Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Gesetze, Schutzeinrichtungen und Initiativen gegen Zwangsverheiratungen und Ehrenmorde [a-8797-2 (8798)]

25. August 2014

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Gesetze

Gemäß Artikel 26 des Gesetzes zur Eliminierung von Gewalt gegen Frauen (EVAW) vom August 2009 ist eine Person, die eine Frau im heiratsfähigen Alter ohne ihre Einwilligung verheiratet unter Berücksichtigung der vorliegenden Umstände mit einer Gefängnisstrafe von mindestens zwei Jahren zu bestrafen. Die Eheschließung bzw. die Verlobung ist zu annullieren:

Article 26

If a person engages or marries a woman who has attained the legal age of marriage without her consent, considering the circumstances he/she shall be sentenced to medium imprisonment of not less than 2 years and the marriage or engagement shall be revoked in accordance with the provisions of law.” (EVAW, 1. August 2009, Artikel 26)

Wie das UNO-Flüchtlingshochkommissariat (UN High Commissioner for Refugees, UNHCR) in einem Bericht vom Juni 2013 bemerkt, hätten FrauenrechtsaktivistInnen am EVAW-Gesetz unter anderem kritisiert, dass es Ehrenverbrechen nicht kriminalisiere (UNHCR, Juni 2013, S. 12).

 

Nach Artikel 398 des afghanischen Strafgesetzbuchs vom Oktober 1976 ist eine Person, die ihre/n EhepartnerIn oder eine andere nahe verwandte Person beim Ehebruch bzw. im Bett mit einer anderen Person ertappe, und eine oder beide dieser Personen umgehend töte oder verletze, von einer Bestrafung wegen Körperverletzung bzw. Mordes auszunehmen und mit einer Gefängnisstrafe von nicht mehr als zwei Jahren zu bestrafen:

„Article 398:

A person, defending his honor, who sees his spouse, or another of his close relations, in the act of committing adultery or being in the same bed with another and immediately kills or injures one or both of them shall be exempted from punishment for laceration and murder but shall be imprisoned for a period not exceeding two years, as a ‘Tazeeri’ punishment.” (Afghanisches Strafgesetzbuch, 7. Oktober 1976, Artikel 398)

In seinem im Februar 2014 veröffentlichten Länderbericht zur Menschenrechtslage 2013 bemerkt das US-Außenministerium (US Department of State, USDOS) unter Berufung auf Angaben der Vereinten Nationen und der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW), dass es sich bei geschätzten 70 Prozent aller Ehen um Zwangsehen handle. Zudem würden nur sehr wenige Ehen amtlich registriert, sodass viele Zwangsehen außerhalb der gesetzlichen Kontrolle blieben. Es gebe Berichte darüber, dass unter anderem zwangsverheiratete Frauen, die unter Berufung auf das EVAW um Schutz angesucht hätten, gezwungen worden seien, sich Jungfräulichkeitstests zu unterziehen:

„According to the UN and Human Rights Watch, an estimated 70 percent of marriages were forced. […] Very few marriages were registered, leaving forced marriages outside legal control. There were reports that women who sought assistance under the EVAW law in cases of forced marriage or rape were subjected to virginity tests.” (USDOS, 27. Februar 2014, Section 6)

Wie die UNO-Unterstützungsmission in Afghanistan (UN Assistance Mission in Afghanistan, UNAMA) im Dezember 2013 berichtet, seien im Berichtszeitraum Oktober 2012 bis September 2013 in 16 Provinzen, die UNAMA untersucht habe, insgesamt 650 Fälle von Gewalt gegen Frauen von der Polizei und der Staatsanwaltschaft registriert worden. Staatsanwälte hätten in 109 dieser Fälle das EVAW-Gesetz herangezogen, und das Gesetz sei bei 60 Gerichtsentscheidungen angewendet worden. Während die Zahl der registrierten Fälle von Gewalt gegen Frauen im Vergleich zum vorhergehenden Berichtszeitraum um 28 Prozent zugenommen habe, sei bei der Einbeziehung des EVAW bei Anklagen nur ein Anstieg von zwei Prozent zu verzeichnen. Die Gesamtzahl der Anklagen in Zusammenhang mit Gewalt gegen Frauen (unter Heranziehung aller relevanten Gesetze) habe im Vergleich zum vorigen Berichtszeitraum abgenommen. Wie UNAMA resümiert, werde das EVAW-Gesetz in den 16 untersuchten Provinzen weiterhin nur in geringem Umfang angewendet, um Gewalt gegen Frauen strafrechtlich zu verfolgen:

