Document #1025210
AI – Amnesty International (Author)
Amtliche Bezeichnung: Russische Föderation
Staatsoberhaupt: Dmitri Medwedew
Regierungschef: Wladimir Putin
Todesstrafe: in der Praxis abgeschafft
Einwohner: 142,8 Mio.
Lebenserwartung: 68,8 Jahre
Kindersterblichkeit: 12,4 pro 1000 Lebendgeburten
Alphabetisierungsrate: 99,6%
Das umstrittene Ergebnis der Parlamentswahl im Dezember 2011 führte zu landesweiten Protesten, bei denen Hunderte von friedlichen Demonstrierenden festgenommen wurden. Das gesamte Jahr über wurde das Recht auf Versammlungsfreiheit bei Protesten zu politischen, ökologischen, sozialen und anderen Themen immer wieder verletzt. Die Arbeit der Medien unterlag nach wie vor sehr starken Einschränkungen. Einige Angehörige religiöser Minderheiten wurden verfolgt. Es gab weiterhin Besorgnis angesichts der willkürlichen Anwendung des Gesetzes zur Bekämpfung des Extremismus. Menschenrechtsverteidiger und Journalisten waren weiterhin starkem Druck ausgesetzt, und Ermittlungen zu früheren Übergriffen blieben zumeist ergebnislos. Trotz oberflächlicher Reformen bei der Polizei gingen weiterhin zahlreiche Berichte über Folterungen ein. Die Sicherheitslage im Nordkaukasus war noch immer instabil; sowohl bewaffnete Gruppen als auch die Sicherheitskräfte begingen gravierende Menschenrechtsverstöße.
Dank hoher Erdölpreise und umfangreicher staatlicher Konjunkturprogramme konnte Russland bis zum Jahresende ein relativ hohes Wirtschaftswachstum verzeichnen. In anderen Bereichen, denen die Regierung Vorrang einräumte, wie der weiteren Modernisierung des Landes, der Bekämpfung der Korruption und der Reform der Strafjustiz, waren dagegen nur wenige konkrete Ergebnisse zu erkennen. Die Parlamentswahl im Dezember wurde von verbreiteten Betrugsvorwürfen und zahlreichen nachgewiesenen Fällen von Wahlmanipulation überschattet. Die Regierungspartei Einiges Russland musste zwar deutliche Stimmenverluste hinnehmen, blieb aber weiter an der Macht.
Das Wahlergebnis schien auf einen wachsenden Wunsch nach mehr bürgerlichen und politischen Freiheiten sowie sozialen und wirtschaftlichen Rechten hinzudeuten - anstelle der Stabilität, die das "Tandem" Putin/Medwedew versprach und weitgehend auch gewährleistete.
Die Demonstrationen, die nach der Wahl stattfanden, waren die größten seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Die Proteste waren Ausdruck eines wachsenden gesellschaftlichen Engagements einzelner Bürger, Interessengruppen und lokaler Gemeinschaften, die das gesamte Jahr über Themen wie Korruption, Sozialabbau, Polizeiübergriffe und Umweltverschmutzung aufgegriffen hatten.
Das Fernsehen und die übrigen Massenmedien hielten sich an die offizielle politische Linie. Scharfe öffentliche Kritik an den Behörden war nur in kleineren Zeitungen und im Internet zu finden, dessen Einfluss stetig zunahm.
Für kritische zivilgesellschaftliche Bewegungen blieb 2011 das Recht auf Versammlungsfreiheit weiter eingeschränkt. Zwar durften einige Kundgebungen stattfinden, die in den Vorjahren verboten worden waren, viele Demonstrationen wurden von den Behörden jedoch untersagt. Eine Reihe von Personen, die an friedlichen politischen Protesten teilnahmen, wurden wiederholt festgenommen, bisweilen bereits auf dem Weg zu einer Demonstration, und zu Verwaltungshaft ohne Anklageerhebung oder Gerichtsverfahren verurteilt.
In den Tagen nach der umstrittenen Parlamentswahl vom 4. Dezember fanden im ganzen Land zahlreiche spontane gewaltfreie Demonstrationen statt. Mehr als 1000 Demonstrierende wurden festgenommen, und mehr als 100 wurden in Prozessen, die häufig gegen die Standards für ein faires Verfahren verstießen, zu Verwaltungshaft verurteilt. Zu den genehmigten Demonstrationen am 10. und am 24. Dezember versammelten sich in Moskau mehr als 50000 Menschen und weitere Zehntausende in anderen Städten. Alle Kundgebungen verliefen friedlich.
