Konfliktporträt: Libanon

Die Geschichte des Libanon ist geprägt von einem Wechsel zwischen Phasen friedlicher Machtteilung und erbitterten Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Es besteht weiter die Gefahr, dass regionale Konflikte zur Verschärfung der inneren Gegensätze und Gewalt führen.

Aktuelle Situation

Der Libanon ist politisch in zwei Lager gespalten. Die Hisbollah und ihre Verbündeten, die seit Juni 2011 die Regierung stellen, sehen das Land als Teil einer Allianz gegen eine "israelisch-amerikanische Hegemonie" im Nahen und Mittleren Osten. Die pro-westliche Opposition betrachtet die Hisbollah und ihre beträchtlichen Waffenarsenale als Gefahr für die äußere und innere Sicherheit und warnt vor neuerlicher Verwicklung in regionale Konflikte.

Das pro-westliche Lager musste trotz eines knappen Sieges in den Parlamentswahlen vom Juni 2009 nach intensiver Vermittlung durch Syrien und Saudi-Arabien erneut eine "Regierung der Nationalen Einheit" mit der Hisbollah und ihren Verbündeten bilden. Diese Regierung zerbrach im Januar 2011 über unvereinbare Positionen zur Kooperation mit dem "Sondertribunal für Libanon" (STL). In dessen im August 2011 veröffentlichten Anklageschrift werden prominente Hizbollah-Vertreter als Beteiligte an der Ermordung des ehemaligen libanesischen Ministerpräsidenten, Rafik El-Hariri, im Februar 2005 benannt. Erst nach langwierigen Verhandlungen konnten die Hisbollah und ihre Verbündeten im Juni 2011 eine Regierung unter Najib Mikati bilden. Deren Stabilität und Effizienz wird jedoch weiterhin von Gegensätzen über das Hariri-Tribunal sowie durch Streit um Ämter und Einfluss beeinträchtigt.
Die Ereignisse des "Arabischen Frühlings" führten auch im Libanon zu Demonstrationen gegen das herrschende politische System. Diese wurden jedoch rasch von Hisbollah und ihren Verbündeten für ihre eigenen politischen Ziele vereinnahmt und kamen bald zum Erliegen. Fortdauernde Unruhen im Nachbarland Syrien erhöhen die Spannungen im Libanon: die schiitische Hisbollah hat eindeutig ihre Unterstützung für das in Syrien herrschende, mit dem Iran verbündete Assad-Regime ausgedrückt, das sunnitisch dominierte Hariri-Lager sympathisiert mit der gleichfalls sunnitisch geprägten Widerstandsbewegung. Eine Eskalation in Syrien könnte auch Zwischenfälle zwischen libanesischen Schiiten und Sunniten provozieren.

Ursachen und Hintergründe des Konflikts

Erziehung, Sozialisation und besonders die (selektive) Erinnerung an in der Vergangenheit erlittenes Unrecht bewirken eine oft bedingungslose Identifikation junger Libanesen mit der Religionsgemeinschaft, in die sie hineingeboren wurden. Die Wirkung solcher kollektiver Identitäten wird durch das Prinzip des religiös-konfessionellen Proporzes verstärkt: Arbeitsplätze, Staatsaufträge und Sozialleistungen werden anteilig an die verschieden Religionsgemeinschaften vergeben. Soziale und ökonomische Verteilungskämpfe sind damit immer auch religiös-konfessionelle Auseinandersetzungen.

Die so zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen kultivierten Ressentiments werden von den politischen Führern systematisch zur politischen Mobilisierung eingesetzt. In Zeiten regionaler Stabilität geht es dabei vor allem um Anteile an Macht und Ämtern. Wenn jedoch die Spannungen in der Region zunehmen, nutzen ausländische Akteure die Zerrissenheit des Libanon und die Schwäche seiner Institutionen, um das strategisch gelegene Land durch Bündnisse mit lokalen Kräften auf ihre Seite zu ziehen. Solche Bündnisse verlaufen oft entlang religiöser und konfessioneller Linien: So kooperiert der Iran mit dem schiitisch dominierten Regierungslager, Saudi-Arabien mit der sunnitisch geprägten Opposition.

Bearbeitungs- und Lösungsansätze

Einen umfassenden Versuch zur Überwindung der innerlibanesischen Gegensätze unternahm im Jahre 1989 die Friedenskonferenz im saudiarabischen Taif, mit der das Ende des fünfzehnjährigen Bürgerkrieges eingeläutet wurde.

Institutionelle Reformen beendeten das politische Übergewicht der Christen und trugen damit der demografischen Entwicklung Rechnung. Die langfristige Überwindung des politischen Proporzes wurde zum Verfassungsziel erhoben, Dezentralisierung und neue Institutionen wie etwa ein Verfassungsgericht sollten neue Möglichkeiten der Mitbestimmung eröffnen und so die auf allen Seiten vorhandene Furcht vor Marginalisierung reduzieren.

Mit Ausnahme der veränderten Proporzformel wurde allerdings die Mehrheit der vorgesehenen Reformen nie umgesetzt. Traditionelle politische Führer ebenso wie ehemalige Warlords zeigten kein Interesse, ihre eigene Machtbasis zu gefährden. Bis 2005 war auch Syrien als Besatzungs- und Garantiemacht des Taif-Abkommens daran interessiert, den für die eigene Strategie des "Teile-und-herrsche" nützlichen Status quo zu erhalten. Syrische Geheimdienste kontrollierten über fünfzehn Jahre die libanesische Politik und weite Teile des Staatsapparats. In ihrem Schutz bildeten sich weit verästelte Netzwerke organisierter Korruption. Nach dem syrischen Rückzug machte die bald eintretende politische Polarisierung Reformansätze rasch zunichte.

