Document #2128143
HRW – Human Rights Watch (Author)
|Bericht
US-unterstützte „Todesfalle“ stoppen, und darauf drängen, dass Israel die Massenhungersnot beendet
(Jerusalem, 1. August 2025) – Israelische Streitkräfte haben an den Standorten eines neuen von den USA unterstützten Hilfsgüterverteilungssystems in Gaza regelmäßig das Feuer auf hungernde palästinensische Zivilist*innen eröffnet. Diese Handlungen stellen schwere Verstöße gegen das Völkerrecht und Kriegsverbrechen dar, so Human Rights Watch heute.
An den vier Standorten der Gaza Humanitarian Foundation (GHF), die mit dem israelischen Militär zusammenarbeitet, kam es fast täglich zu Massenanfällen von Toten und Verletzten. Nach Angaben der Vereinten Nationen wurden zwischen dem 27. Mai und dem 31. Juli 2025 mindestens 859 Palästinenser*innen bei dem Versuch, an den Standorten der GHF Hilfe zu erhalten, getötet, die meisten davon durch das israelische Militär. Die verheerende humanitäre Lage ist eine direkte Folge davon, dass Israel das Aushungern von Zivilist*innen als Kriegswaffe einsetzt – ein Kriegsverbrechen – und dass Israel weiterhin absichtlich Hilfsgüter und grundlegende Dienstleistungen vorenthält, was einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Form von Ausrottung und Völkermordhandlungen gleichkommt.
„Die israelischen Streitkräfte hungern nicht nur vorsätzlich palästinensische Zivilisten aus, sondern schießen jetzt auch fast jeden Tag auf sie, wenn sie verzweifelt versuchen, Essen für ihre Familien zu finden“, sagte Belkis Wille, stellvertretende Direktorin der Abteilung Krisen und Konflikte bei Human Rights Watch. „Die von den USA unterstützten israelischen Streitkräfte und private Auftragnehmer haben ein unzulängliches, militarisiertes System zur Verteilung von Hilfsgütern eingerichtet, das die Verteilung von Hilfsgütern zu regelmäßigen Blutbädern werden lässt.”
Staaten sollten Israel darauf drängen, den Einsatz tödlicher Gewalt gegen palästinensische Zivilist*innen sofort einzustellen, die unrechtmäßigen Beschränkungen der Einfuhr von Hilfsgütern aufzuheben und dieses unzulängliche Verteilungssystem auszusetzen, so Human Rights Watch. Stattdessen sollten die Vereinten Nationen und andere humanitäre Organisationen die Hilfsgüterverteilung in Gaza in großem Umfang und ohne Einschränkungen wieder aufnehmen dürfen, da sie nachweislich in der Lage sind, die Bevölkerung gemäß humanitären Standards und den verbindlichen Urteilen des Internationalen Gerichtshofs in der Völkermordklage Südafrikas gegen Israel zu versorgen.
Im Mai, nach mehr als elf Wochen einer von Israel verhängten totalen Blockade des Gazastreifens, nahm das Verteilungssystem der GHF seine Arbeit auf. Das Ziel der israelischen Behörden war es angeblich, die humanitäre Hilfe der UNO und anderer Hilfsorganisationen langfristig zu ersetzen.
Die israelischen Behörden begründeten diese Schritte mit der Behauptung, die Hamas habe Hilfsgüter zweckentfremdet. Ein Bericht der New York Times, der sich auf israelische Militärquellen stützt, zeigt aber, dass das israelische Militär keine Beweise dafür hat, dass die Hamas Hilfsgüter der UN systematisch zweckentfremdet hat. Das von der UN geleitete System funktioniert weiterhin, unterliegt jedoch erheblichen Einschränkungen durch die israelischen Behörden, darunter auch Beschränkungen hinsichtlich Menge und Art der Hilfsgüter sowie deren Bestimmungsort.
