ecoi.net-Themendossier zu Afghanistan: Überblick über die Sicherheitslage in Afghanistan

Die ecoi.net-Themendossiers bieten einen Überblick zu einem ausgewählten Thema. Das Themendossier Afghanistan behandelt die allgemeine Sicherheitslage im Land. Die Informationen stammen aus ausgewählten Quellen und erheben nicht den Anspruch vollständig zu sein. Erstellt von ACCORD.

1. Sicherheitslage im Land
2. Staatliche und nicht-staatliche Akteure
2.1. Afghanische Regierung und Sicherheitskräfte
2.2. Aufständische Gruppen
3. Quellen

Anmerkung: Informationen zur Sicherheitslage und sozioökonomischen Lage in Herat und Masar-e Scharif finden sich unter dem folgenden Link: https://www.ecoi.net/de/laender/afghanistan/themendossiers/sicherheitslage-und-soziooekonomische-lage-in-herat-und-masar-e-scharif/

Überblick über die Sicherheitslage in Afghanistan

1. Sicherheitslage im Land

Informationen zur Sicherheitslage in Afghanistan im Zeitraum Jänner 2010 bis September 2018 finden sich in einem von ACCORD zusammengestellten im Dezember 2018 veröffentlichten Bericht zur Entwicklung der wirtschaftlichen Situation, der Versorgungs- und Sicherheitslage. (ACCORD, 7. Dezember 2018)

2020

Im Februar 2020 unterzeichneten die afghanischen Taliban ein Friedensabkommen mit den USA, mit Blick auf einen beabsichtigten Abzug der US-Truppen. (AI, 7. April 2021)[i]

Laut SIGAR bestätigte US-Verteidigungsminister Mark Esper am 2. März 2020, dass er den in Afghanistan stationierten US-Streitkräften befohlen hat, mit einem schrittweisen Abzug der US-Truppen aus Afghanistan zu beginnen, wie es in der am 29. Februar 2020 zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban unterzeichneten Vereinbarung festgelegt worden war. Die USA haben sich in der Vereinbarung dazu verpflichtet, die Zahl ihrer Truppen in Afghanistan innerhalb von 135 Tagen nach Unterzeichnung auf 8.600 zu reduzieren und innerhalb von 14 Monaten alle Truppen abzuziehen, sollten die Taliban die in der Vereinbarung festgelegten Bedingungen erfüllen. Am 18. März bestätigte der Sprecher der US-Truppen in Afghanistan, dass der Abzug der US-Truppen im Gange sei, gab aber nicht an, wie viele bereits abgezogen wurden oder wie viele noch im Land sind. (SIGAR, 30. April 2020, S. 70)[ii]

Laut einem Bericht der International Crisis Group (ICG) vom August 2020 gaben die Taliban Ende Mai bekannt, dass sie während der islamischen Feiertage zu Eid al-Fitr einen dreitägigen Waffenstillstand einhalten würden – dies war erst das zweite Mal, dass die Gruppe einen Waffenstillstand angeboten hatte. Die afghanische Regierung bestätigte rasch, dass auch ihre Kräfte Feindseligkeiten einstellen würden. Am Ende dieser drei Tage signalisierten beide Parteien, dass sie weiterhin ein verringertes Gewaltlevel beibehalten und die schrittweise Freilassung der Gefangenen fortsetzen würden, bis zum Beginn der innerafghanischen Gespräche. (ICG, 11. August 2020, S. 2)[iii]

Die Beobachtung und Dokumentation der zivilen Opfer während des Waffenstillstands zu Eid al-Fitr durch die UNAMA zeigen, dass die Konfliktparteien bei vorhandenem politischem Willen tatsächlich die Möglichkeit haben, die Kämpfe zu reduzieren, was sich positiv auf die Zivilbevölkerung auswirkt. Während der drei Tage von Eid (24. bis 26. Mai) dokumentierte die UNAMA um 45 Prozent weniger zivile Opfer als durchschnitlich während eines Dreitageszeitraums im Mai, nämlich 49 zivile Opfer (27 Tote und 22 Verletzte). (UNAMA, Juli 2020, S. 6)[iv]

Nach der Unterzeichnung des Abkommens zwischen den USA und den Taliban und der Veröffentlichung der gemeinsamen Erklärung der USA und Afghanistans am 29. Februar hörten die Angriffe auf die US- und Koalitionstruppen weitgehend auf, aber die Gewalt gegen afghanische Sicherheitskräfte und ZivilistInnen hielt an, auch nach dem Beginn der innerafghanischen Verhandlungen am 12. September. (USDOS, 30. März 2021)[v]

Laut einem Artikel des AAN ist der Krieg in Afghanistan jetzt noch mehr als zuvor [vor dem Abkommen der USA mit den Taliban] ein innerafghanischer Krieg. Es werden zwar alle afghanischen Konfliktparteien aus dem Ausland unterstützt, die Tötenden und die Getöteten sind mittlerweile fast alle Afghanen. Auch im Jahr 2020 hat sich der Konflikt trotz der Coronavirus-Pandemie und des Friedensprozesses unvermindert fortgesetzt. In der Tat schien es oft, dass der Krieg die einzige Aktivität war, die von Covid-19 nicht betroffen war. Das Abkommen zwischen den USA und den Taliban sowie die geplanten innerafghanischen Gespräche haben der afghanischen Zivilbevölkerung bisher insgesamt nur wenige Vorteile gebracht, wahrscheinlich jedoch mehr für diejenigen, die in von Taliban gehaltenen Gebieten leben und in Städten, die von Nachtangriffen und US-Luftangriffen verschont geblieben sind und wo es weniger groß angelegte urbane Angriffe gab. (AAN, 16. August 2020)[vi]

Für Zivilpersonen, die mitten in Gebieten leben, die von den Taliban kontrolliert werden, und die ohne die Bedrohung durch Luftangriffe, groß angelegte Bodenoperationen oder nächtliche Razzien leben, hat das Leben eine Normalität angenommen, die viele seit Jahren nicht mehr kannten; in Gebieten, die von der Regierung kontrolliert werden, ist das Risiko, abgesehen von der geringeren Wahrscheinlichkeit, in groß angelegte terroristische Angriffe verwickelt zu werden, in etwa das gleiche wie vor der Unterzeichnung des Doha-Abkommens. Für Menschen, die in umkämpften Gebieten leben, bedeutet die defensive Haltung der Afghanischen Nationalarmee (ANSF), dass Angriffe der Taliban auf ANSF-Stellungen häufiger geworden sind, ebenso wie wahllose Reaktionen der ANSF; das Risiko für Zivilpersonen, ins Kreuzfeuer zu geraten, hat zugenommen; (AAN, 28 Oktober 2020)

Am 17. November kündigte der amtierende Verteidigungsminister Christopher Miller eine weitere Reduzierung der US-Truppenstärke in Afghanistan an, von den im November [2020] erreichten 4.000-5.000 auf 2.500 bis zum 15. Jänner 2021. (SIGAR, 30. Jänner 2021, S. 47)

