Dutzende Kritiker*innen unrechtmäßig hinter Gittern
- Die tunesische Regierung setzt willkürliche Verhaftungen als primäres Mittel ihrer repressiven Strategie ein, um Menschen ihrer bürgerlichen und politischen Rechte zu berauben.
- Nach der Übernahme der staatlichen Institutionen in Tunesien durch Präsident Kais Saied am 25. Juli 2021 haben die Behörden ihre repressive Politik gegen Dissident*innen weiter verschärft.
- Tunesische Behörden sollten unverzüglich alle willkürlich verhafteten Personen freilassen und aufhören, Menschen nur deswegen zu verfolgen, weil sie ihre Menschenrechte ausüben. Die internationalen Partner Tunesiens sollten die Regierung auffordern, ihre repressive Politik zu beenden.
(Beirut) – Die tunesische Regierung setzt willkürliche Verhaftungen als primäres Mittel ihrer repressiven Strategie ein, um Menschen ihrer bürgerlichen und politischen Rechte zu berauben, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Die Behörden sollten ihr Vorgehen gegen von ihnen als kritisch wahrgenommene Stimmen einstellen und alle Menschen freilassen, die – oftmals nur aufgrund der Ausübung ihrer Menschenrechte – willkürlich verhaftet wurden.
Der 42-seitige Bericht „‚All Conspirators‘: How Tunisia Uses Arbitrary Detention to Crush Dissent“ (dt. etwa: „‚Alles Verschwörer‘: Wie Tunesien mit willkürlichen Verhaftungen gegen kritische Stimmen vorgeht“) dokumentiert, wie die Regierung verstärkt auf willkürliche Verhaftungen und politisch motivierte Strafverfolgung setzt, um kritische Stimmen einzuschüchtern, zu bestrafen und zum Schweigen zu bringen. Human Rights Watch hat 22 Fälle dokumentiert, in denen Personen aufgrund öffentlicher Stellungnahmen oder ihrer politischen Arbeit unter falschen Anschuldigungen, wie etwa Terrorismus, verhaftet wurden. Zu den Betroffenen zählten Anwält*innen, Oppositionelle, Aktivist*innen, Journalist*innen, Nutzer*innen sozialer Medien sowie Menschenrechtsverteidiger*innen. Mindestens 14 Verhafteten droht bei einer Verurteilung die Todesstrafe. Stand Januar 2025 wurden mehr als 50 Personen aus politischen Gründen oder aufgrund der Ausübung ihrer Rechte festgehalten.
„Das ist die massivste Repressionswelle der tunesischen Behörden seit der Revolution von 2011“, sagte Bassam Khawaja, stellvertretender Direktor der Abteilung Naher Osten und Nordafrika bei Human Rights Watch. „Die Regierung von Präsident Kais Saied hat das Land zurück in eine Zeit politischer Gefangener geführt und beraubt die Menschen in Tunesien ihrer hart erkämpften bürgerlichen Freiheiten.“
Nach der Übernahme der staatlichen Institutionen in Tunesien durch Präsident Kais Saied am 25. Juli 2021 haben die Behörden ihre repressive Politik gegen Dissident*innen massiv verschärft. Seit Anfang 2023 kam es verstärkt zu willkürlichen Verhaftungen und Festnahmen von Menschen, die als regierungskritisch wahrgenommen werden. Im Visier der Behörden sind Oppositionelle aus dem gesamten politischen Spektrum.
Den Erkenntnissen von Human Rights Watch zufolge bestärkt Präsident Saied Sicherheitskräfte und Gerichte darin, Andersdenkende zu verfolgen. So beschuldigt er immer wieder Regierungskritiker*innen sowie nicht explizit benannte politische Gegner*innen, „Verräter“ oder sogar „Terroristen“ zu sein.
Die Behörden haben die wichtigsten politischen Widersacher*innen und die bekanntesten Gesichter der Opposition hinter Gitter gebracht, darunter Abir Moussi, Vorsitzender der Freien Destur-Partei (PDL), sowie Rached al-Ghannouchi, der ehemalige Vorsitzende der oppositionellen Ennahda-Partei und ehemaliger Parlamentspräsident. Zu den weiteren Prominenten, die für ihre Kritik an den Behörden, verhaftet wurden, gehören Sonia Dahmani, eine Anwältin, sowie Mohamed Boughalleb, ein Journalist.