Das GHF-System wird von zwei privaten US-Unternehmen, Safe Reach Solutions (SRS) und UG Solutions, in Zusammenarbeit mit dem israelischen Militär betrieben. Die Firmen sagen, sie seien „nur dafür da, Lebensmittel an die leidende Zivilbevölkerung zu liefern“ und unabhängig von jeder Regierung, aber alle vier Verteilungsstellen liegen in militarisierten Gebieten. Drei Standorte befinden sich in Rafah, das von den israelischen Behörden weitgehend dem Erdboden gleichgemacht wurde und wohin laut israelischen Plänen die Bevölkerung Gazas konzentriert werden soll. Ein Standort liegt in der ethnisch gesäuberten israelischen Sicherheitszone, bekannt als Netzarim-Korridor, der Gaza in zwei Hälften teilt. Keiner der Standorte ist für Menschen im Norden Gazas zugänglich, die daher auf das Verteilungssystem der UNO angewiesen sind.
Im Juli interviewte Human Rights Watch zehn Personen, die in den letzten Monaten vor Ort in Gaza waren und Gewalt an oder in der Nähe von Versorgungsstellen miterlebt oder Verletzte und Getötete an diesen Stellen versorgt haben. Zu den Befragten gehörten Anthony Bailey Aguilar, ein pensionierter Oberstleutnant der US-Spezialeinheiten, der in Gaza als Sicherheitsbeauftragter für UG Solutions tätig war, unter anderem in den Kontrollzentren und bei Dutzenden von Verteilungen an allen vier Verteilungsstellen zwischen Mai und Juni. Außerdem befragt wurden ein ausländischer humanitärer Helfer, der im Juni in Gaza tätig war, zwei ausländische Ärzte, die im Mai, Juni und Juli in Gaza waren und Zivilist*innen behandelten, die an oder in der Nähe von Verteilungsstellen der GHF verletzt wurden; sowie sechs palästinensische Zeug*innen von gewalttätigen Vorfällen im Zusammenhang mit den Hilfsgüterverteilungen. Forscher*innen analysierten außerdem Satellitenbilder in verschiedenen räumlichen Auflösungen, überprüften Videos und Fotos, darunter auch Aufnahmen von Aguilar, analysierten Dokumenten-Metadaten und werteten Social-Media-Beiträge der GHF aus.
Human Rights Watch hat am 19. Juli Briefe an GHF, SRS, UG Solutions, das israelische Militär und die US-Regierung geschickt, mit einer Zusammenfassung der Erkenntnisse und einer Liste von Fragen. Das israelische Militär, UG Solutions, der Anwalt von UG Solutions und der Anwalt von GHF/SRS haben geantwortet, und ihre Antworten sind nachfolgend zusammengefasst.
Die vier GHF-Verteilungsstellen wurden vom israelischen Militär ausgewählt und gebaut, wie ein Anwalt von GHF gegenüber Human Rights Watch angab. Mithilfe von Satellitenbildern konnten die Forscher*innen bestätigen, dass sich die Stellen in militarisierten Zonen befinden und von Militärposten umgeben sind. Der Anwalt von GHF sagte, dass GHF SRS mit dem Betrieb der Verteilungsstellen beauftragt habe, die wiederum UG Solutions mit der Sicherheit an den Stellen beauftragt habe.
Anstatt Lebensmittel an Hunderten von zugänglichen Orten in ganz Gaza zu verteilen, müssen Palästinenser*innen nach dem neuen System sich durch gefährliches und zerstörtes Gelände kämpfen. Fünf Zeugen berichten, dass israelische Streitkräfte die Bewegung der Palästinenser*innen zu den Verteilungsstellen mit scharfer Munition kontrollieren. Innerhalb der Verteilungsstellen herrscht laut Aguilar ein unkontrolliertes „ free-for-all“, bei dem die Schwächsten und Bedürftigsten oft leer ausgehen. Human Rights Watch hat die Ankündigungen auf der Facebook-Seite der GHF zu 105 Verteilungen an den vier Standorten analysiert und festgestellt, dass 54 Verteilungsfenster weniger als 20 Minuten dauerten und 20 Verteilungen als beendet gemeldet wurden, bevor sie offiziell begonnen hatten.
Ein palästinensischer Mann erzählte Human Rights Watch, dass er gegen 21 Uhr sein Zuhause verlassen habe, um zu einer Stelle zu gelangen, die am nächsten Tag um 9 Uhr morgens geöffnet werden sollte. Auf dem Weg dorthin, so berichtete er, habe ein israelischer Panzer das Feuer auf ihn und andere eröffnet, als sie zu der Stelle gingen: „Wenn man stehen blieb oder etwas tat, was sie nicht wollten, schossen sie auf einen.“ In einem anderen Fall sagte Aguilar, er habe am 8. Juni gesehen, wie ein israelischer Panzer auf ein ziviles Fahrzeug direkt vor Standort 4 geschossen habe, wobei seines Wissens vier Menschen im Fahrzeug getötet worden seien. Ein anderer Auftragnehmer, der mit ITV News sprach, beschrieb denselben Angriff auf das Auto.