Geschichte des Konflikts

Der Zerfall des Osmanischen Reiches im 19. Jahrhundert ermöglichte es konkurrierenden europäischen und regionalen Mächten, durch Bündnisse mit lokalen Eliten Einfluss im östlichen Mittelmeerraum zu gewinnen. Letztere griffen in den durch Kolonisierung und Modernisierung ausgelösten politischen und sozialen Konflikten oft auf die Loyalität ihrer jeweiligen Religionsgemeinschaft zurück. Spannungen entstanden vor allem zwischen Drusen und Christen in der religiös gemischten zentralen Bergregion des Libanon, wo es zwischen 1840 und 1860 zu bewaffneten Auseinandersetzung und antichristlichen Pogromen kam. Auf Intervention der europäischen Mächte wurde daraufhin eine begrenzte Autonomie etabliert, in der erstmals das Prinzip einer proportionalen Repräsentation der Religionsgemeinschaften zur Anwendung kam.

Kontakte zu europäischen Mächten und Märkten begünstigten den sozialen Aufstieg der christlichen Bevölkerung. Am Ende des 1. Weltkriegs strebten vor allem die katholischen Maroniten die Bildung eines eigenständigen, christlich dominierten Staates an. Sie fanden Unterstützung bei ihrer traditionellen Schutzmacht Frankreich, die die ehemalige osmanische Provinz Syrien als Mandat des Völkerbundes kontrollierte und dem Widerstand arabischer Nationalisten zu begegnen suchte.

Dem neuen Staat Libanon wurden jedoch auch vornehmlich muslimisch besiedelte Gebiete angegliedert, so dass der muslimische Bevölkerungsanteil bereits bei der Staatsgründung im Jahre 1920 fast 50% betrug. Viele Muslime lehnten den neuen Staat zunächst ab und plädierten für einen Verbleib bei Syrien oder einen panarabischen Einheitsstaat. Erst im antikolonialen Befreiungskampf der 1940er Jahre fanden christliche und muslimische Politiker zu einem Kompromiss, der eine Teilung der politischen Macht zwischen Christen und Muslimen und die Verpflichtung auf Libanon als unabhängige Nation vorsah.

Die Rivalität um die Macht im Staate dauerte jedoch an. Während die libanesischen Christen die Unabhängigkeit des Libanon und damit ihre eigene privilegierte Position durch Bündnisse mit nicht-arabischen Mächten (Frankreich, die USA und schließlich Israel) zu sichern hofften, bemühten sich die libanesischen Muslime um eine enge Einbettung in die arabisch-muslimische Region, um so das Übergewicht der Christen zu neutralisieren. Mit diesem Ziel schlossen sie Anfang der 1970er Jahre ein Bündnis mit den bewaffneten Einheiten der PLO, 15 Jahre Bürgerkrieg waren die Folge.

Nach dem Ende des Bürgerkrieges im Jahre 1991 und bis zu ihrem Rückzug im Jahre 2005 verpflichtete die Besatzungsmacht Syrien wechselnde libanesische Regierungen konstant auf Unterstützung der eigenen, von einer harten Haltung gegenüber Israel und den USA geprägten Position. Seit 2005 treten die libanesischen Sunniten und ein Teil der Christen für eine enge Anlehnung an "prowestliche" und "moderate" (und überwiegend sunnitische) Staaten wie Ägypten oder Saudi-Arabien ein, während die Schiiten weiter der durch Syrien und Iran vertretenen Position des "Widerstands" (gegen Israel und die USA) die Treue halten und dabei ebenfalls Unterstützung von einem Teil der Christen erhalten.

Besonders im Gefolge des Krieges zwischen Israel und der Hisbollah im Sommer 2006 führte dieser Konflikt zu einer chronischen Verfassungskrise. Politische Ämter blieben vakant, Institutionen waren in ihrer Funktion beeinträchtigt oder ganz gelähmt. Die politische Krise eskalierte im Mai 2008 und führte zu mehrtägigen Kämpfen zwischen Anhängern von Regierung und Opposition. Bewaffnete Anhänger der schiitischen Parteien Hisbollah und Amal besetzten weite Teile der Hauptstadt Beirut; mehr als hundert Menschen starben. Auf Vermittlung arabischer Staaten wurde daraufhin eine "Regierung der Nationalen Einheit" gebildet und der Konflikt vorläufig entschärft.

Literatur

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Hanf, Theodor (1993): Co-existence in Wartime Lebanon: Death of a State and Birth of a Nation, London: I.B. Tauris.

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Links

»Kraft, Martin/ Al-Mazri, Muzna / Wimmen, Heiko / Zupan, Natascha (2008): Walking the Line. Strategic Approaches to Peacebuilding in Lebanon, Bonn: Working Group on Development and Peace (FriEnt)«.

»Wimmen, Heiko (2010): The Long, Steep Fall of the Lebanon Tribunal, in: Middle East Report Online, 01.12.2010«.

»Wimmen, Heiko (2009): Old Wine in Older Skins: Lebanon Elects another Parliament, in: Middle East Report Online, 03.06.2009«.

»Wimmen, Heiko und Layla Al-Zubaidi (2008): Libanon - Von der Staatskrise zum offenen Machtkampf«.
 
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Zur Person

Heiko Wimmen

Heiko Wimmen ist Promotionsstipendiat in der Forschungsgruppe Naher / Mittlerer Osten und Afrika der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Von 2004-2009 war er Programm Manager und Stellvertretender Direktor im Regionalbüro Mittlerer Osten der Heinrich Böll-Stiftung.