Die Friedensverhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban wurden in diesem Quartal [Oktober - Dezember 2020] inmitten eines anhaltend hohen Niveaus an aufständischer und extremistischer Gewalt in Afghanistan fortgesetzt. (SIGAR, 30. Jänner 2021, S. 47)

Nach Erkenntnissen der Afghanistan Independent Human Rights Commission (AIHRC) wurden im Jahr 2020 insgesamt 8.500 ZivilistInnen getötet oder verletzt, davon 2.958 getötet und 5.542 verletzt. Diese Zahlen zeigen einen Rückgang der Zahl der zivilen Opfer um 21 Prozent. Die Gesamtzahl der zivilen Opfer im Jahr 2019 betrug 10.772; 2.817 Getötete und 7955 Verletzte. Die von AIHRC erfassten Daten zeigen, dass von den insgesamt 8.500 zivilen Opfern 5.539 männlich, 847 weiblich und 2019 Kinder sind. Das Geschlecht von 95 dieser Opfer konnte nicht identifiziert werden. Der Bericht der AIHRC über zivile Opfer zeigt, dass im Jahr 2020 alle 24 Stunden im Durchschnitt acht ZivilistInnen getötet und 15 verletzt wurden. (AIHRC, 28. Jänner 2021)[vii]

Die Verantwortlichen für zivile Opfer in Afghanistan im Jahr 2020:

Die Taliban: Nach Erkenntnissen von AIHRC sind die zivilen Opfer durch Angriffe der Taliban im Jahr 2020 im Vergleich zu 2019 um 40 Prozent zurückgegangen. Der Hauptgrund für diesen Rückgang könnte darin liegen, dass die Taliban keine komplexen Anschläge und Selbstmordattentate in den großen Städten des Landes durchführten. Im Jahr 2020 wurden in Afghanistan insgesamt 4.567 ZivilistInnen durch Taliban-Angriffe getötet oder verletzt [1.523 Tote und 3.044 Verletzte], während im gleichen Zeitraum 2019 die Gesamtzahl der durch Taliban-Angriffe verursachten zivilen Opfer 7.727 betrug.

ISIS: Die von AIHRC erfassten Daten zeigen, dass die Zahl der zivilen Opfer aufgrund von ISIS-Angriffen im Jahr 2020 im Vergleich zu 2019 um 21 Prozent gesunken ist. Die Gesamtzahl der durch ISIS-Angriffe in Afghanistan im Jahr 2020 getöteten oder verletzten ZivilistInnen [160 getötete und 243 verletzte] beträgt 403; während die Gesamtzahl der durch ISIS in Afghanistan im Jahr 2019 getöteten oder verletzten ZivilistInnen 515 betrug.

Regierungsnahe Kräfte und ihre internationalen Verbündeten: Die Zahl der zivilen Opfer, die von regierungsnahen Kräften und ihren internationalen Verbündeten verursacht wurden, ging um 16 Prozent zurück. Die Regierung und ihre verbündeten Kräfte verursachten 1.490 zivile Opfer im Jahr 2019, während sie im Jahr 2020 1.249 zivile Opfer verursachten [386 Tote und 863 Verletzte].

Unbekannte Täter: Die Zahl der zivilen Opfer, die von unbekannten Tätern verschuldet wurden, hat sich im Jahr 2020 mehr als verdoppelt. [...] Für 2.107 zivile Opfer (857 Tote und 1.250 Verletzte), die 2020 in Afghanistan zu verzeichnen waren, haben keine Gruppen oder Einzelpersonen die Verantwortung übernommen. Weitere 174 ZivilistInnen waren durch pakistanischen Raketenbeschuss in Afghanistan betroffen, darunter 31 Tote und 143 Verletzte. (AIHRC, 28. Jänner 2021)

Vom 1. Jänner bis zum 31. Dezember 2020 verzeichnete UNAMA 8.820 zivile Opfer (3.035 Getötete und 5.785 Verletzte), ein Rückgang um 15 Prozent gegenüber der Zahl der zivilen Opfer im Jahr 2019 und die niedrigste Zahl von zivilen Opfern seit 2013. (UNAMA, Februar 2021, S. 11)

Der Jahresbericht der UNAMA vom Februar 2021 über zivile Opfer im Jahr 2020 enthält die folgende Grafik:

(UNAMA, Februar 2021, S. 12)

Obwohl UNAMA den allgemeinen Rückgang der zivilen Opfer begrüßt, ist der Anstieg im letzten Quartal 2020 besonders besorgniserregend, zumal dies mit dem formellen Beginn der Friedensverhandlungen in Afghanistan am 12. September 2020 zusammenfällt. Es war das erste Mal seit Beginn der systematischen Dokumentation im Jahr 2009, dass UNAMA im vierten Quartal einen Anstieg der Zahl der zivilen Opfer im Vergleich zum Vorquartal verzeichnete. Darüber hinaus verzeichneten die letzten drei Monate des Jahres 2020 einen Anstieg der zivilen Opfer um 45 Prozent im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Jahres 2019, insbesondere durch den Einsatz von improvisierten Sprengsätzen (IEDs) und gezielte Tötungen. Als besorgniserregend stuft UNAMA auch den Anstieg der zivilen Opfer durch Taktiken ein, die das Umfeld der Angst verschärfen und viele Teile der Gesellschaft lähmen. (UNAMA, Februar 2021, S. 11)

(UNAMA, Februar 2021, S. 11)

Vom 1. Jänner bis 31. Dezember 2020 schrieb UNAMA 62 Prozent aller zivilen Opfer regierungsfeindlichen Elementen zu, wobei 45 Prozent den Taliban, acht Prozent ISIL-KP und neun Prozent unbestimmten regierungsfeindlichen Elementen zugeschrieben wurden. Regierungsnahe Kräfte verursachten 25 Prozent der zivilen Opfer im Jahr 2020. UNAMA schrieb 22 Prozent der zivilen Opfer den afghanischen nationalen Sicherheitskräften zu und jeweils ein Prozent den internationalen Streitkräften, bewaffneten regierungsnahen Gruppen und unbestimmten oder mehreren regierungsnahen Kräften. (UNAMA, Februar 2021, S. 17)

Der UNAMA-Jahresbericht für 2020 enthält auch eine Tabelle mit zivilen Opfern, die von den jeweiligen Konfliktparteien verursacht wurden:

(UNAMA, Februar 2021, S. 17)

Die New York Times bestätigte 3.378 Sicherheitskräfte und 1.468 Zivilpersonen, die im Jahr 2020 in Afghanistan getötet wurden. [Anmerkung: Die Zahlen der New York Times (NYT) sind aus methodologischen Gründen niedriger als die von UNAMA. Der hier zitierte Afghan War Casualty Report der NYT umfasst alle bedeutenden Sicherheitsvorfälle, die von Reportern der New York Times in ganz Afghanistan bestätigt wurden. Er ist notwendigerweise unvollständig, da viele lokale Beamte sich weigern würden, Angaben zu Opfern zu bestätigen.] (NYT, 31 December 2020)[viii]