„In UNAMA’s sample of 16 provinces, police and prosecutors registered 650 incidents of violence against women with prosecutors using the EVAW law in 109 or 17 per cent of cases and courts applying the law in 60 decisions. In the previous UNAMA report covering the same 16 provinces (October 2011 to September 2012), 470 reported incidents of violence against women were registered to which the EVAW law was applied in 72 or 15 per cent of cases with courts using the law in 52 decisions. Similar to UNAMA’s previous findings, the crime of battery and laceration was the most prevalent form of violence against women among the registered cases documented in the current period.

The current report observes that while registration of reported incidents increased by 28 per cent, use of the EVAW law as a basis for indictment increased by only two per cent. Courts this year applied the EVAW law in 60 decisions (55 per cent of 109 indictments filed under the EVAW law) compared to 52 decisions (72 per cent of indictments filed under the EVAW law) last year, a 17 per cent decrease in courts’ use of the EVAW law to decide cases in the current period. Of concern, the overall number of criminal indictments filed by prosecutors in violence against women cases under all applicable laws decreased this year despite the rise in reported and registered incidents. […]

A further observation is that in the general context of an estimated total 1,669 (650 + 1,019) incidents of violence against women registered with Departments of Women’s Affairs and police and prosecutors in the concerned provinces, UNAMA notes that only 109 cases (seven per cent) went through a judicial process using the EVAW law. This indicates that the overall use of the EVAW law to indict and prosecute perpetrators of violence against women still remained low in the 16 provinces over the current period.” (UNAMA, Dezember 2013, S. 1-4)

Wie die Denkfabrik International Crisis Group (ICG) im Oktober 2013 berichtet, seien die Exekutivorgane zur Anwendung des EVAW-Gesetzes verpflichtet. Es sei vorgesehen, dass es in jedem Provinzhauptquartier der Sicherheitskräfte eine Family Response Unit (FRU) gebe. Mit Stand von Mai 2013 habe es 17 solcher Einheiten in Kabul sowie insgesamt 184 in 33 Provinzen des Landes gegeben. Weiters verfüge die Staatsanwaltschaft Kabul über ein spezielles, für Strafverfolgung unter dem EVAW-Gesetz zuständiges Büro, das landeweit zu Fällen von Gewalt gegen Frauen ermittle. Doch während sich die rechtliche Situation von Frauen verbessert habe, würden die rechtlichen Bestimmungen weiterhin in nur geringem Umfang angewendet. Wenige Fälle von Gewalt gegen Frauen würden zur Anzeige gebracht bzw. zum Gegenstand von Ermittlungen oder Gerichtsverfahren. Statt Frauen durch strafrechtliche Verfolgung von Fällen geschlechtsbasierter Gewalt zu schützen, würden Exekutivorgane dazu tendieren, Frauen, die versuchen würden, vor familiärer Gewalt zu fliehen, zu verhaften und sie des „Weglaufens von zu Hause“ zu beschuldigen oder ihnen vorzuwerfen, „zina“ begehen zu wollen. Weiters schränke auch die weitverbreitete Korruption Frauen in ihrem Zugang zu Gerechtigkeit ein. So würde auch die Verurteilung eines Täters nicht garantieren, dass dieser eine Haftstrafe verbüßen müsste, da Personen, die über einflussreiche Kontakte verfügten, häufig nur kurze Zeit im Gefängnis verbringen oder gänzlich der Haftstrafe entgehen würden. Es sei auch zu Einschüchterungen von StaatsanwältInnen, RechtsanwältInnen und MitarbeiterInnen der Unabhängigen Afghanischen Menschenrechtskommission (Afghan Independent Human Rights Commission, AIHRC) gekommen. Weibliche Opfer und MenschenrechtsaktivistInnen würden der Polizei wenig Vertrauen entgegenbringen, zumal diese im Zeitraum 2011 bis 2013 für 15 Prozent aller bekannten Fälle von Ehrenmord und sexuellem Übergriff selbst verantwortlich gewesen sei:

