Konfliktporträt: Kosovo

Die Beziehungen zwischen Kosovo-Albanern und -Serben sind weiterhin gespannt. Während der größte Teil des Landes weitgehend stabil ist, hat sich die Lage im Nordkosovo wieder zugespitzt. Dort wehrt sich die von Belgrad unterstützte serbische Mehrheitsbevölkerung mit allen Mitteln gegen Versuche der kosovarischen Regierung, ihre Kontrolle auf das gesamte Staatsterritorium auszudehnen.

Aktuelle Konfliktsituation

Zwölf Jahre nach dem Krieg und knapp drei Jahre nach der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo vom 17.2.2008 ist die Lage in Kosovo relativ stabil. Die NATO-Friedenstruppe KFOR hat ihr Kontingent von 14.000 Soldaten im Jahr 2008 auf etwas weniger als 6.000 reduziert. Nach Auseinandersetzungen um zwei Übergänge an der kosovarisch-serbischen Grenze im Juli 2011 ist sie allerdings wieder um ca. 600 Soldaten aufgestockt worden.

Auslöser war die Entscheidung Prishtinas, auf das Importverbot für Waren aus Kosovo nach Serbien wegen der Nichtanerkennung des kosovarischen Zollstempels durch Belgrad seinerseits mit einem Stopp serbischer Einfuhren zu antworten. Um das Verbot durchzusetzen, versuchten kosovarische Sonderpolizeikräfte die Kontrolle über die Grenzposten Jarinja und Brnjak zu übernehmen.

Daraufhin warfen serbische Nationalisten Brandsätze auf die Grenzposten und beschossen KFOR-Soldaten. Ein kosovarischer Polizist wurde erschossen. Bereits im Februar 2008 hatten serbische Extremisten Posten an der kosovarisch-serbischen Grenze in Brand gesteckt. Im März des gleichen Jahres besetzten sie einen von den Vereinten Nationen verwalteten Gerichtshof in Nordkosovo. Im Mai kam es zu Zwischenfällen in Mitrovica, der größten Stadt im Norden, als aufgebrachte Kosovo-Albaner gegen die Durchführung serbischer Wahlen in der Stadt protestierten.

Ursachen und Hintergründe des Konflikts

Ursache sind unterschiedliche Positionen in der "Statusfrage". Kosovo wird nach der einseitigen Unabhängigkeitserklärung inzwischen von mehr als 75 Staaten anerkannt, darunter auch Deutschland und die USA. Obwohl der Internationale Gerichtshof in Den Haag 2010 die kosovarische Unabhängigkeitserklärung für rechtmäßig erklärt hat, betrachtet Serbien den Kosovo weiterhin als Teil seines Territoriums und wird darin vor allem von Russland und China unterstützt. Auch die EU und die UNO sind in dieser Frage gespalten. Als vorläufiger Kompromiss innerhalb des UN-Sicherheitsrates und der EU-Gremien gelten die UN- und EU-Missionen im Kosovo als "statusneutral".

In Abwesenheit einer politischen Lösung lebt die mehrheitlich kosovo-serbische Bevölkerung Nordkosovos in einer staatsrechtlichen "Grauzone": Nicht nur die Regierung in Prishtina und internationale Organisationen haben dort wenig zu sagen; auch Belgrads Einfluss beschränkt sich auf Subventionen und die Zahlung vergleichsweise hoher Gehälter für (kosovo-serbische) öffentliche Angestellte, die weiterhin in von Serbien abhängigen Behörden, Gerichten und Schulen arbeiten.

Doch auch in den anderen Teilen des Kosovo bleibt die angespannte Lage nicht folgenlos. 47% der Bevölkerung leben in Armut, 13% in extremer Armut. Die Arbeitslosigkeit beträgt rd. 60%. Besonders junge Leute, die mehr als die Hälfte der Bevölkerung ausmachen, haben Schwierigkeiten, eine Anstellung zu finden. Angesichts von Korruption und organisierter Kriminalität, die bis in die oberen Etagen von Regierung und Verwaltung reichen, ist das Vertrauen in die Institutionen gering. Besonders für Kosovo-Serben (7% der Bevölkerung) und Vertreter anderer Minderheiten (5%) sind die Aussichten auf wirtschaftlichen und sozialen Aufstieg düster. Nur wenige unter ihnen gehören zur neuen städtischen Elite, die im Lande das Sagen hat.