2021

Die Vereinten Nationen verzeichneten zwischen dem 13. November und dem 11. Februar 7.138 sicherheitsrelevante Vorfälle, ein Anstieg um 46,7 Prozent im Vergleich zum selben Zeitraum im Jahr 2020 und im Gegensatz zu den traditionell niedrigeren Zahlen während der Wintersaison. Die etablierten Trends der Art der Vorfälle blieben unverändert, wobei bewaffnete Zusammenstöße 63,6 Prozent aller Vorfälle ausmachten. Regierungsfeindliche Elemente waren für 85,7 Prozent aller sicherheitsrelevanten Vorfälle verantwortlich, einschließlich 92,1 Prozent der bewaffneten Zusammenstöße. Die südlichen, gefolgt von den östlichen und nördlichen Regionen, verzeichneten die meisten sicherheitsrelevanten Vorfälle. Auf diese Regionen entfielen zusammen 68,9 Prozent aller registrierten Vorfälle, wobei die meisten Vorfälle in den Provinzen Helmand, Kandahar, Nangarhar und Balkh verzeichnet wurden. [...] Keine Konfliktpartei konnte nennenswerte Gebietsgewinne erzielen. Die Taliban hielten den Druck auf wichtige Verkehrsachsen und städtische Zentren aufrecht, darunter auch gefährdete Provinzhauptstädte wie in den Provinzen Farah, Kunduz, Helmand und Kandahar. Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte führten weiterhin Operationen durch, um wichtige Fernstraßen zu sichern und Taliban-Gewinne wieder zurückzubringen, insbesondere im Süden nach den jüngsten Offensiven der Taliban auf die Städte Lashkar Gah und Kandahar. (UNGA, 12. März 2021, S. 5)[ix]

Am 15. Jänner gaben die Vereinigten Staaten bekannt, dass ihre Streitkräfte in Afghanistan auf 2.500 reduziert wurden. (UNGA, 12. März 2021, S. 3)

NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg gab bekannt, dass die Verteidigungsminister beschlossen haben, eine endgültige Entscheidung über die Zukunft der NATO-Präsenz in Afghanistan bis zu weiteren Konsultationen vor dem Stichtag 1. Mai 2021 aufzuschieben. (UNGA, 12. März 2021, S. 4)

Zwischen dem 1. Jänner und dem 31. März 2021 verzeichnete die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) 1.783 zivile Opfer (573 Tote und 1.210 Verletzte), was die dringende Notwendigkeit von Maßnahmen zur Verringerung der Gewalt und die ultimative, übergeordnete Notwendigkeit, ein dauerhaftes Friedensabkommen zu erreichen, unterstreicht. Die Zahl der getöteten und verletzten ZivilistInnen stieg im Vergleich zum ersten Quartal 2020 um 29 Prozent; dies umfasste auch einen Anstieg in den Opferzahlen sowohl bei Frauen (plus 37 Prozent) als auch bei Kindern (plus 23 Prozent). (UNAMA, April 2021, S. 1)

Der UNAMA-Bericht über zivile Opfer für das erste Quartal 2021 enthält die folgende Tabelle zu zivilen Opfern:

(UNAMA, April 2021, S. 1)

Der Anstieg der zivilen Opfer im Vergleich zum ersten Quartal 2020 war hauptsächlich auf dieselben Trends zurückzuführen, die den Anstieg der zivilen Opfer im letzten Quartal des vergangenen Jahres verursachten - Bodengefechte, improvisierte Sprengsätze (IEDs) und gezielte Tötungen hatten alle weiterhin extreme Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung während des diesjährigen vergleichsweise warmen Winters. Darüber hinaus gab es keine Vereinbarung der Parteien, die Gewalt in den ersten drei Monaten des Jahres 2021 zu reduzieren, was eine signifikant positive Auswirkung auf die Zivilbevölkerung hätte haben können, so wie die "Reduzierung der Gewalt"-Woche im Februar 2020. (UNAMA, April 2021, S. 1)

In den ersten drei Monaten des Jahres 2021 waren regierungsfeindliche Kräfte weiterhin für die Mehrheit (61 Prozent) aller zivilen Opfer verantwortlich, während regierungsfreundliche Kräfte weiterhin etwa ein Viertel (27 Prozent) der gesamten zivilen Opfer verursachten. UNAMA dokumentierte einen Anstieg der Zahl der zivilen Opfer, die sowohl den Taliban (Anstieg um 39 Prozent) als auch der Afghanischen Nationalen Armee (Anstieg um 35 Prozent) zugeschrieben werden, wobei die Taliban für 43,5 Prozent aller zivilen Opfer und die Afghanische Nationale Armee für 17 Prozent verantwortlich sind. UNAMA ist nach wie vor zutiefst besorgt über die anhaltenden gezielten Angriffe auf ZivilistInnen durch regierungsfeindliche Elemente, insbesondere durch gezielte Tötungen. Im gesamten ersten Quartal 2021 wurden diese Angriffe fortgesetzt, einschließlich der Angriffe auf MedienmitarbeiterInnen, AktivistInnen der Zivilgesellschaft, Mitglieder der Justiz und der zivilen Regierungsverwaltung, einschließlich eines besonders besorgniserregenden Trends der gezielten Tötung von Frauen. (UNAMA, April 2021, S. 3)

Am 14. April kündigte US-Präsident Joe Biden den Truppenanzug der USA wie auch der NATO-Verbündeten bis 11. September 2021 an. Zwar kam diese Ankündigung aufgrund des im Februar 2020 in Doha unterzeichneten Abkommens zwischen den USA und den Taliban nicht ganz unerwartet, allerdings doch mit deutlichen Abweichungen von dem, was ursprünglich erwartet wurde. Auf der Grundlage des Doha-Abkommens zwischen den USA und den Taliban wurde davon ausgegangen, dass die Bedingungen für einen vollständigen Abzug ausländischer Streitkräfte ein deutlicher Rückgang der Gewalt und zumindest die Schaffung eines Rahmens für die politische Einigung zwischen der Regierung und den Taliban wären. Biden stellte jedoch klar, dass dies nicht der Fall sei, indem er darauf verwies, dass amerikanische Truppen nicht als Druckmittel zwischen Kriegsparteien in anderen Ländern benutzt werden sollten. Die Ankündigung des Truppenabzuges löste eine Reihe an Reaktionen aus, die sich auf die politische und sicherheitspolitische Situation Afghanistans auswirken. Die Entscheidung, den Truppenabzug vollständig und bedingungslos durchzuführen, hat in Verbindung mit der anhaltenden Weigerung der Taliban, mit der Regierung ernsthaft in Verhandlungen zu treten, den Eindruck erweckt, dass die Taliban nach dem vollständigen Abzug der ausländischen Truppen im September auf eine militärische Übernahme des Landes drängen werden. Besonders hervorzuheben ist, dass Machthaber zum ersten Mal seit 20 Jahren öffentlich über die Mobilisierung bewaffneter Kräfte außerhalb der ANSF- und Regierungsstrukturen sprechen. Während die Existenz von Milizen für viele Afghanen seit Jahren auf lokaler Ebene eine Realität darstellt, wurden noch nie öffentliche Äußerungen über die Notwendigkeit einer Mobilisierung oder der Wunsch, autonome Einflusssphären zu schaffen, so deutlich bekundet. (AAN, 10. Juni 2021)

