Amnesty Report 2024/25: Zur Lage der Menschenrechte weltweit; Palästina 2024

Berichtszeitraum: 1. Januar 2024 bis 31. Dezember 2024

Bewaffnete palästinensische Gruppen feuerten 2024 Hunderte ungelenkte Raketen und Mörsergranaten auf Israel ab, auch aus zivilen Wohngebieten im Gazastreifen, und setzten damit das Leben von Zivilpersonen aufs Spiel. Bewaffnete palästinensische Einzelpersonen und Mitglieder bewaffneter Gruppen töteten israelische Zivilpersonen. Zu den Opfern zählten auch Geiseln im Gazastreifen und sieben Bewohner völkerrechtswidriger israelischer Siedlungen im besetzten Westjordanland. Journalist*innen und Kritiker*innen der palästinensischen Behörden im Westjordanland wurden festgenommen und willkürlich inhaftiert. Im Gazastreifen wurden Kritiker der Behörden tätlich angegriffen. Freigelassene israelische Geiseln und im Westjordanland inhaftierte Palästinenser*innen berichteten über Folter und andere Misshandlungen. Die palästinensischen Behörden schützten Frauen und Mädchen nicht ausreichend vor geschlechtsspezifischer Gewalt und Diskriminierung.

Hintergrund

Im Juli und Dezember 2024 kündigten die Behörden der Fatah im Westjordanland und der Hamas im Gazastreifen an, nach dem Ende der israelischen Militäroffensive gemeinsame Anstrengungen zum Wiederaufbau des Gazastreifens unternehmen zu wollen. Seit 2006 hatten keine palästinensischen Parlamentswahlen mehr stattgefunden.

Der Ministerpräsident der Palästinenserbehörde mit Sitz im Westjordanland, Mohammad Schtajjeh, trat im Februar 2024 zurück, nachdem die USA seine Regierung gedrängt hatten, auch die Verwaltung des Gazastreifens zu übernehmen. Präsident Mahmud Abbas ernannte daraufhin Mohammed Mustafa zum neuen Ministerpräsidenten.

Die israelischen Behörden bekannten sich zur Tötung von vier Hamas-Anführern im Gazastreifen. Für die Ermordung zweier weiterer Hamas-Anführer im Libanon und im Iran wurde Israel ebenfalls verantwortlich gemacht. Ab Oktober 2024 war einer der neuen Hamas-Anführer, Khalil al-Hayya, Chefunterhändler der Verhandlungen über eine Waffenruhe, die in der ägyptischen Hauptstadt Kairo stattfanden.

Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht

Bewaffneter Konflikt im Gazastreifen

Bewaffnete palästinensische Gruppen im Gazastreifen feuerten 2024 Hunderte ungelenkte Raketen und Mörsergranaten auf Israel ab. Laut dem UN-Amt für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) führten sie zu keinen Todesopfern in Israel. Die bewaffneten Gruppen gefährdeten palästinensische Zivilpersonen, weil sie die Raketen aus zivilen Gebieten bzw. aus deren Nähe abschossen und weil sich die Mitglieder dieser Gruppen in zivilen Gebieten positionierten, auch in Unterkünften für Binnenvertriebene.

Die Hamas-Führung rechtfertigte weiterhin Gewalt gegen israelische Zivilpersonen. Abu Obeida, der Sprecher des bewaffneten Arms der Hamas (al-Qassam-Brigaden), mahnte mehrfach, das Leben der zivilen Geiseln, die von der Hamas im Gazastreifen festgehalten wurden, sei in Gefahr. Palästinensische bewaffnete Gruppen veröffentlichten rund 20 Videos, Fotos und Textnachrichten, die die katastrophalen Lebensbedingungen der Geiseln und Gefangenen dokumentierten. Am 1. September 2024 gab das israelische Militär bekannt, man habe die Leichen von sechs Israelis – fünf Zivilpersonen und einem Soldaten – im Gazastreifen geborgen. Eine gerichtsmedizinische Untersuchung ergab, dass sie kurz zuvor aus nächster Nähe erschossen worden waren. Posts von Abu Obeida in den Sozialen Medien legten die Vermutung nahe, dass sie getötet worden waren, um zu verhindern, dass sie lebend gerettet wurden.