Bearbeitungs- und Lösungsansätze

Zahlreiche internationale Organisationen und Geber sind in Kosovo aktiv, vor allem die EU, die derzeit etwa 70 Mio. Euro pro Jahr bereitstellt. Die EULEX-Mission, die bisher größte Mission im Rahmen der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, fördert den Aufbau rechtsstaatlicher Strukturen.

Langfristig verfolgt die EU eine regionale Integrationsstrategie, in der die Kooperation zwischen Serbien und Kosovo eine Vorbedingung für den EU-Integrationsprozess darstellt. In von der EU moderierten Verhandlungen einigten sich Vertreter Belgrads und Prishtinas Anfang Juli 2011 auf den Austausch von Zivilregisterdaten und die gegenseitige Anerkennung von Reisedokumenten und universitären Abschlüssen.

Ende Juli 2011 sollte der freie Warenverkehr zwischen Kosovo und Serbien besprochen werden. Kurz vor dem geplanten Treffen, beschloss die EU, die Verhandlungsrunde zu verschieben, da eine Einigung aussichtslos schien. Daraufhin kam es zu den oben erwähnten Zwischenfällen an der Grenze zu Serbien, die die Aussicht auf Einigung weiter schmälern.

Geschichte des Konflikts

Nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches gehörte Kosovo zu Serbien und Montenegro, anschließend zum 1. Jugoslawischen Staat. Nach dem 2. Weltkrieg wurde es Teil der Jugoslawischen Föderation. Der kommunistische Führer Josip Broz Tito verstand es, die nationalistischen Kräfte durch eine geschickte Verteilung der Macht zwischen den Bundesstaaten zu neutralisieren. Er gewährte Kosovo Autonomie und ab 1974 Gleichberechtigung auf Bundesebene.

Mit dem offenen Ausbruch der Krise des jugoslawischen Selbstverwaltungssozialismus nach Titos Tod 1980 machte die serbische Regierung unter Rückgriff auf den Amselfeld-Mythos den Autonomiestatus wieder rückgängig. Alle für öffentliche Institutionen oder staatliche Betriebe arbeitenden Kosovo-Albaner wurden entlassen. Kosovo-albanische Schüler und Studenten wurden vom öffentlichen Bildungssystem ausgeschlossen. Als Antwort auf das "Apartheidsystem" bauten die Kosovo-Albaner parallele Verwaltungs- und Bildungsstrukturen auf.

Die wirtschaftliche Krise der 1980er und 1990er Jahre trug zur Radikalisierung beider Seiten bei. Kosovo wurde als wirtschaftlich rückständigste Region besonders hart getroffen. Ab 1989 stoppte das Milošević-Regime alle Investitionen und Subventionen für Kosovo.

Ende der 1990er Jahre begannen kriegerische Auseinandersetzungen zwischen serbischen Streitkräften und der kosovarischen Befreiungsarmee (UÇK). Die kosovarische Zivilbevölkerung wurde Opfer systematischer Überfälle, Vertreibungen und Massenmorde. Im September 1998 verurteilte der UN-Sicherheitsrat in der Resolution 1199 die Gewalt durch serbische Polizisten und Soldaten. Nach dem Scheitern der Verhandlungen in Rambouillet (Frankreich) wurden die Kampfhandlungen im Frühjahr 1999 durch eine NATO-Operation beendet.

[Bild entfernt: Verteilung der Ethnien im Kosovo laut OSZE-Bericht 2005. Lizenz: GNU FDL, 1.2 (© Wikimedia)]
 
Kein Friedensvertrag, sondern die UN-Resolution 1244 vom 10.6.1999 besiegelte das Ende des Krieges: Kosovo blieb völkerrechtlich Teil der Bundesrepublik Jugoslawien, wurde aber der Verwaltungshoheit einer UN-Mission (UNMIK) unterstellt.

Trotz massiver internationaler Präsenz wurden im März 2004 mindestens 19 Menschen getötet und über 1.000 verletzt, als radikale kosovo-albanische Gruppen Angehörige der Kosovo-Serben und Roma angriffen, Häuser, orthodoxe Kirchen und Klöster in Brand steckten und zerstörten. Gewaltakte richteten sich auch gegen die UNMIK. Auslöser war der Tod zweier albanischer Kinder, die angeblich von Serben in einen See gehetzt worden waren.

Um radikalen Kräften den Wind aus den Segeln zu nehmen, beschloss die UN den Beginn von Verhandlungen über den Kosovo-Status, die der ehemalige finnische Präsident Martti Ahtisaari moderierte. Die Ergebnisse flossen in den "Ahtisaari-Vorschlag" einer "bedingten Unabhängigkeit" unter Aufsicht der internationalen Gemeinschaft ein, den er im März 2007 dem UN-Sicherheitsrat unterbreitete. Der Ahtisaari-Vorschlag bildete die Grundlage für die neue kosovarische Verfassung und die EULEX-Mission.