Die Washington Post berichtete, dass der oberste amerikanische Militärkommandant in Afghanistan, Austin 'Scott' Miller, Ende Juni seine tiefe Besorgnis darüber äußerte, dass Afghanistan in einen chaotischen Bürgerkrieg abgleiten und sehr harten Zeiten gegenüberstehen könnte. Dies könnte seiner Ansicht nach eintreten, wenn sich die gespaltene zivile Führung nicht einigt und die breite Anzahl bewaffneter Gruppen, die sich dem Anti-Taliban-Kampf anschließen, nicht kontrolliert und für ihre Handlungen im Kampf verantwortlich gemacht werden. Die düstere Einschätzung von General Austin "Scott" Miller kam zum Zeitpunkt, als die Taliban-Kräfte ihren schnellen Vormarsch durch die nordafghanischen Provinzen fortsetzten und in andere ländliche Regionen vordrangen sowie begannen, sich der Hauptstadt zu nähern. (Washington Post, 29. Juni 2021)x

Das Wall Street Journal berichtet, dass auch die US-Geheimdienste Mitte Juni zum Schluss kamen, dass die Gefahr besteht, dass die afghanische Regierung bereits sechs Monate nach Abschluss des amerikanischen Truppenabzuges zusammenbrechen könnte. Die amerikanischen Geheimdienste revidierten damit ihre zuvor optimistischeren Einschätzungen, nachdem die Taliban zuvor in Nordafghanistan dutzende Bezirke und umliegende Großstädte eingenommen hatten. Afghanische Sicherheitskräfte ergaben sich häufig kampflos und überließen ihre Militärfahrzeuge und andere von den Amerikanern gelieferte Ausrüstung den Aufständischen. Zu Kämpfen der Taliban gegen Regierungstruppen war es auch in der nördlichen Stadt Kundus gekommen, nachdem die Taliban am Vortag den wichtigsten Grenzübergang zu Tadschikistan eingenommen und die Außenbezirke von Mazar-e-Sharif, dem wichtigsten Zentrum Nordafghanistans, erreicht hatten. Tadschikistans Grenzdienst sagte, dass 134 afghanische Truppen am Grenzübergang Zuflucht gefunden haben, während etwa 100 andere von den Taliban getötet oder gefangen genommen wurden. (WSJ, 23. Juni 2021)xi

Al Jazeera berichtete Anfang Juli, dass die Taliban mittlerweile etwa ein Drittel aller 421 Distrikte und Distriktzentren in Afghanistan kontrollieren. Darunter auch strategisch relevante Gebiete im Norden, die entlang der afghanischen Grenze zu den zentralasiatischen Nachbarstaaten verlaufen. Im Juni übernahmen die Taliban die Kontrolle über eine Stadt in der Provinz Kundus an der Grenze zu Usbekistan, und gewannen die Kontrolle über eine wichtige Handelsroute. (Al Jazeera, 4. Juli 2021)

Im Mai wurden in Afghanistan 260 zivile Opfer und 405 Opfer unter den Regierungskräften verzeichnet, die höchste Anzahl an Todesopfer in einem einzelnen Monat seit Juli 2019. (NYT, 3. Juni 2021) Im Juni starben 206 ZivilistInnen und 703 Mitglieder der afghanischen Sicherheitskräfte, dies stellt die höchste Opferzahl unter Sicherheitskräften seit Beginn der Aufzeichnungen der New York Times im September 2018 dar.(NYT, 1. Juli 2021) [Anmerkung: Die Zahlen der New York Times (NYT) sind aus methodischen Gründen niedriger als die der UNAMA. Der zitierte NYT Afghan War Casualty Report enthält alle signifikanten Sicherheitsvorfälle, die von New York Times-Reportern bestätigt wurden. Die Zahlen sind nach Angaben der NYT unvollständig, da viele lokale Beamte die Angaben zu den Opfern nicht bestätigen.]

2. Staatliche und nicht-staatliche Akteure

2.1. Afghanische Regierung und Sicherheitskräfte

Laut dem Menschenrechtsbericht des US-amerikanischen Außenministeriums (US Department of State, USDOS) für das Jahr 2020 teilen sich drei Regierungsstellen die Verantwortung für die Durchsetzung der Gesetze und die Aufrechterhaltung der Ordnung im Land: das Innenministerium, das Verteidigungsministerium und das Nationale Direktorat für Sicherheit. Die afghanische Nationalpolizei [Afghan National Police], die dem Innenministerium unterstellt ist, trägt die Hauptverantwortung für die innere Ordnung und für die afghanische Lokalpolizei [Afghan Local Police], eine gemeindebasierte Selbstverteidigungstruppe, die rechtlich nicht befugt ist, Verhaftungen vorzunehmen oder Verbrechen unabhängig zu untersuchen. Im Juni kündigte Präsident Ghani Pläne an, die afghanische Lokalpolizei in andere Zweige der Sicherheitskräfte einzugliedern, vorausgesetzt, die Personen können eine Laufbahn vorweisen, die frei von Vorwürfen der Korruption und Menschenrechtsverletzungen ist. Zum Jahresende war die Umsetzung dieser Pläne im Gange. Die Major Crimes Task Force, die ebenfalls dem Innenministerium unterstellt ist, untersucht schwerwiegende Straftaten wie Korruption in der Regierung, Menschenhandel und kriminelle Organisationen. Die dem Verteidigungsministerium unterstellte Afghanische Nationalarmee [Afghan National Army] ist für die äußere Sicherheit zuständig, ihre Hauptaufgabe ist jedoch die Bekämpfung der Aufstände im Inneren. Das Nationale Direktorat für Sicherheit fungiert als Nachrichtendienst und ist für die Untersuchung von Kriminalfällen zuständig, die die nationale Sicherheit betreffen. Einige Gebiete des Landes befanden sich außerhalb der Kontrolle der Regierung, und regierungsfeindliche Kräfte, darunter die Taliban, richteten ihre eigenen Justiz- und Sicherheitssysteme ein. Die zivilen Behörden behielten im Allgemeinen die Kontrolle über die Sicherheitskräfte, obwohl die Sicherheitskräfte gelegentlich unabhängig agierten. Angehörige der Sicherheitskräfte begingen zahlreiche Übergriffe. (USDOS, 30. März 2021, executive summary)

