Konfliktporträt: Syrien

Der "Arabische Frühling" hat die Legitimität des syrischen Regimes stark beschädigt. Die anti-imperialistische und anti-israelische Rhetorik des Baath-Regimes kann die Unzufriedenheit großer Teile der Bevölkerung nicht mehr überdecken. Zudem wirken starke externe Interessen im östlichen Mittelmeerraum.

Aktuelle Situation

Im Kontext des "Arabischen Frühlings" ist die syrische Revolte die komplexeste. Im Land lebt ein Mosaik von Minderheiten, deren jeweilige Stellung historisch eng mit der Machtkonstellation des Regimes von Präsident Baschar al-Assad verwoben ist. Regionalpolitisch ist der Volksaufstand zudem der heikelste, da er auf der Nebenbühne des Nahost-Konflikts stattfindet. Zugleich liegt die Levant – also Syrien und Libanon – auf den tektonischen Einflussplatten der konkurrierenden Regionalmächte Iran und Saudi Arabien. Dementsprechend verbinden sich auch viele internationale Interessen mit den Entwicklungen in Syrien.

Das Muster des Aufstands in Syrien ähnelte zunächst denen in anderen arabischen Ländern. Ausgangspunkt war auch hier ein kleiner Anlass: Kinder hatten im März 2011 in der südsyrischen Kleinstadt Dara´a Anti-Regime-Graffiti an Wände gesprüht. Der syrische Geheimdienst sperrte sie ein und folterte sie. Angesichts der aufgeheizten regionalen Lage ließen sich die Menschen nicht mehr einschüchtern, obwohl sie in einem der härtesten Polizei- und Überwachungsstaaten der arabischen Welt leben. Die Proteste haben sich allmählich fast auf das ganze Land ausgeweitet; die Schätzungen der Opfer belaufen sich inzwischen auf mehrere Tausend.
Viele Syrer hatten noch an Assad als Reformer geglaubt. Spätestens ab Juni 2011 richteten sich die Proteste auch gegen den Präsidenten selbst. Nicht nur mehr Reformen stehen nun im Vordergrund, sondern ein Regimewechsel. Die unter dem Druck der Proteste versprochenen Reformen haben keine politische Wirkung gezeigt. Inzwischen werden auch immer mehr Desertationen von Soldaten gemeldet, meist Wehrpflichtigen, die nicht auf unbewaffnete Zivilisten schießen wollen.

Die Opposition im In- und Ausland hat sich nach langen Verhandlungen Mitte September auf einen gemeinsamen Nationalen Rat nach libyschem Vorbild geeinigt, dem verschiedene Strömungen angehören wie Säkulare, Muslimbrüder, Christen, Alewiten, Araber, Kurden etc. Dieser Rat wurde Anfang Oktober auf eine breitere Basis gestellt.

Ursachen und Hintergründe des Konflikts

Bis zu Beginn der Unruhen Mitte März 2011 glaubten viele Beobachter nicht an eine Revolte in Syrien. In einem Zeitungsinterview Ende Januar sagte Assad noch, Syrien sei stabil, weil es eine Interessensgleichheit zwischen dem syrischen Volk und der Politik der Regierung gebe. Ideologisch war das Volk, das Jahrzehnte lang geprägt worden ist durch einen anti-israelischen und panarabischen Diskurs, in der Tat näher am Regime als in den pro-westlichen Autokratien unter Ben Ali in Tunesien oder Mubarak in Ägypten.

Zudem ist die syrische Gesellschaft ein Mosaik starker Minderheiten, von denen eine – die Alawiten (ca. 12%) – den Präsidenten stellen. Sie fürchten nun die Rache der konservativen Sunniten. Im Jahr 1982 hatte Baschars Vater Hafez al-Assad in Hama ein Massaker angerichtet, dem viele tausend Sunniten zum Opfer fielen. So beendete er einen aufflammenden Aufstand der Muslimbrüder, die bis heute in Syrien per Todesstrafe verboten sind.

Die übrigen Minderheiten wie Christen oder Drusen unterstützten das säkulare Baath-Regime, zumindest in ihrer Mehrheit, da sie eine Vormacht radikal-islamischer Sunniten fürchten. Die gemäßigte sunnitische Handelsklasse hatte das Assad-Regime zwar erfolgreich an sich binden können, doch bröckelt diese Allianz.

