Konfliktporträt: China - Xinjiang

Anspannung und Misstrauen bestimmen weiterhin die Situation in der autonomen Region Xinjiang im Westen Chinas. Am 2. Jahrestag der Unruhen vom Juli 2009 kam es erneut zu gewalttätigen Zusammenstößen zwischen der muslimischen Mehrheit der Uiguren, chinesischen Sicherheitskräften und der han-chinesischen Bevölkerung.

Aktuelle Situation

Nach den Unruhen Anfang Juli 2009 in der Regionshauptstadt Urumuqi ist die Situation in ganz Xinjiang weiterhin angespannt. Zuletzt war es Ende Juli 2011 im Süden der Region zu Angriffen von Uiguren auf han-chinesische Zivilisten bzw. Polizisten gekommen. Dutzende Menschen starben. Die Zentralregierunng hat daraufhin eine erneute zweimonatige Kampagne "Hart-Zuschlagen" mit Polizeikontrollen und -untersuchungen sowie beschleunigten Gerichtsprozessen initiiert. Peking macht militante Unabhängigkeitsbewegungen mit Kontakten nach Pakistan für die Attacken verantwortlich.

Bereits im Vorfeld der Jahrestage der Unruhen im Juli 2010 und 2011 hatten Einheiten der Militärpolizei verstärkte Präsenz in zahlreichen Städten gezeigt, Straßen und Zufahrtswege kontrolliert, Wohnungen und Fahrzeuge durchsucht sowie Ausweiskontrollen durchgeführt.

Bis dato gibt es keine offiziellen Gespräche zwischen chinesischen Kadern und Vertretern der uighurischen Unabhängigkeitsbewegung. Einzelne han-chinesische Intellektuelle setzen sich inzwischen öffentlich für einen Dialog mit den Uiguren und mehr Autonomie für Xinjiang ein. Hunderte unterzeichneten eine Petition für die Freilassung des nach den Unruhen im Juli 2009 vorrübergehend festgenommenen bekannten Dissidenten und Wirtschaftsprofessors Ilham Tohti.

Ursachen und Hintergründe

Am 5.7.2009 waren friedliche Demonstrationen von Uiguren in der Regionshauptstadt Urumuqi nach Zusammenstößen mit Sicherheitskräften zu gewalttätigen Attacken gegen han-chinesische Passanten eskaliert. Nach offiziellen Angaben starben 197 Menschen, mehr als 1.600 wurden verletzt. Tage vorher hatten u.a. uighurische Exil-Gruppen im Internet zu Demonstrationen aufgerufen. Die Demonstranten forderten die Aufklärung des Todes zweier uighurischer Wanderarbeiter bei Auseinandersetzungen in einer Spielzeugfabrik in Südchina Ende Juni. Dort hatten die Gerüchte um die Vergewaltigung einer uighurischen Wanderarbeiterin zu gewaltsamen Auseinandersetzungen geführt.
Nach mehreren Todesurteilen gegen Uiguren im unmittelbaren Zusammenhang mit den Unruhen sind 2010 eine Reihe weiterer uighurischer Intellektueller zu Haftstrafen zwischen fünf und 15 Jahren verurteilt worden.

Wie in Tibet sind die Auseinandersetzungen in Xinjiang durch ethno-politische Gegensätze bestimmt. Wachsende Unabhängigkeitsbestrebungen unter den Uiguren sowie die rigide Rohstoffausbeutung und Repressionspolitik Beijings verschärfen den Konflikt. Der 2004 aus verschiedenen uighurischen Gruppen geformte Weltkongress der Uiguren mit Sitz in München setzt sich für das Recht auf politische Selbstbestimmung in "Ostturkistan" ein. Die Bezeichnung bezieht sich auf den östlichen Teil der traditionellen Siedlungsgebiete der Turkvölker in Zentralasien. Die Region Turkistan umfasst Teile Afghanistans, Kasachstans, Kirgistans, Usbekistans und Westchinas.