Mit Stand vom 28. Januar 2021 meldete die US-geführte multinationale Militärorganisation CSTC-A [Combined Security Transition Command-Afghanistan] 307.947 Mitglieder der ANDSF [Afghanische Nationale Verteidigungs- und Sicherheitskräfte, Afghan National Defence and Security Forces] (186.859 MOD [Verteidigungsministerium] und 121.088 MOI [Innenministerium]), die biometrisch erfasst sind und Anspruch auf Bezahlung im afghanischen Mitarbeiter- und Bezahlsystem [Afghan Personnel and Pay System, APPS] haben. Zusätzlich gibt es 7.715 ZivilistInnen (3.031 MOD und 3.579 MOI). (SIGAR, 30. April 2021, p. 66)

Am 30. September endete die Finanzierung der afghanischen Lokalpolizei (Afghan Local Police - ALP), der größten und am längsten bestehenden afghanischen lokalen Verteidigungseinheit. Obwohl die Regierung seit mehr als einem Jahr wusste, dass dies geschehen würde, entschied sie erst im Frühsommer, was mit den Zehntausenden an Personal der ALP, die in mehr als 150 Distrikten und fast jeder Provinz präsent sind, geschehen soll. Die Truppe hat eine gemischte Bilanz vorzuweisen: Einige Einheiten haben ihre Gemeinden effektiv und entschlossen verteidigt, während andere sich so schlecht verhielten, dass sie Unterstützung für die Taliban hervorriefen. Doch wie auch immer die Bilanz der einzelnen Einheiten ausfällt, die Auflösung der Truppe wird zwangsläufig Auswirkungen auf die Sicherheit haben. [...] Der Plan sieht vor, dass ein Drittel der ALP entwaffnet und in den Ruhestand versetzt wird, ein Drittel in die Afghanische Nationalpolizei (ANP) und ein Drittel in die Afghanische Nationale Armee (Afghan National Army Territorial Force - ANA-TF) überführt wird. Die Innen- und Verteidigungsministerien haben nun drei Monate Zeit, um die rund 18.000 bewaffneten Männer zu sortieren, zu versetzen und umzuschulen oder zu entwaffnen und in den Ruhestand zu versetzen, die sich in 31 der 34 Provinzen Afghanistans aufhalten - inmitten eines Krieges und einer immer noch andauernden Pandemie. (AAN, 6. Oktober 2020)

Die Afghan National Army Territorial Force (ANA-TF) ist das neueste ANDSF-Truppenelement. Sie ist für das Halten von Gebieten in permissiven (weniger gewalttätigen) Sicherheitsumgebungen verantwortlich. Die ANA-TF untersteht direkt dem Kommando des regulären ANA-Korps und ist als leicht bewaffnete lokale Sicherheitskraft konzipiert, die der Zentralregierung gegenüber rechenschaftspflichtiger ist als lokale Kräfte wie die inzwischen aufgelöste Afghan Local Police (ALP). (SIGAR, 30. April 2021, S. 70)

Associated Press berichtet im Juni, dass die aufgrund des Vormarsches der Taliban besorgte Regierung die so genannte „Nationale Mobilisierung“ einleitete und lokale Freiwillige bewaffnete. Laut BeobachterInnen würde dieser Schritt nur Milizen wiederbeleben, die lokalen Kommandeuren oder mächtigen, mit Kabul verbündeten Warlords loyal verbunden sind. Diese hatten die afghanische Hauptstadt während der interfraktionellen Kämpfe der 1990er Jahre verwüstet und Tausende von ZivilistInnen getötet. (AP, 25. Juni 2021)[xii]

Das im März 2018 erschienene Gutachten zu Afghanistan von Friederike Stahlmann enthält weitere ausführliche Informationen zu den staatlichen bzw. staatlich tolerierten Akteuren in Afghanistan. (Stahlmann, 28. März 2018, Abschnitt 3.2)[xiii]

2.2. Aufständische Gruppen

Die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UN Assistance Mission in Afghanistan, UNAMA) verwendet in ihren Berichten den Begriff „regierungsfeindliche Elemente“, dem sie die Taliban wie auch andere nichtstaatlich organisierte bewaffnete Gruppen, die sich direkt an den Angriffen auf regierungsfreundliche Kräfte beteiligen, zuordnet. Diese umfassen neben den Taliban das Haqqani-Netzwerk (das unter der Führung der Taliban operiert und weitgehend der Politik und den Anweisungen der Taliban folgt), al-Qaida, die Islamische Bewegung Usbekistans, Laschkar-e-Taiba, Jaish-e Muhammed und andere Milizen, die sich als "Islamischer Staat im Irak und in der Levante - Provinz Chorasan" bezeichnen oder als „Daesh“ (arabisches Akronym für den Islamischen Staat, Anm. ACCORD) identifiziert werden, Islamische Dschihad-Union, sowie andere Milizen und bewaffnete Gruppen, die politische, ideologische oder wirtschaftliche Ziele verfolgen, einschließlich bewaffneter krimineller Gruppen, die direkt an feindseligen Handlungen im Namen anderer regierungsfeindlicher Elemente beteiligt sind. (UNAMA, Februar 2021, S. 102)

Terroristische und aufständische Gruppen beuten Gebiete Afghanistans aus, in denen ein Machtvakuum herrscht, die Grenzregion zwischen Afghanistan und Pakistan miteingeschlossen. Die ISKP-Elemente von al-Qaida und terroristische Gruppen, die Pakistan angreifen, wie die Tehrik-e-Taliban Pakistan (TTP), nutzen die Grenzregion zwischen Afghanistan und Pakistan weiterhin als sicheren Hafen. Die Regierung der nationalen Einheit (Government of National Unity, GNU), rang um die Kontrolle dieser abgelegenen Gegend, in der die Bevölkerung großteils von nationalen Einrichtungen abgeschnitten ist. (USDOS, 1. November 2019)

Taliban

Laut dem US-amerikanische Congressional Research Service (CRS) bilden die Taliban nach wie vor den Kern der Widerstandsbewegung in Afghanistan. In einer Erklärung vom Juli 2015 verlautbarten die Taliban, dass der ursprüngliche Anführer der Bewegung, Mullah Umar, bereits 2013 verstorben war. Aus einem umstrittenen Auswahlprozess ging Akhtar Mohammad Mansour als Nachfolger Umars hervor. Mansour wurde seinerseits am 21. Mai 2016 durch einen US-Drohnenangriff getötet. Wenige Tage später erklärten die Taliban, dass einer von Mansours Stellvertretern, Haibatullah Akhunzadeh, zum neuen Anführer der Taliban bestimmt worden war. Seine beiden Stellvertreter sind Mullah Yaqub (Sohn von Mullah Umar) und Sirajuddin Haqqani (operativer Befehlshaber des Haqqani-Netzwerks). (CRS, 19. Mai 2017, S. 16)[xiv]

