Anfragebeantwortung zur Russischen Föderation: Tschetschenien: Möglichkeiten der Verweigerung einer Zwangsheirat, Konsequenzen, Gefahr von Ehrenmorden, Zwangsrückführungen nach Tschetschenien, innerstaatliche Fluchtalternative; Staatlicher Schutz bei Zwangsheirat; Zugriff tschetschenischer Behörden auf das russlandweite Wohnsitz-Meldesystem [a-12299]

3. September 2024

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Inhaltsverzeichnis

Verweigerung einer Zwangsheirat, Konsequenzen, Gefahr von Ehrenmorden        

Zwangsrückführungen nach Tschetschenien, innerstaatliche Fluchtalternative       

Staatlicher Schutz bei Zwangsheirat 

Zugriff tschetschenischer Behörden auf das russlandweite Wohnsitz-Meldesystem            

Quellen

Anhang: Quellenbeschreibungen und Informationen aus ausgewählten Quellen   

Im Folgenden finden Sie Informationen zu oben genannter Fragestellung. Es wurden auch Informationen berücksichtigt, die andere Republiken im Nordkaukasus betreffen. Darüber hinaus werden Fälle von Zwangsrückführungen angeführt, die nicht mit Zwangsehen in Zusammenhang stehen. Kurzbeschreibungen zu den in dieser Anfragebeantwortung verwendeten Quellen sowie Ausschnitte mit Informationen aus diesen Quellen finden Sie im Anhang.

Verweigerung einer Zwangsheirat, Konsequenzen, Gefahr von Ehrenmorden

Die parlamentarische Versammlung des Europarates (Council of Europe – Parliamentary Assembly, CoE-PACE) schreibt in einem Bericht vom Juni 2022, dass sich die Lage von Frauen und Mädchen im Nordkaukasus weiter verschlechtert habe. Zwangsverheiratungen seien in der Region nach wie vor eine häufige Praxis, und eine im Ausland lebende Frau aus dem Nordkaukasus laufe Gefahr, entführt und zur Heirat in Dagestan oder Tschetschenien gezwungen zu werden. Der Fall Bopchojewa sei ein Beispiel dafür gewesen, da selbst die eigene Familie der Frau keine Zuflucht angeboten habe, sondern sie zurückgebracht und gezwungen habe, in der Obhut des Entführers zu leben. Leider gebe es im Nordkaukasus viele derartige Fälle, bei denen die Behörden sogar eine aktive Rolle gespielt hätten (CoE-PACE, 3. Juni 2022, S. 13).

Detaillierte Informationen zum Fall Saira Bopchojewa finden Sie in folgendem Artikel:

·      Mediazona: “She’s either buried or married.” What we know about early and forced marriages in the North Caucasus, 11. Juni 2024
https://en.zona.media/article/2024/06/11/caucasus

Die Moscow Times berichtet im August 2023 darüber, dass Seda Sulejmanowa, eine Frau, die nach Todesdrohungen von Seiten ihrer Familie aus Tschetschenien geflohen sei, gewaltsam nach Hause zurückgebracht worden sei. Sulejmanowa sei im Oktober 2022 mit Hilfe der NGO SK SOS geflohen, nachdem sie von ihrer Familie gewarnt worden sei, dass sie einem Ehrenmord zum Opfer fallen könnte, weil sie sich geweigert habe, mit einem Mann verheiratet zu werden. Polizisten, in Begleitung von Tschetschenen in Zivil, hätten Sulejmanowa im Rahmen eines Strafverfahrens wegen Schmuckdiebstahls in Sankt Petersburg festgenommen. Laut SK SOS sei sie nach Tschetschenien gebracht, dort als Zeugin befragt und dann an ihre Familie übergeben worden (The Moscow Times, 30. August 2023; vgl. OC Media, 3. Oktober 2023). Open Caucasus Media (OC Media) schreibt in einem Artikel vom Oktober 2023 ebenfalls über den Fall von Seda Sulejmanowa. Der tschetschenische Menschenrechtsbeauftragte Mansur Soltajew habe mit Sulejmanowa nach deren Rückkehr gesprochen und behauptete, es gehe ihr gut, Menchenrechtsaktivist·innen hätten allerdings gewarnt, dass sie in Tschetschenien in großer Gefahr sei (OC Media, 3. Oktober 2023). Auch der Mitteldeutsche Rundfunk (MDR), die Landesrundfunkanstalt für Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen, berichtet im Mai 2024 Folgendes über den Fall:

Auch zum Fall der entführten Seda Sulejmanowa, über die aktuell in den Medien und Foren viel spekuliert wird, verlor das offizielle Moskau kein Wort. […] Die 26-jährige Tschetschenin wird seit August 2023 vermisst. Seda floh 2022 aus ihrem Elternhaus in Grosny, um einer Zwangsheirat zu entkommen. Mit Unterstützung von Menschenrechtlern kam sie nach St. Petersburg, fand dort einen Job und zog später auch mit ihrem Freund zusammen. Einen Monat später wurde sie jedoch von ihren tschetschenischen Verwandten aufgespürt. Im August 2023 nahm die St. Petersburger Polizei Sulejmanowa fest – die 26-Jährige soll Schmuckstücke ihrer Mutter im Wert von 150.000 Rubel (umgerechnet etwa 1.500 Euro) entwendet haben. Sie wurde nach Tschetschenien zurückgebracht, seitdem hat sie niemand mehr gesehen. Im April begann das tschetschenische Ermittlungskomitee (Das ist eine von der Staatsanwaltschaft unabhängige Institution, die direkt dem Präsidenten unterstellt ist, und eigenständig Ermittlungen aufnehmen kann – d. Red.) eine Untersuchung wegen des mutmaßlichen Mordes an Seda, nachdem die Menschenrechtsgruppe ‚Krisengruppe SK SOS‘ Anzeige erstattet hatte.

Das Strafverfahren gegen Seda wegen Diebstahls sei zweifelsfrei fingiert, glaubt der heute im Exil lebende tschetschenische Menschenrechtler Abubakar Jangulbajew, der früher als Anwalt bei der Menschenrechtsorganisation ‚Komitee gegen Folter‘ tätig war. Dies sei eine bewährte Masche – gerade bei Frauen, die aus Tschetschenien fliehen: ‚Wenn Gründe fehlen, ein Strafverfahren gegen jemanden einzuleiten, der zurück nach Tschetschenien gebracht werden soll, werden solche Vorwürfe erfunden‘, so Jangulbajew. Meist sind es die Verwandten, die wegen fingierter Taten Anzeige erstatten, um geflüchtete Familienmitglieder wieder unter Kontrolle zu bringen. Die russischen Behörden sind hier nur ausführendes Organ: Wenn sie die Gesuchten fassen, übergeben sie diese den tschetschenischen Behörden ohne selbst zu prüfen, ob an den Vorwürfen gegen sie etwas dran ist. […] Inzwischen sind Spekulationen laut geworden, dass Seda Opfer eines sogenannten ‚Ehren‘-Mordes geworden sei.“ (MDR, 7. Mai 2024)

Caucasian Knot berichtet im November 2022 von vier Schwestern aus Dagestan, die von zu Hause geflohen seien. Nach Angaben der Schwestern hätten ihre Verwandten unter anderem versucht, sie mit Zwang zu verheiraten, auch mit einem Verwandten. Die Schwestern hätten darum gebeten, nicht an ihre Verwandten übergeben zu werden, aus Angst, diese würden sie suchen, um sie zu töten (Caucasian Knot, 12. November 2022).

Weitere Informationen zu dem Fall der vier Schwestern aus Dagestan finden Sie auch unter folgendem Link:

·      Telepolis: Flucht aus Dagestan: "Mädchen haben da keine Rechte", 1. November 2022
https://www.telepolis.de/features/Flucht-aus-Dagestan-Maedchen-haben-da-keine-Rechte-7325602.html

Zwangsrückführungen nach Tschetschenien, innerstaatliche Fluchtalternative

OC Media berichtet im Oktober 2023 auch über den Fall von Elsa Mussajewa. Diese sei im Juli 2023 aus Sterlitamak in Westrussland entführt worden, nachdem sie mit Hilfe von Menschenrechtsaktivist·innen aus Tschetschenien geflohen sei. Nach ihrer Rückkehr nach Tschetschenien habe Mussajewa ein Video aufgenommen, in dem sie Menschenrechtsaktivist·innenen aufgefordert habe, die Suche nach ihr einzustellen. Laut OC Media gebe es häufig Fälle, in denen Frauen von zu Hause fliehen und Hilfe bei Menschenrechtsorganisationen suchen würden, wobei viele von ihnen dann offenbar entführt und nach Tschetschenien zurückgebracht würden, oft mit Hilfe der örtlichen und tschetschenischen Strafverfolgungsbehörden (OC Media, 3. Oktober 2023).