Ein anderer Palästinenser, der zu einer der Versorgungsstellen gegangen war, beschrieb die schwierige und riskante Anreise: „So viele Menschen, die Hilfe brauchen, bekommen sie nicht, weil sie es nicht bis dorthin schaffen. Diejenigen, die sich auf den Weg machen, verlassen sich auf ihr Glück, und es ist ein Wunder, wenn sie lebend zurückkommen.“
Laut sieben Zeugen, die von Human Rights Watch befragt wurden, haben israelische Einsatzkräfte regelmäßig auf Zivilist*innen geschossen. Drei palästinensische Zeugen und Aguilar gaben außerdem an, bewaffnete Wachleute innerhalb der GHF-Gelände gesehen zu haben, die bei der Verteilung von Hilfsgütern scharfe Munition und andere Waffen gegen Zivilist*innen eingesetzt hätten. Bei diesen bewaffneten Wachleuten handelt es sich offenbar um Mitarbeiter von UG Solutions, da in dem Schreiben des Rechtsbeistands von GHF und SRS bestätigt wurde, dass die einzigen bewaffneten Mitarbeiter innerhalb der Verteilungsstellen von UG Solutions stammen. Die GHF, SRS und UG Solutions haben die Vorwürfe, dass ihre Mitarbeiter Gewalt gegen zivile Personen angewendet hätten, zurückgewiesen und erklärt, dass die Mitarbeiter von UG Solutions tödliche Gewalt nur als letztes Mittel anwenden und niemals Zivilist*innen oder Hilfssuchende verletzt hätten.
Der Hilfsmechanismus reicht nicht aus, um die Massenhungersnot in Gaza zu bekämpfen, so Human Rights Watch. Der Anwalt der GHF sagte, dass sie bis zum 28. Juli 95 Millionen Mahlzeiten in Gaza verteilt haben. Aber selbst wenn alle vier Standorte voll ausgelastet sind, kann die GHF laut Aguilar nur etwa 60 Lastwagen mit Lebensmitteln pro Tag bereitstellen, verglichen mit den 600 Lastwagen pro Tag, die während der Waffenruhe Anfang 2025 im Rahmen des Hilfsprogramms der UN in Gaza ankamen.
Am 29. Juli sagten die weltweit führenden Expert*innen für Ernährungsunsicherheit, die Integrated Phase Classification (IPC), dass sich „der schlimmste Fall einer Hungersnot gerade im Gazastreifen abspielt“. Das Gesundheitsministerium in Gaza meldete, dass seit dem 7. Oktober 2023 bis zum 30. Juli 154 Menschen, darunter 89 Kinder, an Unterernährung gestorben sind, die meisten davon seit dem 19. Juli. Am 27. Juli kündigte das israelische Militär an, die Abwürfe aus der Luft wieder aufzunehmen, sichere Routen für die Einfuhr von Hilfsgütern festzulegen und „humanitäre Feuerpausen“ in besiedelten Gebieten einzuführen, um die Hilfslieferungen zu erleichtern.
Das humanitäre Völkerrecht, das auch für die Feindseligkeiten zwischen israelischen Streitkräften und palästinensischen bewaffneten Gruppen gilt, verlangt von allen Seiten, dass sie immer zwischen Zivilisten und Kombattanten unterscheiden. Angriffe dürfen nur gegen militärische Ziele gerichtet sein, Angriffe, die auf Zivilisten oder zivile Objekte abzielen oder unterschiedslos erfolgen, sind verboten. Die internationalen Menschenrechtsnormen, die auch in Gaza gelten, verbieten den vorsätzlichen tödlichen Einsatz von Schusswaffen durch Sicherheitskräfte, außer wenn dies „zum Schutz des Lebens unbedingt erforderlich“ ist. Diese Standards gelten auch für private Sicherheitskräfte, die polizeiliche Befugnisse ausüben.
