den Nachbarstaaten. Ungezählte Mädchen und Frauen wurden zu Opfern sexualisierter Gewalt. Erst mit dem Einsatz einer 17.800 Mann starken UN-Friedenstruppe (United Nations Mission in Sierra Leone – UNAMSIL) gelang es nach anfänglichen Schwierigkeiten, das bereits 1999 unterzeichnete Lomé-Friedensabkommen zwischen der zivilen Regierung und den Rebellen der Revolutionary United Front (RUF) sowie der mit ihnen verbündeten Militärjunta durchzusetzen.

Die Ausgangsbedingungen für den Wiederaufbau gestalteten sich denkbar schlecht. Die wirtschaftliche und staatliche Infrastruktur war weitgehend zerstört. In der Hauptstadt Freetown gab es keine Strom- und Wasserversorgung. Schulen und Krankenhäuser konnten bestenfalls eine Notversorgung sicherstellen. Der Entwicklungsbericht der Vereinten Nationen führte das Land auch 2011 noch auf dem achtletzten Platz von 187 Nationen. Das ist nur eine kleine Verbesserung gegenüber dem letzten Platz gegen Kriegsende. Internationale Investitionen (mit Ausnahme des Bergbausektors) blieben aus, wofür neben den fehlenden rechtlichen Rahmenbedingungen auch die weitverbreitete Korruption sowie das archaische Landrecht verantwortlich sind. Mehr als 80% der Bevölkerung sind im informellen Sektor beschäftigt bzw. betreiben Subsistenzlandwirtschaft, sie tragen kaum zum Steueraufkommen bei, was wiederum die Finanzierung staatlicher Leistungen erschwert. Auch zehn Jahre nach dem Ende des Bürgerkriegs hängt Sierra Leone wirtschaftlich am Tropf der internationalen Hilfe.

Erfolge und Fortschritte

Die Schwerpunkte des Wiederaufbaus bilden die Wiederherstellung der Verkehrsinfrastruktur, die Reintegration der Flüchtlinge und ehemaligen Kämpfer, die Einrichtung funktionierender politischer Institutionen und die Durchführung von Wahlen sowie verschiedene Initiativen zur Aufarbeitung der Kriegsvergangenheit.

Der Wechsel im Präsidentenamt nach den Wahlen vom September 2007 von Ahmad Tejan Kabbah von der Sierra Leone People’s Party (SLPP) zu Ernest Bai Koroma, dem Kandidaten der All People’s Congress (APC) wurde von internationalen Beobachtern als Zeichen der Stabilität und der demokratischen Reife gewertet. Tatsächlich ist es nicht zu einem Wiederaufflammen des Bürgerkriegs gekommen. Aber das politische System gilt weiterhin als zutiefst korrupt, und Wahlentscheidungen werden vor allem auf der Basis ethnischer Zugehörigkeit getroffen. Außerhalb der Hauptstadt Freetown liegt die Macht weiterhin in den Händen von autokratisch regierenden "traditionellen Führern" die mit den politischen Parteien durch ein komplexes Beziehungsgeflecht verbunden sind und am Wahltag die eigene Bevölkerung mobilisieren. Von einer demokratischen Entwicklung kann somit nur sehr eingeschränkt gesprochen werden.

Mit dem gleichzeitigen Wirken einer Wahrheits- und Versöhnungskommission und eines internationalen Strafgerichtshofs, die beide mit Unterstützung der internationalen Gemeinschaft geschaffen wurden, betrat Sierra Leone Neuland bei der juristischen Aufarbeitung eines Bürgerkriegs. Dies ist hauptsächlich deshalb bemerkenswert, weil beiden Institutionen ein unterschiedliches Rechtsverständnis zugrunde liegt. Der internationale Strafgerichtshof folgt der westlichen Rechtstradition und setzt auf die Bestrafung der Haupttäter und die damit erhoffte Abschreckungswirkung. Die Wahrheitskommission orientiert sich am südafrikanischen Beispiel. Sie setzt vor allem auf die Aufklärung der Hintergründe der Verbrechen und auf die Aussöhnung zwischen Tätern und Opfern. Welches der beiden Modelle langfristig den größeren Beitrag zur Friedenskonsolidierung leistet bzw. inwieweit sie miteinander vereinbar sind, wird die Zukunft Sierra Leones zeigen.