Angriffe auf die israelische Zivilbevölkerung

Laut Angaben von OCHA töteten bewaffnete palästinensische Einzelpersonen und Mitglieder bewaffneter Gruppen 19 israelische Zivilpersonen, von denen sieben in völkerrechtswidrigen israelischen Siedlungen im besetzten Westjordanland lebten. Am 11. August 2024 töteten Mitglieder der al-Qassam-Brigaden in der Nähe von Mehola, einer völkerrechtswidrigen israelischen Siedlung im nördlichen Jordantal, einen israelischen Zivilisten und verletzten einen weiteren.

Rechte auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit

Westjordanland

Die palästinensische Polizei ging 2024 in einigen Fällen gewaltsam gegen Demonstrierende vor. Nach der Auflösung einer Protestveranstaltung von Studierenden in Ramallah am 30. April beschwerten sich 60 Teilnehmer*innen bei der offiziellen palästinensischen Menschenrechtskommission (Independent Commission for Human Rights – ICHR) über unverhältnismäßige Gewaltanwendung der Polizei.

Kritiker*innen der palästinensischen Behörden im Westjordanland wurden festgenommen und ohne Anklage in Gewahrsam gehalten. Bei der ICHR gingen mehr als 241 Beschwerden über willkürliche Inhaftierungen ein.

Nach Angaben des Palästinensischen Zentrums für Entwicklung und Medienfreiheit (Palestinian Centre for Development and Media Freedoms – MADA) nahm die palästinensische Polizei im Laufe des Jahres 41 Journalist*innen fest, hielt sie einige Stunden oder bis zu einer Woche lang in Gewahrsam und verhörte sie zu ihrer Arbeit.

Gazastreifen

Im Gazastreifen übten die Behörden 2024 massiven Druck auf Medienschaffende aus, wie die US-Organisation Komitee zum Schutz von Journalist*innen (Committee to Protect Journalists) berichtete. Am 8. Juli wurde Amin Abed, ein prominenter Kritiker der Hamas, im Flüchtlingslager Jabalia im Norden des Gazastreifens von vermummten bewaffneten Männern angegriffen, die seinen Angaben zufolge mit der Hamas in Verbindung standen. Er musste wegen mehrerer Knochenbrüche im Krankenhaus behandelt werden. Im November und Dezember 2024 wurden neun Journalisten angegriffen oder auf andere Weise von der Berichterstattung abgehalten. Nach Angaben von MADA hinderten Angestellte des von der Hamas kontrollierten Innenministeriums Medienschaffende daran, über lokale Proteste zu berichten, die sich gegen den Umgang der Hamas mit Hilfslieferungen richteten.

Rechtswidrige Tötungen

Westjordanland

Augenzeugenberichten zufolge wandte die palästinensische Polizei 2024 bei Festnahmeaktionen in Dschenin und anderen palästinensischen Städten im nördlichen Westjordanland exzessive Gewalt an. Die palästinensische Menschenrechtskommission ICHR und die Organisation Lawyers for Justice berichteten, dass palästinensische Polizeikräfte bei diesen Razzien 15 Palästinenser*innen töteten, darunter zwei Minderjährige, denen vorgeworfen wurde, bewaffneten Gruppen anzugehören. Am 1. Mai 2024 erschossen palästinensische Sicherheitskräfte Ahmed Abu al-Ful, der einer bewaffneten Gruppe angehörte, während er mit dem Auto in Tulkarem unterwegs war. Nach Augenzeugenberichten war er unbewaffnet, was die Polizei bestritt. Laut ICHR wurde keine strafrechtliche Untersuchung des Vorfalls eingeleitet.