UN News zitiert in einem Artikel vom November 2023 über die Lage der Frauen im Nordkaukasus die Pressesprecherin von SK SOS, Alexandra Miroschkina. Auf die Frage, was eine Frau erwarte, die mit Gewalt nach Hause zurückgebracht werde, habe Mitroschkina geantwortet, dass eines der wahrscheinlichen Szenarien ein sogenannter Ehrenmord sei. Die Verwandten würden versuchen, die Schande wegzuwaschen, dass die Frau von zu Hause weggelaufen und in den Augen der Familie unangemessen gelebt habe. Der zuverlässigste Schutzmechanismus in so einem Fall sei der Gang an die Öffentlichkeit. Dann würden die Verwandten die Frau unter Umständen nicht töten. Sollte die Frau nicht getötet werden, werde sie genauestens beobachtet, damit sie nicht noch einmal fliehen könne, und sie werde für ihr „falsches Verhalten“ und die Flucht bestraft. Mitroschkina sei kein Fall bekannt, in dem sich die Lage einer Frau in der Familie nach ihrer Rückkehr wesentlich verbessert habe, weil die Verwandten eingesehen hätten, dass sie im Unrecht gewesen seien und beschlossen hätten, ihr Verhalten zu ändern. Ehrenmorde seien laut Mitroschkina alltägliche Realität für Frauen im Nordkaukasus (UN News, 30. November 2023).

Laut CoE-PACE habe Human Rights Watch im September 2021 angegeben, dass Frauen, die vor häuslicher Gewalt im Nordkaukasus fliehen würden, oft mit Hilfe der Strafverfolgungsbehörden gefangen genommen und zu ihren Familien zurückgebracht würden. Darüber hinaus hätten die Behörden Gewalt gegen Frauen geduldet und dazu beigetragen. Sie hätten die Opfer auch dazu gezwungen, ihr Leid („grief“) zu verbergen. Im Jahr 2020 hätten die Ermittlungsbehörden beschlossen, die Leiche einer tschetschenischen Frau zu exhumieren, die unter verdächtigen Umständen im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt gestorben sei. Einige Tage später, nachdem Ramsan Kadyrow die Exhumierung als Verstoß gegen religiöse Traditionen kritisiert und erklärt habe, dass Schläge während einer Ehe etwas Normales seien, hätten sich die Behörden geweigert, die strafrechtlichen Ermittlungen fortzusetzen, und die Mutter des Opfers habe sich dafür entschuldigen müssen, „auf Gerüchte gehört zu haben“ (CoE-PACE, 3. Juni 2022, S. 13).

Das Außenministerium der Niederlande schreibt in einem im März 2023 veröffentlichten Bericht (Berichtszeitraum: April 2021 – März 2023), dass einer vertraulichen Quelle zufolge, Frauen in Tschetschenien, Dagestan und Inguschetien besonders von Missbrauch („abuse“) durch Familienmitglieder bedroht seien. Wenn sie versuchen würden, die Familie zu verlassen, würden die Verwandten nach ihnen suchen, oft mit Hilfe des örtlichen Inlandsgeheimdienstes FSB, zu dem sowohl die Ermittlungsabteilung des FSB als auch die Grenzpolizei gehören würden. Wenn die Frauen versuchen würden, Russland zu verlassen, würden die Familienangehörigen häufig vom FSB informiert und dann an der Grenze auf ihr flüchtiges Familienmitglied warten (Netherlands Ministry of Foreign Affairs, März 2023, S. 29).