Die Wahrheits- und Versöhnungskommission (Truth and Reconciliation Commission – TRC) hat zwischen 2002 und 2003 Anhörungen von Opfern und Tätern durchgeführt. Die Kommission sollte durch ihre Arbeit den Opfern Stimme und Gesicht geben. Ihr Bericht wurde 2004 der Regierung übergeben und enthält weitreichende Reformvorschläge zur Überwindung der strukturellen Konfliktursachen. Allerdings wurden die Arbeit und die Wirkungsmöglichkeiten der Wahrheitskommission schon frühzeitig durch die Einrichtung des internationalen Sondergerichtshofs für Sierra Leone (Special Court for Sierra Leone) durch die Vereinten Nationen in den Hintergrund gedrängt.

Ausgestattet mit einem ähnlichen Mandat wie die internationalen Gerichte für Ruanda und das ehemalige Jugoslawien führt das Tribunal seit 2003 Verfahren gegen die 13 Hauptverantwortlichen der verschiedenen Bürgerkriegsparteien wegen besonders schwerer Kriegsverbrechen durch. Einer der Angeklagten ist Charles Taylor, der ehemalige Präsident Liberias (1997-2003). Ihm werden u.a. Massaker an der Zivilbevölkerung und die Rekrutierung von Kindersoldaten vorgeworfen. Taylor hat die RUF aufgebaut und unterstützt. Mit Ausnahme von Taylor sind die Prozesse gegen die Angeklagten mittlerweile abgeschlossen – sie wurden alle zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt, die sie in Ruanda verbüßen.

Die Tätigkeit des Gerichtshofs fand international viel Aufmerksamkeit. In Sierra Leone werden vor allem die hohen Kosten (geschätzte 300 Mio. US-Dollar bis 2012) kritisiert sowie die Tatsache, dass mit dem mittlerweile verstorbenen Samuel Hinga Norman auch ein in weiten Teilen der Bevölkerung als Held gefeierter Milizenführer auf der Anklagebank saß.

Probleme und Defizite

Seit Kriegsende 2002 wurden große Fortschritte bei der staatlichen Kontrolle über den Diamantensektor erreicht. Besonders die RUF hatte ihre Kriegsführung durch den Schmuggel von illegal geförderten Diamanten finanziert. Zwischen 1999 und 2007 ist der Wert der staatlich lizenzierten Ausfuhren von ca. 1,2 Mio. auf mehr als 141 Mio. US-Dollar gestiegen. Verantwortlich für die Exportsteigerung ist einerseits die Vertreibung der RUF aus der Diamantenregion und andererseits die Einführung des Zertifizierungssystems nach dem Kimberley-Prozess, das den Schmuggel von Edelsteinen deutlich erschwert. Trotz dieser Erfolge bleibt der erhoffte Entwicklungsschub bislang aus. So betragen die Steuereinnahmen aus dem Diamantenhandel nur 3,5% der Ausfuhren. Die meisten Diamanten werden von rund einer halben Millionen Kleinschürfern gewonnen, deren Lebens- und Arbeitsumstände sich kaum gebessert haben. Der Export der Edelsteine und die damit verbundenen Einnahmen werden von wenigen, zumeist libanesischen Großhändlern kontrolliert.