Mit dem brutalen Vorgehen gegen unbewaffnete Zivilisten hat Assad Vertrauen auch bei ihm wohl Gesonnenen zerstört. Bisher hatte er Ruhe und Ordnung im Land bewahren können, anders als im benachbarten Irak oder Libanon. Das hatten ihm viele Syrer hoch angerechnet. Bislang lässt die bloße Angst vor unbekannten politischen Alternativen, vor Bürgerkrieg und Chaos nicht wenige Syrer weiterhin zum Baath-Regime stehen. Doch die Wut über Korruption, brutale Unterdrückung, fehlende Freiheit und Entwicklungschancen wiegt letztlich schwerer als ideologische Versprechen wie die Befreiung der Golan-Höhen und die pro-palästinensische Rhetorik.

Bearbeitungs- und Lösungsansätze

International sind die Handlungsmöglichkeiten im Fall Syrien deutlich beschränkter als etwa gegenüber Libyen. Mit Russland und China hat Syrien gewichtige Schutzmächte, die bisher eine Verurteilung durch den UN-Sicherheitsrat unmöglich gemacht haben. Russland hält an Assad fest, weil es im Fall des Zusammenbruchs des Regimes sein strategisches Interesse an einem sicheren Zugang zum Mittelmeer berührt sieht.

Darüber hinaus ist Syrien zum Testfall für die türkische Regionalpolitik unter der islamischen AKP-Regierung geworden. Die Türkei hat sich erst zögernd, dann eindeutig auf die Seite der Opposition gestellt und ihre freundschaftlichen Beziehungen zu Syrien abgebrochen.

Drei übergeordnete Szenarien sind denkbar:
  1. Ein Überleben des Baath-Regimes, das sich noch mehr auf alawitische Kreise reduziert und entweder von einem extrem geschwächten Präsidenten Assad oder – nach einem internen Staatsstreich – von einem anderen Familienmitglied geführt wird.
  2. Ein Regimesturz, der entweder – ähnlich wie im Irak – zu Chaos und Bürgerkrieg oder zu einer Pluralisierung von Politik und Gesellschaft führt.
  3. Ein "nationaler Dialog" zwischen Regime und Opposition, der angesichts der Gewalteskalation und der Risiken für Assad jedoch unwahrscheinlich erscheint.

Geschichte des Konflikts

Der "Arabische Frühling" hat Themen an die politische Oberfläche gespült, die in den arabischen Autokratien lange tabu waren. Die Demonstranten fordern Menschenwürde, Freiheiten, Rechtsstaatlichkeit, soziale und wirtschaftliche Perspektiven. In den Protesten haben die alten ideologischen Diskurse gegen Imperialismus, gegen den Einfluss des Westens und der USA, gegen die Politik oder das Existenzrecht Israels oder die Konfrontation Säkularismus versus Islamismus keine Rolle gespielt. Das gilt auch für Syrien. Insofern hat der Konflikt nur begrenzt eine Vorgeschichte und ist Zeichen für etwas Neues.

Allerdings sind im syrischen Fall die gleichen Themen, die heute Bedeutung erlangt haben, bereits in den Schriften der oppositionellen syrischen Zivilgesellschaftsbewegung verankert. Sie nahmen ihren Anfang in den Debattierclubs des Damaszener Frühlings kurz nach Assads Amtsantritt 2000/01. Der junge Präsident ließ jedoch die intellektuelle Bewegung niederschlagen. Seitdem hat die säkulare Opposition mehrere Verhaftungswellen erlitten, obwohl sie nie einen Sturz des Präsidenten gefordert hatte. Die letzte Welle traf Regimekritiker ab Ende 2009 trotz der Tatsache, dass Syrien seit 2008 wichtige außenpolitische Erfolge verzeichnen und sich aus der internationalen Isolierung befreien konnte.

Die einzigen Orte, in denen sich Menschen legal versammeln konnten, waren Moscheen. Deshalb haben sich auch während des Aufstands viele Szenen in und um Moscheen abgespielt. Das mag dem Konflikt unzutreffenderweise einen religiösen Anstrich geben, auch weil das Regime wie schon in der Vergangenheit versucht, ausländische Aufwiegler verantwortlich zu machen und Ängste zu schüren.