Am 21. März 2024 wurde Karam al-Jabarin in Dschenin von bewaffneten Männern getötet, die mit dem Palästinensischen Islamischen Dschihad (Palestinian Islamic Jihad – PIJ) in Verbindung standen. Die palästinensische Polizei unternahm nichts, um die Tötung zu verhindern, und leitete danach weder Ermittlungen ein noch nahm sie Verdächtige fest, obwohl der PIJ sich öffentlich zu der "Hinrichtung" äußerte. Mit dem PIJ verbundene bewaffnete Gruppen rekrutierten minderjährige Kämpfer für ihre Zusammenstöße mit palästinensischen Sicherheitskräften.

Gazastreifen

Am 26. September 2024 wurde Islam Hijazi, die für eine humanitäre Hilfsorganisation arbeitete, in Chan Yunis von Sicherheitskräften der Hamas getötet, die 90 Schüsse auf ihr Auto abfeuerten. Die Hamas erklärte, es habe sich um eine Verwechslung gehandelt. Der Vorfall wurde weder untersucht noch wurden die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen.

Folter und andere Misshandlungen

Nach Angaben von OCHA wurden 97 Zivilpersonen und Soldat*innen, die am 7. Oktober 2023 von Mitgliedern palästinensischer bewaffneter Gruppen aus Israel entführt worden waren, Ende 2024 noch immer im Gazastreifen festgehalten, darunter zwei Kinder: der fünfjährige Ariel Bibas und sein einjähriger Bruder Kfir. Die Geiseln hatten keinen Kontakt zum Internationalen Komitee vom Roten Kreuz. Es wurde befürchtet, dass Dutzende Geiseln getötet worden waren – entweder bei Angriffen der israelischen Streitkräfte oder durch Mitglieder bewaffneter palästinensischer Gruppen. Freigelassene Geiseln gaben an, schwere Prügel und sexualisierte Gewalt erlebt oder miterlebt zu haben.

Von Januar bis November 2024 gingen bei der ICHR 123 Beschwerden wegen Folter und anderen Misshandlungen in palästinensischen Haftanstalten und Gefängnissen im Westjordanland ein, die in den meisten Fällen Verhöre betrafen. Aufgrund des andauernden Konflikts war die ICHR nicht in der Lage, Foltervorwürfe gegen die palästinensischen Behörden im Gazastreifen zu dokumentieren.

Recht auf Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung

Die Hamas-Behörden leiteten auch 2024 keinerlei Untersuchungen zu möglichen Kriegsverbrechen und anderen schweren völkerrechtlichen Verstößen ein.

Am 21. November 2024 erließ der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) Haftbefehl gegen den Anführer der al-Qassam-Brigaden, Mohammed Deif, sowie gegen den israelischen Ministerpräsidenten und den damaligen israelischen Verteidigungsminister. Die israelischen Streitkräfte gaben an, sie hätten Mohammed Deif bereits im Juli 2024 getötet.

Rechte von Frauen und Mädchen

Frauen und Mädchen wurden von den palästinensischen Behörden auch 2024 nicht ausreichend vor geschlechtsspezifischer Gewalt und Diskriminierung geschützt. Vertriebene Frauen, die in Lagern im südlichen Gazastreifen untergekommen waren, berichteten lokalen Frauenrechtsorganisationen, dass sie häusliche Gewalt erlebten und bei der Lebensmittelverteilung drangsaliert und von Umstehenden verletzt worden seien.

Verschwindenlassen

Das Schicksal von sechs Männern, die 2002 dem Verschwindenlassen zum Opfer gefallen waren, nachdem palästinensische Behörden sie in einem Haftzentrum in der Stadt Salfit im Westjordanland festgehalten hatten, war 2024 weiterhin unbekannt, obwohl sich ihre Verwandten beim Innenministerium für die Aufklärung des Falls einsetzten.

Unbekannt waren auch das Schicksal und der Verbleib der beiden Israelis Avera Mengistu und Hisham al-Sayed, die unter psychischen Erkrankungen litten und 2014 bzw. 2015 im Gazastreifen verschwunden waren.

Recht auf eine gesunde Umwelt

Nur 1 Prozent der palästinensischen Abfälle wurde recycelt.

Im März 2024 führte das Gesundheitsministerium im Westjordanland eine Schulung zum Aufbau eines klimaresistenten Gesundheitssystems durch.

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