Law enforcement agencies are required to apply the EVAW law and inform the women’s affairs ministry about incidents. Each provincial headquarters and large district is meant to have a Family Response Unit (FRU), staffed by policewomen. There are seventeen such units in Kabul, and, as of May 2013, 184 in 33 provinces. […] There is also a special EVAW law prosecution unit in the attorney general’s office in Kabul. Created in 2010, it investigates and prosecutes violence against women countrywide. Similar units are also gradually being formed at the provincial level, though there is no firm deadline for their formation in all provinces.” (ICG, 14. Oktober 2013, S. 10)

While women’s rights have improved, the application of legal safeguards remains weak. Few incidents of violence against women are reported, let alone investigated and tried. […] Instead of protecting women from violence by pursuing and prosecuting cases of gender-based violence, law enforcement agencies tend to arrest women attempting to escape violence at home, accusing them of ‘running away’ or intending to commit zina. […]

Widespread corruption in the justice system also hampers women’s access to justice. Convictions for perpetrators of violence do not guarantee imprisonment, since those with influential contacts often serve little or no jail time, undermining the judicial process and putting victims in danger of retaliation. Survivors of gender-based violence, therefore, often avoid pressing charges. Prosecutors, lawyers and AIHRC workers have received threats from perpetrators of crimes they were investigating or from their powerful backers. Moreover, female victims of violence and human rights defenders have little confidence in a police force that was responsible for around 15 per cent of known honour killings and sexual assaults from 2011 to 2013. […]

Very few cases make it through the formal justice system. Communities and even police and prosecutors commonly refer cases involving women to jirgas or shuras dominated by local male powerbrokers.” (ICG, 14. Oktober 2013, S. 15-17)

Das Institute for War and Peace Reporting (IWPR), ein in London ansässiges internationales Netzwerk zur Förderung freier Medien, berichtet im Juli 2013 über die gerichtliche Verurteilung von drei Männern in der ostafghanischen Provinz Kunar wegen Ermordung einer Verwandten. Laut örtlichen Beamten seien diese Verurteilungen ein Ausnahmefall. In den vergangenen Jahren habe es in dieser Provinz mehrere ähnliche Gerichtsverfahren in Mordfällen an Frauen gegeben. Doch viele weitere Fälle würden bei den Behörden nicht zur Anzeige gebracht:

„The conviction of three men for murdering a woman in the Kunar province of eastern Afghanistan is the exception rather the rule, officials acknowledge. A man called Ehsanullah from Kunar’s Manogai district beheaded his sister-in-law Maryam. With two accomplices, he was found guilty of premeditated murder by a state court in Kunar, after he was brought back from Kabul, to where he fled after the killing. Ehsanullah pleaded guilty, saying his sister-in-law had made sexual advances to him. He was sentenced to death, but this was commuted to a term in a juvenile detention centre after the appeals court heard evidence that he was under 18 at the time and hence a minor under Afghan law, even though his ID papers claimed he was 22. The other two defendants similarly had their death sentences commuted and were given 16-year prison terms. Kunar has seen several similar murder trials where the victim was a woman in recent years. But local government officials acknowledge that many more cases are never brought to the authorities’ attention, since tradition demands that ‘honour crimes’ are settled away from the prying eyes of the state. The provincial department of women’s affairs is alarmed at the rising number of unreported killings, saying that in the Afghan year ending March 2013, it was made aware of a record number of cases. Department head Nasima Shafiq Sadat told IWPR that since March, she is aware of three murders of women and at least ten other assaults. Sadat says the problem is most serious in remote mountain areas where people do not go to the authorities. Women in Kunar say there are no channels for reporting physical threats to government agencies. Areas of Afghanistan like this have seen little of the international assistance intended to prevent violence against women, as most of it only gets as far as the main urban centres.” (IWPR, 25. Juli 2013)