Assad hat Reformen stets hinausgezögert, oder sie führten letztlich zu einer wachsenden Kluft zwischen arm und reich. Seine Regierungszeit begann zwar mit der Reform der sozialistischen Planwirtschaft, ohne mehr politische Freiheiten zu gewähren. Die punktuellen Liberalisierungen steigerten bei anhaltender Beutewirtschaft des Assad-Clans eher die Existenzangst und Armut in Syriens Mittelklasse. Besonders betroffen sind die vielen jungen Menschen im Land. Die Geburtenrate in Syrien ist eine der höchsten in der arabischen Welt. Außerdem hat Syrien hunderttausende irakische Flüchtlinge seit dem Irak-Krieg 2003 aufgenommen und versucht diese zu integrieren, die meisten davon Christen.

Das Paradoxe an Assads Schicksal ist: So antagonistische Staaten wie Russland, China, die USA und Israel hatten bis zum Ausbruch der Unruhen alle kein Interesse, dass das Baath-Regime in Damaskus stürzt. Die Furcht vor Chaos, Bürgerkrieg, Islamismus, Terrorismus und einem Ende des Gleichgewichts der regionalen Mächte ist groß. Doch am Ende wird die Regierungsära Baschar al-Assads als Zeit der verpassten Chancen in die syrische Geschichte eingehen. Falls Assad die Revolte politisch überleben sollte, wird er innen- und außenpolitisch zu schwach bleiben, um seine bisher unangetastete Rolle weiterspielen und den für sein Land entstandenen Schaden je wieder politisch kompensieren zu können.

Literatur

Dam, Nikolaos van (2011): The Struggle for Power in Syria, London.

George, Alan (2003): Neither Bread Nor Freedom, London.

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Hinnebusch, Raymond A. (2001): Syria: Revolution from Above, London/New York.

Landis, Joshua (2004): The United States and Reform in Syria, in: The Syria Review, June.

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Leverett, Flynt (2005): Inheriting Syria: Bashar´s Trial by Fire, Washington, D.C.

Perthes, Volker (2004): Syria under Bashar al-Asad: Modernization and the Limits of Change, Adelphi-Paper 366, London.

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Wieland, Carsten (2011): Between Democratic Hope and Centrifugal Fears. Syria´s Unexpected Open-ended Intifada, in: Internationale Politik und Gesellschaft (Friedrich Ebert Stiftung), 4-2011.

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Wieland, Carsten (2006): Syria at Bay: Secularism, Islamism, and "Pax Americana", London.

Wieland, Carsten (2004): Syrien nach dem Irak-Krieg: Bastion gegen Islamisten oder Staat vor dem Kollaps? Berlin.

Zisser, Eyal: Asad´s Legacy: Syria in Transition, London 2001.

Links

» International Crisis Group (2011): Popular Protest in North Africa and the Middle East (VII): The Syrian Regime´s Slow-motion Suicide, Middle East/North Africa Report, N° 109, 13 July 2011.«

»Popular Protest in North Africa and the Middle East (VI): The Syrian People´s Slow-motion Revolution, Middle East/North Africa Report, N° 108, 6 July 2011.«

»Syrien-Blog von Joshua Landis, Director: Center for Middle East Studies and Associate Professor, University of Oklahoma (USA)«

»Local Coordination Committees of Syria (innersyrische Oppositionsbewegung, die die Proteste koordiniert)«

»Damascus Center for Human Rights Studies«

»Strategic Research and Communication Center (Website und Think Tank der außersyrischen Opposition)«

»Englischsprachige syrische Zeitschrift in privater Hand«

»Oppositionelle Seite mit kreativ-kritischen Comics über Assad und seine Entourage.«
 


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Zur Person

Carsten Wieland

Dr. Carsten Wieland arbeitet im diplomatischen Dienst des Auswärtigen Amts in Berlin. Er war jahrelang als Journalist, Autor und Politikberater tätig. Als Nahost-Experte hat er zahlreich über Syrien publiziert, wo er auch mehrere Jahre lebte. Wieland hält zudem eine Gastprofessur an der Universidad Rosario in Bogotá und war für die dpa Korrespondent in Tel Aviv, Washington und Kolumbien, wo er auch das Büro der Konrad Adenauer-Stiftung leitete.

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