Diejenigen, die sich für die Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgendern einsetzten, mussten nach wie vor mit Schikanen und Übergriffen rechnen. Vorgesehene Paraden und Demonstrationen in Moskau und Sankt Petersburg wurden verboten und von der Polizei umgehend aufgelöst.
Die staatliche Kontrolle des Fernsehens und anderer Massenmedien war nach wie vor rigide. Nicht zuletzt deshalb gewann das Internet als alternative Informationsquelle und als Forum für Meinungsäußerungen und Austausch zunehmend an Bedeutung. Das Internet war zwar im Allgemeinen noch relativ frei von staatlicher Einflussnahme, doch wurden vor und nach der Parlamentswahl im Dezember einige bekannte Internetseiten und Weblogs, die über Wahlbetrug berichteten, durch eine Cyber-Attacke lahmgelegt.
Journalisten, die über politisch heikle Themen wie z.B. Korruption berichteten, mussten mit Drohungen und tätlichen Angriffen rechnen. Die Vorfälle zogen nur in seltenen Fällen wirksame Ermittlungen oder Strafverfolgungsmaßnahmen nach sich.
Das Gesetz zur Bekämpfung von Extremismus wurde oft willkürlich gegen Regierungskritiker eingesetzt. Als Reaktion darauf befand der Oberste Gerichtshof im Juni, dass Kritik an Regierungsvertretern oder Politikern keine Anstiftung zum Hass im Sinne dieses Gesetzes darstelle. Religiöse Minderheiten, wie nicht traditionelle muslimische Gruppen oder die Zeugen Jehovas, waren nach wie vor von staatlicher Verfolgung bedroht. In Sankt Petersburg und in der Region Archangelsk wurden Gesetze erlassen, die "homosexuelle Propaganda unter Minderjährigen" unter Strafe stellen. Als positiver Schritt konnte gelten, dass die Bestimmung betreffend Verleumdung aus dem Strafgesetzbuch gestrichen wurde.
Die in den vergangenen Jahren eingeführten restriktiven Bestimmungen für NGOs wurden teilweise entschärft. Das Oberste Schiedsgericht hob einige Einschränkungen bezüglich der ausländischen Finanzierung von NGOs auf. Menschenrechtsverteidiger und Journalisten mussten allerdings nach wie vor mit Schikanen und Drohungen durch Staatsbedienstete rechnen, wenn sie deren Fehlverhalten öffentlich machten. Die Untersuchungen von Überfällen sowie von Morden an Menschenrechtsverteidigern, Journalisten und Rechtsanwälten in den vergangenen Jahren machten weiterhin nur geringe oder gar keine Fortschritte.
Das neue Polizeigesetz, das im März 2011 in Kraft trat, führte eine formelle Beurteilung aller Polizeibeamten ein und reduzierte die Anzahl der Polizisten. Das Gesetz brachte jedoch keine wesentlichen Fortschritte mit sich, denn es enthielt keine substanziell neuen Bestimmungen, um Polizeibeamte stärker zur Rechenschaft zu ziehen und die Straflosigkeit im Falle von Menschenrechtsverletzungen durch Polizisten zu bekämpfen. Berichte über Folter und andere Misshandlungen waren nach wie vor an der Tagesordnung. Entsprechende Vorwürfe führten nur selten zu wirksamen Ermittlungen, und die nachgewiesenen Verletzungen der Opfer wurden oft als Folge legitimer Gewaltanwendung abgetan. Eine erfolgreiche strafrechtliche Verfolgung der Täter war äußerst selten. Es gab zahlreiche Berichte darüber, dass Häftlinge in Gewahrsam keine angemessene medizinische Versorgung erhielten, dem Vernehmen nach sollten sie auf diese Weise zu Geständnissen gezwungen werden. Viele verurteilte Häftlinge berichteten, dass sie zu Beginn ihres Gefängnisaufenthalts gewalttätigen Übergriffen von Mitgefangenen und Vollzugsbeamten ausgesetzt waren.
Trotz anhaltender Bemühungen, die Effektivität und Unabhängigkeit der Justiz zu verbessern, gab es 2011 zahlreiche Berichte über unfaire Verfahren, in denen dem Vernehmen nach politische Einflussnahme und Korruption sowie Absprachen zwischen Richtern, Staatsanwälten und Polizei eine Rolle spielten.
Die Sicherheitslage im Nordkaukasus war nach wie vor instabil. Bewaffnete Gruppen gingen weiter gezielt gegen Polizeibeamte und andere Staatsbedienstete vor. Dabei gerieten oft Zivilisten ins Kreuzfeuer oder wurden gezielt angegriffen. Das Vorgehen der Sicherheitskräfte im gesamten Nordkaukasus ging oft mit schweren Menschenrechtsverletzungen einher. Es gingen Berichte über die Drangsalierung und Tötung von Journalisten, Menschenrechtsverteidigern und Rechtsanwälten sowie über die Einschüchterung von Zeugen ein.