International sorgt die Unabhängigkeit Kosovos weiterhin für heftige Debatten. Die USA und die Mehrheit der EU-Staaten verstehen die Unabhängigkeit als legitime Abspaltung von Serbien, einem Staat, der die Rechte der kosovarischen Mehrheitsbevölkerung missachtete und systematisch unterdrückte. Sie berufen sich auf das in der UN-Charta verankerte Selbstbestimmungsrecht der Völker und betonen die Einzigartigkeit des Falls, der somit keine Präzedenzwirkung habe. Ebenfalls unter Berufung auf die UN-Charta betrachten Serbien, Russland und China die internationale Anerkennung des Kosovo als völkerrechtswidrige Verletzung der serbischen Souveränität, die den UN-Prinzipien der Nichteinmischung und territorialen Integrität zuwider laufe.

Auch die Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag (IGH) von 2010, die Unabhängigkeitserklärung der kosovarischen Regierung für rechtmäßig zu erklären, ändert nichts an der Kontroverse. Der IGH äußerte sich nicht zur Frage "Selbstbestimmungsrecht vs. staatliche Souveränität", sondern argumentierte, dass das Völkerrecht Unabhängigkeitserklärungen nicht verbiete. Da IGH-Urteile nicht bindend sind, ist es weiterhin jedem Staat überlassen, Kosovo anzuerkennen oder nicht.

Literatur und Links

Halbach, Uwe/Richter, Solveig/Schaller, Christian (2011): »Kosovo – Sonderfall mit Präzedenzwirkung? Völkerrechtliche und politische Entwicklungen nach dem Gutachten des Internationalen Gerichtshofs, SWP-Studie, Stiftung Wissenschaft und Politik Berlin, Mai 2011.«

Nietsch, Julia, (2009): Zivilgesellschaft in Kosovo und Bosnien-Herzegowina, in: Sterbling, Anton (Hrsg.): Zivilgesellschaftliche Entwicklungen in Südosteuropa. 46. Internationale Hochschulwoche der Südosteuropa-Gesellschaft in Tutzing 8.-12.10.2007, München: Otto Sagner, S. 239-251.

Nietsch, Julia (2006): Civil Society in Kosovo: The Interaction between local NGOs and the Provisional Institutions of Self-Government, Arbeitspapier Nr. 54, Österreichisches Institut für internationale Politik, Oktober.

»EU-Balkan, Themenheft Aus Politik und Zeitgeschichte (32-2008).«

»Calic, Marie-Janine (2008): Kosovo: der jüngste Staat in Europa, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ 32/2008).«

»Holm Sundhaussen (2003): Staatsbildung und ethnisch-nationale Gegensätze in Südosteuropa, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (B 10-11/2003).«

»Lothar Rühl (2001): Die NATO und ethnische Konflikte, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (B 20/2001)«

»Dérens, Jean-Arnault (2005): Kriege um Erinnerungen. Unmöglich: eine gemeinsame Geschichte des Kosovo, in: Le Monde diplomatique (7/2005)«

»EU-Beziehungen zu Kosovo (Deutsch, Englisch).«

»Webseite der OSZE "Mission in Kosovo" mit vielen Berichten über die lokale Regierung, das Rechtssystem, Medien, Bildung etc. (Englisch)«

»Publikationen des UN-Entwicklungsprogramms (UNDP) über Kosovo (Englisch, Albanisch, Serbisch)«

»"Beiträge zur Konfliktregion Jugoslawien" auf der Homepage der AG Friedensforschung der Universität Kassel«

»Berichte der "European Stability Initiative" über Kosovo (Deutsch, Englisch)«

»Wirtschaftsdaten über Serbien und Kosovo – Informationsportal des Wiener Instituts für Internationale Wirtschaftsstudien und der London School of Economics (Englisch)«
 

  Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/de/
 
Zur Person

Julia Nietsch

Julia Nietsch, geb. 1977, hat über drei Jahre auf dem Balkan gearbeitet. Sie hat in Düsseldorf Englisch, Französisch, Philosophie und in Paris Internationale Beziehungen und Entwicklungspolitik studiert. Seit 2005 promoviert sie über Zivilgesellschaft in Kosovo und Bosnien-Herzegowina.