Die seit 2006 amtierende Präsidentin des Weltkongresses Rebiya Kadeer ist besonders seit den Unruhen im Juli auch international zur Führungsfigur der uighurischen Widerstandbewegung geworden. Die einst reiche Geschäftsfrau und Mitglied der nationalen politischen Konsultativkonferenz saß von 1997 bis 2005 wegen ihres Engagements für uighurische Belange im Gefängnis. 2005 wurde sie auf Druck der USA freigelassen und abgeschoben.

Verbindungen zwischen dem Weltkongress und der militanten Islamischen Bewegung Ostturkistan sind nicht bekannt. Beide sind Teil der sehr heterogenen Unabhängigkeitsbewegung. Die Regierungen Chinas, der USA, Pakistans und Kasachstans sowie die UNO bezeichnen die Islamische Bewegung als terroristische Organisation. Peking macht ihre Anhänger für eine Reihe von Bombenanschlägen seit Mitte der 1990er Jahre verantwortlich. Die Gruppe selbst hat sich nie dazu geäußert. Nach Angaben von US-Behörden hat die Bewegung Verbindungen zu Al Qaida.

Jegliche Infragestellung der territorialen Zugehörigkeit Xinjiangs zu China ist aus Sicht der Regierung in Beijing nicht nur politisch, sondern auch geostrategisch (Grenzen mit sechs Ländern) und wirtschaftlich brisant. In der autonomen Region befinden sich rd. 30% der kontinentalen Ölreserven und 34% der Gasreserven Chinas. Staatliche, von Han-Chinesen dominierte Ölkonzerne sichern mit den Rohstoffen der Region das chinesische Wirtschaftswachstum. Die uighurische Bevölkerung, die in Xinjiang die Mehrheit stellt, profitiert aufgrund mangelnder Bildungs- und Kapitalressourcen sehr viel weniger von der wirtschaftlichen Entwicklung als die Han-Chinesen. Sie ist zudem einem pauschalen Misstrauen sowie zahlreichen Diskriminierungen ausgesetzt.
 

Bearbeitungs- und Lösungsansätze

Um eine umfassende Kontrolle über Xinjiang zu sichern, hat Beijing bereits 1954 die sog. Produktionsbrigaden (bingtuan) ins Leben gerufen. Heute umfassen sie rund 2 Mio. Menschen, davon sind über 80% Han-Chinesen. Zunächst wurden nach dem Bürgerkrieg demobilisierte Soldaten mit ihren Familien nach Xinjiang geschickt. Mit autonomer Verwaltungsautorität über verschiedene Städte sowie eigener sozialer Infrastruktur ausgestattet, sollten sie das Grenzland wirtschaftlich erschließen und die Kontrolle über die Uiguren gewährleisten. Der Anteil der han-chinesischen Bevölkerung in Xinjiang ist von knapp 4% 1947 auf über 40% gestiegen.

Besonders nach dem 11. September 2001 hat die chinesische Zentralregierung den Terrorismus-Vorwurf benutzt, um den Wunsch nach uighurischer Selbstbestimmung pauschal zu diskreditieren. Nach den Unruhen im Juli 2009 personalisierte Beijing, ähnlich wie im Falle der tibetischen Proteste, die Ursachen und die Verantwortung für die Krise und bezichtigte Rebiya Kadeer, die Proteste angezettelt zu haben.

Als Reaktion auf die Unruhen tauschte Beijng eine Reihe von hochrangigen Kadern in der Region aus. Im April 2010 löste Zhang Chunxian, vormals Parteisekretär der zentralchinesischen Provinz Hunan, den seit 1994 regierenden Wang Lequan ab. Nach wiederholten Zusammenstößen und Berichten über Attacken mit Injektionsspritzen auf Han-Chinesen hatten im September 2009 tausende Han-Chinesen in Urumuqi dessen Rücktritt gefordert.