Radio Free Europe/Radio Liberty (RFE/RL) berichtet im Juni 2023 über den Fall von Selima Ismailowa, einer 19-jährigen Tschetschenin, die auf dem Moskauer Flughafen Wnukowo von der Polizei festgenommen worden sei, als sie auf dem Weg war, Russland zu verlassen, um häuslicher Gewalt zu entfliehen, so Menschenrechtsaktivist·innen gegenüber RFE/RL. Nach Angaben von Sofia Rusowa vom Center for Defense from Domestic Violence habe Ismailowa mehrere Jahre bei ihrer Familie in Deutschland gelebt, sei dann aber zu ihren Verwandten nach Tschetschenien geschickt worden, wo sie regelmäßig misshandelt worden sei. Swetlana Anochina, die Gründerin des Menschenrechtsprojekts Marem, habe RFE/RL gegenüber angegeben, dass Ismailowas Vater sie 2021 in der tschetschenischen Stadt Atschchoi-Martan besucht und schwer geschlagen habe. Marem habe Ismailowa dabei geholfen, aus Tschetschenien nach Moskau zu fliehen und ihr dort eine Unterkunft zur Verfügung gestellt, wo die Frau einige Zeit geblieben sei, bevor sie ihre Abreise aus Russland in ein nicht näher bezeichnetes Land geplant habe. Rusowa habe angegeben, dass die Polizist·innen am Flughafen sich geweigert hätten, Ismailowa ihren Anwält·innen zu übergeben, und gesagt hätten, sie würden auf Strafverfolgungsbeamte aus Tschetschenien warten, die Ismailowa abholen würden, da sie in Tschetschenien angeblich wegen Diebstahls gesucht werde. Menschenrechtsaktivist·innen würden schon seit einiger Zeit darauf hinweisen, dass Verwandte im Nordkaukasus häufig Anzeigen machen würden, in denen sie flüchtige Frauen eines Verbrechens, meist eines Diebstahls, beschuldigen würden, damit deren Inhaftierung und das Zurückbringen zu ihren Verwandten gesetzeskonform sei („legalize“). Häusliche Gewalt sei in der Nordkaukasusregion seit Jahrzehnten ein Problem. Opfer, denen es gelinge zu fliehen, würden oft sagen, dass ihnen eine „Bestrafung“, einschließlich Ehrenmord, drohe, wenn sie zur Rückkehr gezwungen würden. Die örtlichen Behörden würden sich in der Regel auf die Seite der beschuldigten Täter stellen. Im Oktober 2022 sei es RFE/RL zufolge vier Schwestern aus Dagestan mit Hilfe von Menschenrechtsorganisationen gelungen, nach Georgien zu fliehen, nachdem sie häuslicher Gewalt ausgesetzt gewesen seien. Im August 2022 sei es Patimat Idrissowa, einer anderen Frau aus Dagestan, gelungen, Russland zu verlassen und ihre Identität zu ändern, nachdem sie häuslicher Gewalt ausgesetzt gewesen sei. Im Jahr 2021 seien zwei Opfer häuslicher Gewalt aus Dagestan gewaltsam aus einem Heim in Tatarstan abgeholt und gegen ihren Willen in ihre Heimat zurückgebracht worden. Ebenfalls im Jahr 2021 sei ein Polizeibeamter in eine Unterkunft in der dagestanischen Hauptstadt Machatschkala eingedrungen und habe eine Tschetschenin, Chalimat Taramowa, die aus Tschetschenien geflohen sei, um mit ihrer Freundin zusammenzuleben, gewaltsam mitgenommen (RFE/RL, 12. Juni 2023).