Die Behörden gehen juristisch äußerst scharf vor, unter anderem mit unbegründeten Terrorismusvorwürfen nach dem Strafgesetzbuch und dem Anti-Terrorgesetz von 2015, das Sicherheitskräften umfassende Überwachungsbefugnisse einräumt. Dieses Gesetz ermöglicht zudem nicht nur den Einsatz anonymer Informant*innen und Zeug*innen vor, sondern auch, dass Verdächtige bis zu 15 Tage in Gewahrsam genommen werden können, ohne einem*einer Richter*in vorgeführt zu werden. Nicht zuletzt haben die Behörden auch von Gesetzen Gebrauch gemacht, die das Recht auf freie Meinungsäußerung ebenso wie das Recht auf Privatsphäre einschränken, darunter Bestimmungen des Strafgesetzbuches, des Fernmeldegesetzes und des Gesetzesdekrets 54 zu Cyberkriminalität. Viele der Verhafteten, deren Fälle im vorliegenden Bericht dokumentiert wurden, sind wegen des Versuchs angeklagt, „die Staatsform zu ändern“, ein Vergehen, das die Todesstrafe nach sich ziehen kann.
Tunesische Behörden haben viele Kritiker*innen länger als den maximal zulässigen Zeitraum von 14 Monaten in Untersuchungshaft genommen. Gerichte haben immer wieder zusätzliche Anklagen oder neue Haftbefehle erlassen, um prominente Personen hinter Gittern zu halten, manchmal sogar ohne Vorführung der Betroffenen, so die Erkenntnisse von Human Rights Watch.
Die wiederholten Angriffe der Behörden auf die Justiz, wozu auch die Auflösung des Obersten Justizrats durch Präsident Saied gehört, haben deren Unabhängigkeit schwer beeinträchtigt und das Recht der Menschen in Tunesien auf ein faires Verfahren in Gefahr gebracht. Im Visier standen auch Strafverteidiger*innen, die auf Grundlage schikanöser Anklagen strafrechtlich verfolgt und mit Reiseverboten an der Ausübung ihres Mandats gehindert wurden. Zivilist*innen wurden von Militärgerichten verfolgt, verurteilt und festgenommen, und das nur, weil sie sich kritisch über die Regierung geäußert hatten.
Human Rights Watch hat festgestellt, dass Gefangene sehr häufig unter unwürdigen Bedingungen festgehalten werden. Menschen, die wegen friedlicher Meinungsäußerungen oder politischer Aktivitäten inhaftiert sind, bekommen keine angemessene gesundheitliche Betreuung. Manche werden rund um die Uhr per Video überwacht, mit durchgehender künstlicher Beleuchtung drangsaliert oder müssen Leibesvisitationen über sich ergehen lassen.
Chadha Hadj Mbarek, eine hörgeschädigte Journalistin, die eine fünfjährige Haftstrafe für den vorgeblichen Versuch absitzt, „die Staatsform zu ändern“, leidet unter schlechten Haftbedingungen, einer nicht angemessenen Unterbringung sowie fehlenden Unterstützungsleistungen. Das im Gefängnis verwendete Kommunikationssystem führt dazu, dass sie ihre Familienangehörigen bei Besuchen nur schwer verstehen kann. Ihr Bruder Amen berichtete Human Rights Watch zudem, dass die Gefängnisleitung ihr keinen Zugang zu ihren Medikamenten gewährt.
„Sie hat ihren Lebensunterhalt verloren, und sie fühlt sich wie eine Aussätzige, weil sie mit Verschwörung und Terrorismus in Verbindung gebracht wird“, sagte Amen.
Tunesien ist ein Unterzeichnerstaat des Internationales Pakts über bürgerliche und politische Rechte sowie der Afrikanischen Charta der Menschenrechte und der Rechte der Völker, die das Recht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit und auf ein faires Verfahren garantiert und zudem eine willkürliche Festnahme oder Inhaftierung verbietet.
Die tunesischen Behörden sollten unverzüglich alle willkürlich inhaftierten Personen freilassen, alle schikanösen Klagen fallen lassen und aufhören, Menschen zu verfolgen, die lediglich ihre Menschenrechte ausüben. Tunesiens internationale Partner sollten die Regierung auffordern, ihre repressive Politik zu beenden und stattdessen sicherzustellen, dass die Bevölkerung ihr Recht auf Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit wahrnehmen kann.
Die Europäische Union und ihre Mitgliedsstaaten, deren Aufschrei über die desaströse Menschenrechtslage bislang ausgeblieben ist, sollten die sich verschlimmernde menschenrechtliche Situation öffentlich anprangern und sicherstellen, dass jede Zusammenarbeit mit Tunesien an die Einhaltung internationaler Menschenrechtsverpflichtungen gekoppelt ist. Die Afrikanische Kommission der Menschenrechte und der Rechte der Völker sollte Tunesien auffordern, den verbindlichen Entscheidungen des Afrikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte und die Rechte der Völker nachzukommen.
„Tunesiens internationale Partner haben lange weggeschaut, als sich die Menschenrechtslage in Tunesien immer weiter verschlechterte, selbst als politische Gegner und Kritiker nach und nach mit hohen Strafen belegt wurden“, sagte Khawaja. „Die internationale Gemeinschaft hat die dringliche Pflicht, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um für die Freilassung der Menschen zu sorgen, die unrechtmäßig festgenommen wurden.“