Im Mai 2010 verkündete Beijing ein umfassendes regionales Entwicklungspaket für den Zeitraum von 2011-15 (ca. 217 Mrd. Yuan). Besonders im Süden sollen der Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen und die Infrastruktur verbessert werden. Neue Investoren genießen Steuervergünstigungen. In der Stadt Kashgar soll eine Sonderwirtschaftszone entstehen.

Geschichte des Konflikts

Nach der Festigung der chinesischen Herrschaft durch die Produktionsbrigaden und die Gründung der autonomen Region Xinjiang (1955) kam es regelmäßig zu Protesten. Bei der Revolte im Gemeindeverwaltungsbezirk Baren im April 1990 starben 50 Menschen. Auf die erste großangelegte Verhaftungswelle von Uiguren 1996 folgte im Februar 1997 der Aufstand von Ghulja/Yinning, bei dem mindestens neun Menschen starben. Nach wiederholten Bombenattacken mit Todesopfern und Repressionsakten in den 1990er Jahren blieb die Lage von 2000 bis 2006 überwiegend ruhig. Im Januar 2007 stürmten chinesische Sicherheitskräfte ein vermeintliches terroristisches Basislager der Islamischen Bewegung Ostturkistan an der Südgrenze Xinjiangs und erschossen 18 Uiguren. Unmittelbar vor Beginn der Olympischen Sommerspiele 2008 wurden 16 chinesische Sicherheitsbeamte durch eine Bombenattacke auf eine Polizeistation in der Stadt Kashgar getötet.

Ähnlich wie im Tibet-Konflikt vertreten die uighurische und die chinesische Seite unterschiedliche Auffassungen in Bezug auf die Geschichte Xinjiangs. Uiguren verweisen neben der Entstehung unabhängiger uighurischer Imperien in der Region des heutigen Xinjiang nach dem 8. Jh. besonders auf die Ausrufung der ersten Republik Ostturkistans durch Uiguren und andere Turkvölker im November 1933 im Gebiet um die Stadt Kashgar. Durch den Einfall von hui-chinesischen Warlords kam sie 1934 zu Fall. Von 1944 bis 1949 entstand mit sowjetischer Hilfe im Norden Xinjiangs die zweite Republik Ostturkistan, die durch die Ankunft der chinesischen Volksbefreiungsarmee zu Ende ging.

Aus Sicht der Uiguren haben die Chinesen damals den unabhängigen Staat gewaltsam besetzt. Für China war die Errichtung der 2. Republik Teil der kommunistischen Revolution. Die chinesischen Soldaten seien laut Beijing von den Uiguren als Befreier begrüßt worden. Auch verweist China auf die Zugehörigkeit der Region zum chinesischen Kaiserreich der Qing. 1882/84 schloss der damalige Kaiser Guangxu das Gebiet als Provinz mit dem Namen "Xinjiang" (Neues Land) dem Reich an.

Literatur

Clarke, Michael E. et al. (Hrsg.) (2011): Xinjiang and China`s Rise in Central Asia. A History, London: Routledge.

Dillon, Michael (2004): Xinjiang – China's Muslims Far Northwest, London/New York: Routledge.

Hahn, Patricia von (2008): Freiheitskämpfer oder Terroristen? Die Uiguren Chinas, Saarbrücken: Vdm Verlag Dr. Müller.

Starr, S. Frederick (2004): Xinjiang. China`s Muslim Borderland, Armonk/London: M.E. Sharpe.

Links

»Gladney, Dru C. (2009): An Ethnic Struggle in China Goes Global.«

»Shan, Wei/ Wenig, Cuifen (2010): China's New Policy in Xinjiang and its Challenges, East Asia Policy, Vol. 2, No. 3«

»Wacker, Gudrun (2009): Unruhen in China. Ethnischer Konflikt und ihr sozialer Kontext, SWP-Aktuell 39, Juli 2009.«
 
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Zur Person

Kristin Kupfer

Dr. Kristin Kupfer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am sinologischen Institut der Alberts-Ludwigs-Universität Freiburg. Von Mai 2007 bis Februar 2011 hat sie als freie Journalistin in Beijing gearbeitet.