Schutzeinrichtungen und Initiativen

Laut dem USDOS würden Nichtregierungsorganisationen, die Frauenhäuser in Kabul betreiben, über eine Zunahme von Überweisungen von Fällen durch die Polizei berichten. Auch habe sich der Zugang von Frauen zu Frauenhäusern verbessert. Allerdings gebe es in den 29 formellen und informellen Frauenhäusern des Landes nur unzureichend Platz. Frauen, die nicht mit ihren Familien wiedervereint werden könnten, müssten auf unabsehbare Zeit in den Frauenhäusern bleiben, da „unbegleitete“ Frauen in der Gesellschaft in der Regel nicht akzeptiert würden. Zudem sei die gesellschaftliche Haltung gegenüber Frauenhäusern durch die Wahrnehmung bestimmt, dass das „Weglaufen von zu Hause“ eine ernsthafte Sittenverletzung darstelle. Im Jahr 2011 habe die Regierung angekündigt, dass sämtliche Frauenhäuser der Aufsicht des Ministeriums für Frauenangelegenheiten (MOWA) unterstellt würden. Daraufhin hätten sich Menschenrechtsorganisationen in Zusammenarbeit mit dem MOWA darum bemüht, die geplante Verstaatlichung der Frauenhäuser zu verhindern. Die endgültige Regelung zu Frauenhäusern ermächtige das MOWA dazu, die Angelegenheiten sämtlicher Frauenhäuser zu regeln, räume jedoch den Nichtregierungsorganisationen ein, diese Einrichtungen weiter zu betreiben:

„NGOs that ran women’s shelters in Kabul reported an increase in referrals from police, likely reflecting improved ANP [Afghan National Police] training and awareness. Women’s access to shelters also increased due to international efforts to open new shelters and expand to more remote provinces. Space at the 29 formal and informal shelters across the country, however, was insufficient. Women who could not be reunited with their families were compelled to remain in shelters indefinitely because ‘unaccompanied’ women were not commonly accepted in society. The difficulty of finding durable solutions for women compelled to stay in shelters was compounded by societal attitudes toward shelters, the belief that ‘running away from home’ is a serious violation of social mores, and the continued victimization of women who were raped but perceived by society as adulterers. Women in need of shelter but who could not find it often ended up in prison, either due to a lack of shelter alternatives, for their own protection, or based on local interpretation of ‘running away’ as a moral crime. […]

In 2011 the government announced a plan to bring all shelters under MOWA’s oversight. Human rights NGOs worked with MOWA to change the regulations and stop the proposed nationalization of shelters. The final shelter regulation authorizes MOWA to regulate all shelters but allows NGOs to continue to run them.” (USDOS, 27. Februar 2014, Section 6)

Wie die International Crisis Group (ICG) im Oktober 2013 berichtet, könnten Frauen, die Opfer von Gewalt seien, in Frauenhäusern und „safe houses“ Zuflucht finden, die vom Ministerium für Frauenangelegenheiten oder afghanischen Nichtregierungsorganisationen betrieben würden (ICG, 14. Oktober 2013, S. 10).

 

In den ACCORD derzeit zur Verfügung stehenden Quellen konnten im Rahmen der zeitlich begrenzten Recherche keine weiteren Informationen zu dieser Teilfrage gefunden werden.

 

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Quellen: (Zugriff auf alle Quellen am 25. August 2014)

·      Afghanisches Strafgesetzbuch (Penal Code), 7. Oktober 1976 (veröffentlicht von UNODC)

https://www.unodc.org/tldb/showDocument.do?documentUid=2100

·      Gesetz zur Eliminierung von Gewalt gegen Frauen, 1. August 2009

www.laoa.af/laws/law_on_eliminaton_of_violence_ against_women.pdf

·      ICG - International Crisis Group: Women in Conflict in Afghanistan, 14. Oktober 2013

http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1381762125_252-women-and-conflict-in-afghanistan.pdf

·      IWPR - Institute for War and Peace Reporting: Alarm at "Honour Killings" in Eastern Afghan Province, 25. Juli 2013 (verfügbar auf ecoi.net)

http://www.ecoi.net/local_link/253916/378412_de.html

·      UNAMA - United Nations Assistance Mission in Afghanistan: A Way to Go: An Update on Implementation of the Law on Elimination of Violence against Women in Afghanistan, Dezember 2013 (verfügbar auf ecoi.net)

http://www.ecoi.net/file_upload/1788_1386590773_unama-report-on-evaw-law-8-december-2013.pdf

·      UNHCR - UN High Commissioner for Refugees: Submission by the United Nations High Commissioner for Refugees; For the Office of the High Commissioner for Human Rights' Compilation Report – Universal Periodic Review: Afghanistan, Juni 2013 (verfügbar auf ecoi.net)

http://www.ecoi.net/file_upload/1930_1371111014_51b81fa54.pdf

·      USDOS - US Department of State: Country Reports on Human Rights Practices 2013 - Afghanistan, 27. Februar 2014 (verfügbar auf ecoi.net)

http://www.ecoi.net/local_link/270628/399487_de.html