Das norwegische Herkunftsländerinformationszentrum Landinfo beschreibt die Taliban als eine Dachorganisation verschiedener, miteinander lose verbundener aufständischer Gruppen. Unter diesen befinden sich mehr oder weniger autonome Gruppen mit unterschiedlichen Graden von Loyalität zu der Taliban-Führung und zur Idee des sogenannten Islamischen Emirats Afghanistan. Die Taliban haben eine hierarchische Organisationsstruktur, an deren Spitze ein Amir ul-Muminin (Commander of the Faithful) steht. Dieser gibt moralische, religiöse und politische Erklärungen ab, hat die Aufsicht über Richter, Gerichte und politische Ausschüsse der Taliban, ernennt Schattengouverneure und hat das Kommando über die militärische Organisation inne. (Landinfo, 13. Mai 2016, S. 4)[xv]

Dem UNO-Sicherheitsratzufolge kam es in der ersten Woche der am 12. April 2019 angekündigten Kampfsaison der Taliban zu den meisten Sicherheitsvorfällen seit zwei Jahren. Die Taliban verfügen über eine solide Versorgung mit Waffen, Munition, Geld und Arbeitskräften sowie über 60.000 bis 65.000 Kämpfer und rund 30.000 nicht kämpfende Mitglieder. (UNO-Sicherheitsrat, 13. Juni 2019, S. 3)[xvi]

Der UNO-Sicherheitsrat berichtet von Umstrukturierungen innerhalb der Taliban, sowie von zahlreichen Neuernennungen im Führungspersonal. Dies wird als die Ablösung der älteren Generation zugunsten jüngerer Taliban-Führer beschrieben. Laut derselben Quelle wurden die Schattengouverneure und Vizeschattengouverneure sowie die Kommandeure in den Provinzen Bamiyan, Baglan, Kabul, Kapisa, Kunar, Laghman, Parwan, Samangan, Tachar und Urusgan ersetzt. Die abgelösten Personen wurden Berichten zufolge aufgrund von Beschwerden wegen logistischer und finanzieller Mängel abgesetzt. (UNO-Sicherheitsrat, 30. Mai 2018, S. 5)

Die Jamestown Foundation schreibt bezüglich der andauernden Stärke der Taliban in Afghanistan, dass es seit dem Rückzug des US-Militärs aus Afghanistan wenige Anzeichen gibt, dass die Schlagkraft der Taliban abgenommen hat oder die Gruppierung an Kriegsmüdigkeit leidet. Durch konstante Gewalt haben die Taliban unter Beweis gestellt, dass sie immer noch eine bedeutende Macht in Afghanistan sind. Es ist wahrscheinlich, dass die Unterstützungsstrukturen, die die Gruppe in den letzten zwei Jahrzehnten aufgebaut hat, intakt bleiben. Seit dem Fall des so genannten Islamischen Emirats im Jahr 2001 hat die militante Gruppe die nachfolgenden Regierungen daran gehindert, das Land vollständig zu regieren. (JF, 2. Juni 2018)[xvii]

Laut ICG unterzeichneten die Taliban und die USA am 29. Februar 2020 ein Abkommen, das die USA zu einem vierzehnmonatigen schrittweisen Rückzug der Streitkräfte verpflichtet und das im Gegenzug die Taliban dazu verpflichtet zu verhindern, dass Afghanistan als Rückzugsort für Terroristen genutzt wird. Das Abkommen verpflichtet die Taliban auch zur Aufnahme von Friedensverhandlungen mit der afghanischen Regierung und anderen afghanischen Machthabern. Dieser Durchbruch kommt nach einem Jahrzehnt immer wiederkehrender Bemühungen seitens der USA und anderer Akteure, einen Friedensprozess zu ermöglichen bzw. zu beschleunigen. Im Verlauf dieses Friedensprozesses stellten Beobachter immer wieder die Bereitschaft der Taliban in Frage, eine politische Lösung auszuhandeln, für die substanzielle Kompromisse erforderlich wären. Die Kompromissbereitschaft der Gruppe bleibt eine offene Frage, aber ihr Interesse daran, zu sondieren, ob sie ihre Ziele durch eine Verhandlungslösung erreichen könnte, scheint echt zu sein - zumindest teilweise ausgelöst durch das Ausbleiben eines klaren militärischen Sieges.” (ICG, 30. März 2020)

Das [Abkommen vom 29. Februar 2020 zwischen den USA und den Taliban] verpflichtete die Regierung in Kabul, die nicht an den Verhandlungen beteiligt war, vor Beginn der Friedensgespräche bis zu 5.000 inhaftierte Mitglieder der Taliban freizulassen, im Gegenzug sollten die Taliban 1.000 Gefangene freilassen. Am Tag nach Unterzeichnung des Abkommens sagte der afghanische Präsident Ashraf Ghani, seine Regierung könne die Bedingungen nicht einhalten, da sie nicht bei den Verhandlungen anwesend war. (ICG, 11. August 2020, S. 1)

Laut BBC hatten die USA und die Taliban sich in Verhandlungen darauf verständigt, dass 5.000 gefangene Taliban freigelassen würden, bevor die Friedensgespräche beginnen würden, und die Taliban dafür 1.000 Gefangene freilassen. Während Tausende freigelassen wurden, blieben 400 im Gefängnis. (BBC, 14. August 2020)[xviii]

Die Deutsche Welle berichtet in einem Artikel vom August 2020, dass die afghanische Regierung am Montag [17. August] gesagt habe, dass sie die übrigen 320 Taliban-Gefangenen nicht freilassen werde, was die Friedensgespräche blockiert, die in einigen Tagen stattfinden sollen. Erst letzte Woche wurde in einem traditionellen Rat eine Einigung über die Freilassung der letzten 400 Gefangenen erzielt. Einige der freigelassenen Gefangenen haben gewaltsame Angriffe auf Afghanen und Ausländer verübt. (DW, 17. August 2020)[xix]

ICG berichtet in einer Publikation vom August 2020, dass die Gewalt und das Misstrauen, die auf das Abkommen zwischen den USA und den Taliban folgten, die von einigen in der afghanischen Zivilgesellschaft, den Medien und der Regierung geäußerte Wahrnehmung verstärken würden, dass die Taliban zwar bereit sein könnten, Gespräche zu führen, aber nicht Kompromisse einzugehen, um eine politische Lösung des Konflikts zu finden. In der Tat habe die Abfolge der Friedensbemühungen – angefangen bei den bilateralen Zusagen von USA und Taliban bis hin zu innerafghanischen Gesprächen, die den Krieg beenden könnten – den Taliban ermöglicht, an dem Prozess teilzunehmen ohne nennenswerte Zugeständnisse zu machen und die Zugeständnisse der USA hätten ihre Position verstärkt. (ICG, 11. August 2020, S. 2)