Dank einer hohen finanziellen Förderung durch die Russische Föderation kam der Wiederaufbau Tschetscheniens nach dem Krieg zügig voran. Die hohe Erwerbslosigkeitsrate stellte weiterhin ein Problem dar. Anders als im übrigen Nordkaukasus gingen die Angriffe bewaffneter Gruppen in Tschetschenien zurück. Berichten zufolge verübten Beamte mit Polizeibefugnissen nach wie vor schwere Menschenrechtsverletzungen. In einem Schreiben an die NGO Interregionales Komitee gegen Folter bestätigte ein hochrangiger tschetschenischer Staatsanwalt, dass die Ermittlungen zu den Fällen von Verschwindenlassen in Tschetschenien ineffektiv seien.
Für die Menschenrechtsverteidiger in Tschetschenien stellte der ungeklärte Mord an Natalja Estemirowa im Jahr 2009 nach wie vor eine schwere Belastung dar. Sie waren zudem weiterhin Einschüchterungsmaßnahmen und Schikanen ausgesetzt.
Die Wiederbelebung "tschetschenischer Traditionen", die vom tschetschenischen Präsidenten Ramsan Kadyrow aktiv betrieben wurde, führte zu einer verstärkten Benachteiligung von Frauen. Für Mädchen und Frauen erhöhte sich das Risiko, Opfer von häuslicher und sexueller Gewalt zu werden.
Eine Frau namens Zarema (Name geändert) berichtete Amnesty International, dass sie jahrelang der systematischen sexuellen Gewalt eines nahen männlichen Verwandten ausgesetzt gewesen sei. Nach ihrer Heirat im Jahr 2010 sei sie nach Grosny gezogen, doch habe ihr Mann sie geschlagen. Als sie im Juni 2011 zu ihrer Großmutter ziehen wollte, brachten ihre Brüder sie zu ihrem Mann zurück. Zarema wandte sich an einen muslimischen Rechtsgelehrten und an die staatliche Kommission zur Lösung familiärer Konflikte mit der Bitte um Hilfe, doch erhielt sie von beiden Stellen die Antwort, sie solle ihrem Mann gehorchen. Ende 2011 verließ sie hochschwanger das Haus und suchte außerhalb Tschetscheniens Zuflucht, weil sie fürchtete, ihr Mann werde sie nach der Geburt ihres Kindes zu ihren Brüdern zurückschicken, die versprochen hatten, sie zu töten.
Bewaffnete Gruppen griffen weiterhin Angehörige der Sicherheitskräfte und der örtlichen Verwaltung sowie prominente Persönlichkeiten an, unter ihnen auch muslimische Geistliche, die den traditionellen Islam predigten. Im Zusammenhang mit Operationen der Polizeikräfte gab es zahlreiche Vorwürfe über das Verschwindenlassen von Personen, außergerichtliche Hinrichtungen und Folter. Menschenrechtsverletzungen mit mutmaßlicher Beteiligung von Sicherheitskräften wurden weder umgehend untersucht noch wurden wirksame Strafverfolgungsmaßnahmen ergriffen.
Die Sicherheitslage in Inguschetien schien sich 2011 zunächst deutlich zu bessern. Im weiteren Verlauf des Jahres wurden jedoch vermehrt Übergriffe bewaffneter Gruppen und gravierende Menschenrechtsverletzungen durch Angehörige der Sicherheitskräfte gemeldet, insbesondere Fälle von Verschwindenlassen.
Im Februar 2011 forderten zwei Angriffe bewaffneter Gruppen auf zivile Ziele in einem Ferienort im Elbrus-Gebiet drei Todesopfer. Bei den nachfolgenden Operationen der Sicherheitskräfte wurden Dutzende mutmaßlicher Mitglieder dieser Gruppen getötet und viele weitere inhaftiert. Es gab wiederholt Vorwürfe, Angehörige der Polizeikräfte seien für das Verschwindenlassen von Personen und für Folter verantwortlich.
Es gab gelegentliche gewaltsame Vorkommnisse. Bei gemeinsamen Sicherheitsoperationen von lokalen Polizeikräften und in Nordossetien stationierten Sicherheitskräften der Russischen Föderation kam es Berichten zufolge zu zahlreichen Menschenrechtsverletzungen.
Vertreter von Amnesty International besuchten Russland im Mai und im Juni.
© Amnesty International
Amnesty International Report 2012 - The State of the World's Human Rights (Periodical Report, English)