The Guardian berichtet im Juni 2024 über den Fall von Lija Saurbekowa. Diese habe den Versuch ihrer eignen Familie, sie zu entführen, live aus einer Polizeistation in Moskau gestreamt. Sie habe gewusst, dass dies ihre einzige Chance gewesen sei, am Leben zu bleiben, sie habe nicht lautlos verschwinden wollen, so Saurbekowa. Tage zuvor sei sie nach „Jahren physischer und psychischer Gewalt, totaler Kontrolle und Freiheitsbeschränkung“ aus der Wohnung ihrer Eltern in Moskau geflohen. Danach hätten ihr Vater und andere tschetschenische Männer, darunter auch entfernte Verwandte, begonnen, sie zu suchen und hätten sie in einer Wohnung aufgespürt, in der sie sich versteckt habe. Nach ihrer neuerlichen Flucht auf eine Polizeistation, deren Mitarbeiter·innen Saurbekowa um Schutz gebeten habe, hätten die tschetschenischen Männer vor der Tür gewartet. Sie, Saurbekowa, habe verstanden, dass es ihr Ende sei, sollten die Männer sie zu fassen bekommen. Ihre Eltern hätten sie zuvor auch gewarnt, dass sie, sollte sie die Familie verlasse, das gleiche Schicksal erleiden würde wie diejenigen, die zuvor erfolglos versucht hätten, zu fliehen. Ihre Eltern hätten gesagt, dass eine lebendige Beerdigung keine ausreichende Strafe für die Schande sei, die diese Mädchen über ihre Familien gebracht hätten. Das Veröffentlichen der Videos habe dazu geführt, dass die Geschichte von Saurbekowa zu hitzigen Diskussionen in ganz Russland geführt habe und auch die staatlichen Medien und einflussreiche Telegram-Kanäle hätten das Thema aufgegriffen. Die Situation habe auch die Aufmerksamkeit der tschetschenischen Machthaber auf sich gezogen. Adam Delimchanow, ein enger Vertrauter von Ramsan Kadyrow, habe zugesichert, persönlich zu intervenieren und Saurbekowa mit ihrer Familie wieder zu vereinen. Saurbekowa sei der Ansicht, dass ihr die öffentliche Resonanz Zeit verschafft habe und die Polizist·innen unter Druck geraten seien, die Tschetschenen an ihrer Ergreifung zu hindern. In derselben Nacht habe ihr Anwalt ihr dabei geholfen, unbemerkt die Polizeistation zu verlassen und habe sie direkt zum Flughafen gebracht, von wo sie einen Flug an einen Ort genommen habe, der aus Sicherheitsgründen nicht genannt werden könne. Der Guardian merkt allgemein an, dass Kadyrows Sicherheitskräfte in den letzten Jahren mit Billigung des Kremls immer dreister geworden seien und im ganzen Land Frauen und Regimekritiker·innen entführt hätten, was befürchten lasse, dass sie weit über die Grenzen des streng kontrollierten Tschetscheniens hinaus frei operieren könnten (The Guardian, 10. Juni 2024).

SK SOS berichtet im Oktober 2023 darüber, dass in Tschetschenien Strafverfahren eingesetzt würden, um aus der Republik geflohene Personen in jeder Region Russlands festnehmen und zurückbringen zu lassen. In der Regel würden die Strafverfahren „aus dem Nichts auftauchen“, seien konstruiert und würden nur dem Zweck dienen, die flüchtige Person festzunehmen. Sobald die flüchtige Person wieder zu Hause sei, löse sich der Fall in Luft auf. Die Strafverfahren würden am häufigsten wegen Diebstahl oder Betrug eingeleitet. Sie würden meistens von den Verwandten initiiert, die angeben würden, das flüchtige Familienmitglied habe irgendetwas gestohlen. Die Polizei sei dabei SK SOS zufolge offensichtlich darüber informiert, dass die Anschuldigungen erfunden seien, denn sie versuche nicht einmal, die Situation aufzuklären oder offiziell ein Strafverfahren einzuleiten. Die einzige Aufgabe der Polizei bestehe darin, die flüchtige Person zu finden und zur Familie zurückzubringen, Formalitäten seien dabei zweitranging. Manchmal würden die tschetschenischen Strafverfolgungsbehörden einfach eine eine seit langem bestehende Anzeige hernehmen, die nichts mit der flüchtigen Person zu tun habe, und letztere zum/r Verdächtigen in diesem Fall machen. Manchmal sei das ganze absolut absurd, da die Person, der die Tat nun angelastet werde, zum Zeitpunkt der Begehung der Tat die Region längst verlassen habe, sodass sie weder Täter·in noch Zeug·in hätte sein können. Einer der ersten Fälle, in dem versucht worden sei, geflüchtete Personen unter dem Vorwand eines Strafverfahrens zurückzubringen, sei der Fall der oben bereits erwähnten vier Schwestern aus Dagestan an der Grenze zwischen Russland und Georgien gewesen. Diesen seien verschiedenste Gründe für ihre Festnahme genannt worden. Laut Angaben der Grenzbeamten sei nach den Schwestern aufgrund einer Anzeige ihrer Verwandten gefahndet worden, sie hätten den Schwestern und ihren Anwält·innen aber weder die Anzeige noch den Fahndungsaufruf zeigen können. Nach mehreren Stunden seien die Schwestern freigelassen worden und man habe ihnen die Ausreise gestattet, wobei der öffentliche Aufschrei und die fehlende Vorbereitung der Grenzbeamten eine Rolle gespielt habe. Seitdem hätten letztere jedoch aus ihren Fehlern gelernt und würden Strafverfahren „verantwortungsvoller“ konstruieren (SK SOS, 8. Oktober 2023).