BBC berichtet, dass die Taliban im Jahr nach dem Friedensabkommen mit den USA im Februar 2020, scheinbar ihre Taktik von komplexen Anschlägen in Städten und auf militärische Außenposten auf eine Welle gezielter Attentate, die die afghanische Zivilbevölkerung in Angst versetzten, verlagert haben. Die Ziele, Journalisten, Richter, Friedensaktivisten, Frauen in Machtpositionen, schienen darauf hinzudeuten, dass die Taliban nicht ihre extremistische Ideologie, sondern nur ihre Strategie geändert hatten.
Nachdem sie zwei Jahrzehnte des Krieges gegen die USA überstanden hatten, begannen die Taliban nun, weite Teile des Territoriums zu erobern und drohen, nach dem Abzug ausländischer Mächte erneut eine Regierung in Kabul zu stürzen. Man geht davon aus, dass die Gruppe derzeit, mit bis zu 85.000 Vollzeitkämpfern, zahlenmäßig stärker ist als jemals zuvor seit ihrem Sturz im Jahr 2001, so die jüngsten Schätzungen der NATO. Ihr Einfluss auf das Territorium ist schwerer einzuschätzen, da die Bezirke zwischen ihnen und den Regierungstruppen hin- und herpendeln, jüngste Schätzungen gehen jedoch von einem Drittel bis zu einem Fünftel der Landesfläche aus. (BBC, 3. Juli 2021)

In seiner Analyse vom März 2021 erörtert Thomas Ruttig die Frage, ob und inwiefern die Taliban ihre repressiven Positionen (insbesondere in Bezug auf Rechte und Freiheiten) aus der Zeit vor ihrem Niedergang im Jahr 2001 geändert haben. (Ruttig, März 2021)[xx]

Die folgenden Karten aus dem Long War Journal der Foundation for Defense of Democracies (FDD)[xxi] stellen die Änderungen in der Distriktkontrolle der Taliban von März 2020 und Juli 2021 gegenüber.
Die hellgrau dargestellten Distrikte sind entweder unter Kontrolle der afghanischen Regierung oder die Kontrolle ist ungeklärt.

(FDD’s Long War Journal, Zugriff am 28. März 2020)

(FDD’s Long War Journal, Zugriff am 5 Juli 2021)

Haqqani-Netzwerk

Das von Dschalaludin Haqqani gegründete Haqqani-Netzwerk wurde von US-Behörden oftmals als ein „entscheidender Wegbereiter“ für al-Qaida bezeichnet, so der CRS. Das Netzwerk verfügte während seiner Hochzeit im Zeitraum von 2004 bis 2010 über rund 3.000 Kämpfer und Unterstützer, allerdings wird gegenwärtig von einer weitaus geringeren Zahl ausgegangen. Trotzdem ist das Netzwerk immer noch in der Lage, Operationen durchzuführen, darunter größere Bombenanschläge in Kabul und anderen Teilen Afghanistans. Die Gruppe scheint sich nun verstärkt auf Entführungen zu konzentrieren, die das Ziel haben mögen, finanzielle Mittel zu lukrieren und die Bedeutung dieser Gruppierung in der Öffentlichkeit zu propagieren (CRS, 19. Mai 2017, S. 20).

Das US-amerikanische Außenministerium (US Department of State, USDOS) hält in einem Bericht vom September 2018 fest, dass angenommen wird, dass das Haqqani-Netzwerk (HQN) mehrere hundert Kernmitglieder hat. Es wird jedoch geschätzt, dass die Organisation in der Lage ist, auf einen Pool von mehr als 10.000 Kämpfern zurückzugreifen. Das HQN ist in die größere Organisation der afghanischen Taliban integriert und arbeitet mit anderen in der Region aktiven Terrororganisationen, darunter al-Qaida und Lashkar e-Tayyiba zusammen. Das HQN ist entlang der afghanisch-pakistanischen Grenze und in weiten Teilen des südöstlichen Afghanistan, insbesondere in Loya Paktia, aktiv und hat Kabul wiederholt mit seinen Angriffen ins Visier genommen. Die Führung der Gruppe hat in der Vergangenheit eine Machtbasis in den Stammesgebieten Pakistans unterhalten. Zusätzlich zu den Mitteln, die sie im Rahmen der breiter aufgestellten afghanischen Taliban erhält, bezieht das HQN einen Großteil seiner Mittel von Gebern in Pakistan und am Golf sowie durch kriminelle Aktivitäten wie Entführung, Erpressung, Schmuggel und andere legale und illegale Geschäfte. (USDOS, 19. September 2018)

al-Qaida

Bezüglich der Präsenz von al-Qaida in Afghanistan schreibt das CRS, dass US-Behörden bis ins Jahr 2015 der Ansicht waren, dass die Gruppe nur über eine minimale Präsenz im Land verfüge (weniger als 100 Mitglieder) und vorwiegend im Nordosten des Landes vor allem als Unterstützer anderer aufständischer Gruppen aktiv sei. Ende 2015 haben US-Spezialeinheiten und Einheiten der afghanischen Streit- und Sicherheitskräfte jedoch ein großes Trainingslager der al-Qaida in der Provinz Kandahar ausgehoben und zerstört. Dies weist darauf hin, dass al-Qaida zuvor ihre Präsenz im Land ausgeweitet hatte. So korrigierten Kommandeure der US-Streitkräfte im April 2016 ihre Schätzungen zur Zahl der al-Qaida-Kämpfer in Afghanistan auf 100-300 Mann und sprachen von zunehmend engeren Beziehungen zwischen al-Qaida und den Taliban. Afghanische Behörden gehen indes von 300 bis 500 al-Qaida-Kämpfern im Land aus. (CRS, 19. Mai 2017, S. 17)

Dem CRS zu Folge wird al-Qaida immer noch eine Präsenz in Afghanistan zugeschrieben, und ihre jahrzehntelangen Verbindungen zu den Taliban scheinen in den letzten Jahren stark geblieben zu sein. Im Mai 2021 berichteten die UN-Beobachter, dass al-Qaida die Kommunikation mit der Taliban-Führung minimiert hat, um die diplomatische Position der Taliban nicht zu gefährden. Im Oktober 2020 töteten afghanische Streitkräfte einen hochrangigen al-Qaida-Funktionär, der Berichten zufolge mit Taliban-Kräften zusammenarbeitete, was Fragen zu den Verbindungen zwischen al-Qaida und den Taliban und zu den Absichten der Taliban in Bezug auf al-Qaida weiter unterstreicht. Im Allgemeinen deuten Einschätzungen der US-Regierung darauf hin, dass die Taliban ihren Verpflichtungen zur Terrorismusbekämpfung in Bezug auf al-Qaida nicht nachkommen. Laut Berichten des US-Verteidigungsministeriums unterhalten die Taliban Verbindungen zu al-Qaida und haben al-Qaida-Mitglieder in ihre Streitkräfte und Kommandostruktur integriert. (CRS, 11. Juni 2021, S.1-2)