Nach beiden Rechtsordnungen können die Behörden Maßnahmen ergreifen, um die Bereitstellung von Hilfeleistungen sicherzustellen, aber die Anwendung tödlicher Gewalt gegen die Zivilbevölkerung ist streng begrenzt. Wenn sich Zivilist*innen beispielsweise von einer von den israelischen Streitkräften festgelegten Route entfernt haben, macht sie das an sich noch nicht zu Zielen, die rechtmäßig angegriffen werden dürfen. Auch würde eine solche Situation den vorsätzlichen Einsatz tödlicher Gewalt durch die Strafverfolgungsbehörden als „zum Schutz von Leben unbedingt erforderlich“ nicht rechtfertigen. Die vorsätzliche rechtswidrige Tötung ziviler Personen der besetzten Bevölkerung ist ein Kriegsverbrechen.
Die wiederholte Anwendung tödlicher Gewalt gegen palästinensische Zivilist*innen durch israelische Streitkräfte ohne Rechtfertigung verstößt sowohl gegen das humanitäre Völkerrecht als auch gegen die internationalen Menschenrechtsnormen. Human Rights Watch sind keine Beweise dafür bekannt, dass die Getöteten zum Zeitpunkt ihres Todes eine unmittelbare Gefahr für das Leben anderer darstellten. Der vorsätzliche Einsatz tödlicher Gewalt durch Personen, die polizeiliche Befugnisse ausüben, ohne dass dafür eine rechtmäßige Begründung vorliegt, verstößt ebenfalls gegen die internationalen Menschenrechtsnormen. Die regelmäßigen Tötungen durch israelische Streitkräfte in der Nähe von GHF-Standorten stellen ebenfalls Kriegsverbrechen dar, da alle Beweise darauf hindeuten, dass es sich um vorsätzliche, gezielte Tötungen von Personen handelt, von denen die israelischen Behörden wussten, dass es sich um palästinensische Zivilist*innen handelte.
Am 26. Juni, einen Monat nachdem SRS mit der Verteilung von Hilfsgütern an den Standorten begonnen hatte, gab die US-Regierung bekannt, dass sie der GHF 30 Millionen US-Dollar zur Verfügung stellen werde. Die Finanzierungsquelle für die Hilfsgüterverteilung der GHF im ersten Monat ist weiterhin unbekannt. In ihrem Schreiben an Human Rights Watch erklärte der Rechtsbeistand der GHF, dass sie „100 Millionen Dollar von einer anderen Regierung als den Vereinigten Staaten oder Israel erhalten habe“, ohne jedoch anzugeben, um welche Regierung es sich dabei handelte.
Die Trump-Regierung hat die Mittel unter Umgehung der Zustimmung des Kongresses bereitgestellt. Die USA sind mitschuldig an den Verstößen Israels gegen das humanitäre Völkerrecht in Gaza, weil sie trotz Kenntnis der anhaltenden schweren Verstöße umfangreiche Militärhilfe leisten.
Der US-Kongress sollte auch verlangen, dass jede zusätzliche Finanzierung für die GHF gemeldet wird, und einen Bericht darüber fordern, wie die US-Gelder aktuell verwendet werden, einschließlich einer Bewertung der Wirksamkeit der Hilfe für hungernde Palästinenser*innen.
Gemäß ihren Verpflichtungen aus der Völkermordkonvention sollten Staaten alle ihnen zur Verfügung stehenden Mittel einsetzen, einschließlich gezielter Sanktionen, eines Waffenembargos und der Aussetzung von Freihandelsabkommen, um die anhaltenden Gräueltaten der israelischen Behörden zu stoppen.
„Es ist völlig inakzeptabel, dass die USA, anstatt ihren erheblichen Einfluss zu nutzen, um Israel zur Beendigung seiner anhaltenden Völkermordhandlungen zu drängen, einen tödlichen Apparat unterstützen und sogar finanzieren, der dazu führt, dass israelische Streitkräfte hungernde palästinensische Zivilisten tötet, um die Menge unter Kontrolle zu halten“, sagte Wille. „Die Staaten müssen dringend handeln, um die Auslöschung der palästinensischen Bevölkerung zu stoppen.“
Gaza: Israeli Killings of Palestinians Seeking Food Are War Crimes (Appeal or News Release, English)
Gaza : Les meurtres par les forces israéliennes de Palestiniens en quête de nourriture sont des crimes de guerre (Appeal or News Release, French)