Der Situation in den Diamantenregionen im Südosten des Landes kommt auch für die Konsolidierung des Friedens eine große Bedeutung zu. Hier, an der unterentwickelten Peripherie Sierra Leones, begann der Bürgerkrieg. In der Region rekrutierten die RUF-Rebellen bevorzugt junge Männer, wobei sie deren soziale und politische Marginalisierung geschickt nutzten. Ohne Aussicht auf Bildung und eigenes Farmland, dessen Verteilung in ländlichen Regionen immer noch von oft autoritär regierenden traditionellen Führern (chiefs) kontrolliert wird, bleibt vielen jungen Menschen als Ausweg aus der sozialen Misere nur die Suche nach Diamanten oder die Abwanderung nach Freetown. Das System der traditionellen Führer als unterste Verwaltungsebene wurde mit britischer Unterstützung wieder eingeführt und ist demokratisch wenig legitimiert. An der Vernachlässigung des Hinterlands zugunsten der Metropole Freetown und der weit verbreiteten Korruption hat sich nur wenig geändert.

In weiten Teilen der internationalen Gemeinschaft scheint sich die Auffassung durchgesetzt zu haben, dass der Konflikt in Sierra Leone durch die Machenschaften Charles Taylors und durch die leichte Verfügbarkeit von Diamanten als Finanzierungsquelle für die Rebellen bedingt war. In dieser Analyse kommen andere wirtschaftliche und soziale Konfliktfaktoren kaum vor, obwohl diese auch zehn Jahre nach Kriegsende weiter präsent sind. Gerade die soziale Sprengkraft, die von der extrem jungen Bevölkerung (ca. 44% der Einwohner von Sierra Leone sind jünger als 15 Jahre) ohne soziale Aufstiegschancen ausgeht, wird unterschätzt. Nach dem weitgehenden Abzug der Vereinten Nationen liegt es nun in der Hand der Regierung, vor allem die endemische Korruption einzudämmen und Antworten auf die drängenden politischen und sozialen Fragen des Landes zu finden.

Literatur

Cubitt, Christine (2011): Employment in Sierra Leone: what happened to post-conflict job creation? In: African Security Review, Vol. 20, No. 1, S. 2-14.

Gberie, Lansana (2010): Africa and international criminal justice: lessons from the Special Court for Sierra Leone, in: African Security Review, Vol. 19, No. 4, S. 31-47.

Keen, David (2005): Conflict and Collusion in Sierra Leone, Oxford: James Currey.

Kurz, Christof (2010): What You See is What You Get: Analytical Lenses and the Limitations of Post-Conflict Statebuilding in Sierra Leone, in: Journal of Intervention and Statebuilding, Vol. 4, No. 2, S. 205-236.

Reno, William (1995): Corruption and State Politics in Sierra Leone, Cambridge: Cambridge University Press.

Richards, Paul (1996): Fighting for the Rainforrest: War, Youth and Resources in Sierra Leone, London: James Currey.

Smillie, Ian et al. (2000): The Heart of the Matter: Sierra Leone, Diamonds and Human Security, Ottawa: Partnership Africa Canada.

Links

»Bericht der Wahrheits- und Versöhnungskommission von Sierra Leone (2004)«

»Webseite des internationalen Sondergerichtshofs für Sierra Leone«

»Webseite der International Crisis Group (ICG) mit verschiedenen Berichten zu Sierra Leone«

»Webseite des Diamonds and Human Security Projects von Partnership Africa Canada«
 


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Zur Person

Wolf-Christian Paes

Wolf-Christian Paes arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Internationalen Konversionszentrum Bonn (BICC) sowie als Berater für Friedensförderung für verschiedene Entwicklungsorganisationen (GIZ, KfW, UNDP und Weltbank). Von 2009 bis 2011 arbeitete er für die Demobilisierungskommission im Südsudan. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören der Zusammenhang zwischen natürlichen Ressourcen und bewaffneten Konflikten sowie Sicherheitssektorreformen, Kleinwaffenkontrolle und die Demobilisierung von Kombattanten in Subsahara-Afrika.