Islamic State - Khorasan Province

Das Congressional Research Service (CRS) des US-amerikanischen Kongresses hält in einem Bericht vom Mai 2017 fest, dass ein Ableger der Gruppe Islamischer Staat seit Mitte 2014 in Afghanistan aktiv ist. Der Ableger heißt Islamischer Staat in der Provinz Khorasan (ISKP), wird häufig aber auch Islamischer Staat von Irak und der Levante-Khorasan, ISIL-K, bezeichnet. (CRS, 19. Mai 2017, S. 20)

2019 berichtete der UNO-Sicherheitsrat, dass sich die ISKP-Hochburgen in Afghanistan zum Berichtszeitpunkt in den östlichen Provinzen Nangarhar, Kunar, Nuristan und Laghman befinden. (UNO-Sicherheitsrat, 1. Februar 2019, S. 7)

Neben den Taliban richtete sich ein erheblicher Teil der US-Operationen gegen den lokalen Ableger des Islamischen Staates, die Provinz Islamischer Staat-Khorasan (ISKP, auch als ISIS-K bekannt). Schätzungen der ISKP-Stärke lagen im Allgemeinen zwischen 2.000 und 4.000 Kämpfern, bis die ISKP Ende 2019 aufgrund von Offensiven der US-amerikanischen und afghanischen Streitkräfte und, separat, der Taliban zusammenbrach. ISKP- und Taliban-Kräfte haben manchmal um die Kontrolle von Gebieten oder wegen politischer oder anderer Differenzen gekämpft. Seit 2016 wurden mehrere ISKP-Führer bei US-Angriffen getötet, und afghanische Streitkräfte haben im Frühjahr 2020 zwei aufeinanderfolgende ISKP-Führer verhaftet und gefangen genommen. US-Beamte warnen, dass die ISKP weiterhin eine Bedrohung darstellt, und verweisen auf mehrere hochkarätige Anschläge, die der Gruppe im Jahr 2020 zugeschrieben wurden. Es wird vermutet, dass die Teilnahme der Taliban an Friedensgesprächen oder eine vermeintliche politische Lösung unzufriedene (oder nun arbeitslose) Kämpfer dazu veranlassen könnte, sich der ISKP anzuschließen. (CRS, 11. Juni 2021, S.5-6)

Das im März 2018 erschienene Gutachten zu Afghanistan von Friederike Stahlmann enthält weitere Informationen zu aufständischen Gruppen in Afghanistan. (Stahlmann, 28. März 2018, Abschnitt 3.1)

3. Quellen

(Zugriff auf alle Quellen am 6. Mai 2021 oder wie angegeben)


[i] Amnesty International (AI) ist eine internationale Menschenrechtsorganisation.

[ii] Das Amt des Special Inspector General for Afghanistan Reconstruction (SIGAR) ist eine US-Behörde, die sich mit der Aufsicht über den Wiederaufbau in Afghanistan befasst.

[iii] Die International Crisis Group (ICG), gegründet 1995 und ansässig in Brüssel, ist eine transnationale, unabhängige Nonprofit-Organisation, die durch feldbasierte Analysen und Fürsprache auf hoher Ebene daran arbeitet, tödliche Konflikte zu vermeiden, mildern oder lösen.

[iv] Die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UN Assistance Mission in Afghanistan, UNAMA) ist eine politische Mission der Vereinten Nationen, welche auf der am 28. März 2002 vom UNO-Sicherheitsrat beschlossenen Resolution 1401 basiert.

[v] Das US Department of State (USDOS) ist das Außenministerium der Vereinigten Staaten von Amerika.

[vi] Das Afghanistan Analysts Network (AAN) ist eine unabhängige, gemeinnützige Forschungsorganisation mit Hauptsitz in Kabul.

[vii] Die Afghanistan Independent Human Rights Commission (AIHRC) ist eine nationale Menschenrechtsorganisation in Afghanistan, die sich der Verbreitung, Wahrung und Kontrolle von Menschenrechten und der Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen widmet.

[viii] Die New York Times (NYT) ist eine Tageszeitung in den Vereinigten Staaten von Amerika mit Sitz in New York City. Die New York Times veröffentlicht den Afghan War Casualty Report, der wöchentlich bestätigte Opferzahlen von regierungsnahen Kräften und Zivilpersonen beinhaltet. Der Afghan War Casualty Report umfasst nur Sicherheitsvorfälle, die von Reportern der New York Times in ganz Afghanistan bestätigt werden. Er ist laut Hinweis der NYT daher notwendigerweise unvollständig, da viele lokale Beamte sich weigern würden, Angaben zu Opfern zu bestätigen. (NYT, 21. Jänner 2021)

[ix] Die UNO-Generalversammlung (UN General Assembly, UNGA) ist die Vollversammlung der Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen.

[x] Washington Post (WP) ist eine US-amerikanische Tageszeitung.

[xi] Wall Street Journal (WSJ) ist eine US-amerikanische Tageszeitung.

[xii] Associated Press (AP) ist eine international Nachrichten- und Presseagentur mit Sitz in New York.

[xiii] Friederike Stahlmann ist Forscherin am Max-Planck-Institut für Ethnologische Forschung (Deutschland) mit Schwerpunkt Afghanistan.

[xiv] Das Congressional Research Service (CRS), der Recherchedienst des US-amerikanischen Kongresses.

[xv] Das Norwegische Herkunftsländerinformationszentrum Landinfo ist ein unabhängiges Organ der norwegischen Migrationsbehörden, das verschiedenen AkteurInnen innerhalb der Migrationsbehörden Herkunftsländerinformationen zur Verfügung stellt.

[xvi] Der UN Security Council ist ein Organ der Vereinten Nationen, das für die Wahrung des Friedens und der Sicherheit zuständig ist.

[xvii] Die Jamestown Foundation (JF) ist eine unabhängige, unparteiische und gemeinnützige Organisation mit Sitz in Washington, D.C., die Informationen zu Terrorismus, den ehemaligen Sowjetrepubliken, Tschetschenien, China und Nordkorea zur Verfügung stellt.

[xviii] Die British Broadcasting Corporation (BBC) ist eine öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt des Vereinigten Königreichs.

[xix] Die Deutsche Welle (DW) ist der deutsche Auslandsrundfunksender, ein unabhängiges, internationales Medienunternehmen aus Deutschland.

[xx] Thomas Ruttig ist Analyst beim Afghanistan Analyst Network (AAN), einer unabhängigen gemeinnützigen Forschungsorganisation mit Hauptsitz in Kabul, die Analysen zu politischen Themen in Afghanistan und der umliegenden Region erstellt.

[xxi] Das Long War Journal der FDD (Foundation for Defense of Democracies) ist ein überparteiliches Forschungsinstitut mit Sitz in Washington, DC, das sich auf nationale Sicherheit und Außenpolitik konzentriert (FDD, About FDD). FDD berichtet über Nachrichten zum globalen Krieg gegen den Terror und wird von Media Bias/Fact Check als "tendenziell rechtslastig (right-center biased) auf die Ausrichtung mit neokonservativen Positionen bezüglich des Krieges gegen den Terror" eingestuft (Media Bias/Fact Check, ohne Datum).

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