Alexandra Miroschkina, die Pressesprecherin von SK SOS, habe angegeben gegenüber UN News in dem bereits weiter oben zitierten Artikel vom November 2023 zudem Habe angegeben, dass es für Frauen schwierig sei, ihre Region zu verlassen. Sollten sie fliehen, würden die Strafverfolgungsbehörden eingeschaltet, die alles Mögliche unternehmen würden, um diese Frauen zu finden und zurückzubringen, was ihre Evakuierung erschwere. In Russland sei außerdem nicht nur die „primäre Evakuierung“ aus der Region wichtig. Sehr häufig könnten die Frauen auch nicht in anderen Regionen der Russischen Föderation bleiben, da sie gefunden, gekidnappt und mit Gewalt in ihre Heimatrepubliken zurückgebracht würden. In Europa sei man der Ansicht, Frauen aus dem Nordkaukasus könnten ihre Sachen packen, nach Moskau, Petersburg oder sonst irgendwo hinziehen und dort weiterleben, ohne dass sie gezwungen würden, einen Hidschab zu tragen und ohne von einem Ehrenmord bedroht zu sein. Leider funktioniere das aber so nicht. In der Praxis zeige sich immer wieder, dass Frauen aus dem Nordkaukasus in keiner Region Russlands in Sicherheit seien. Den Frauen bliebe nichts anderes übrig, als sich an Menschenrechtsverteidiger·innen und Jurist·innen zu wenden, das Land zu verlassen und zu versuchen, den Migrationsbehörden des Landes, in dem sie um Asyl ansuchen würden, die Situation zu erklären (UN News, 30. November 2023).

Das Außenministerium der Niederlande schreibt in seinem im März 2023 veröffentlichten Bericht (Berichtszeitraum: April 2021 – März 2023), dass Opfer aus dem Nordkaukasus auch nach einer Umsiedlung in ein anderes Gebiet nicht sicher seien (Netherlands Ministry of Foreign Affairs, März 2023, S. 30).

Staatlicher Schutz bei Zwangsheirat

Informationen zur Beteiligung von Strafverfolgungsbehörden an der Rückführung von Frauen aus dem Nordkaukasus zu ihren Familien entnehmen Sie bitte auch den oben angeführten Informationen.

Allgemeine Informationen zu häuslicher Gewalt sowie zu Ehrenmorden im Nordkaukasus, unter anderem in Tschetschenien, sowie zur Reaktion der Behörden in dieser Region und auch zu staatlichem Schutz finden Sie in folgenden Dokumenten:

·      Siraschudinowa, Saida: Домашнее насилие на Северном Кавказе: отчет по результатам мониторинга ситуации в регионе и анализа судебной практики [Häusliche Gewalt im Nordkaukasus: Ein Bericht über die Ergebnisse des Monitorings der Situation in der Region und der Analyse der gerichtlichen Praxis], 29. Dezember 2023
https://www.kavkaz-uzel.eu/articles/395756

·      Ad rem: Эвакуация пострадавших от семейного насилия. На примере Республики Дагестан, Республики Ингушетия, Чеченской Республики [Evakuierung der Opfer von Gewalt in der Familie. Am Beispiel der Republik Dagestan, der Republik Inguschetien und der Republik Tschetschenien], Oktober 2023
https://www.adrem.help/download/66/?tmstv=1703638684

Informationen zu staatlichem Schutz bei Ehrenmorden finden Sie in folgendem etwas älteren Bericht vom März 2019:

·      SFH - Schweizerische Flüchtlingshilfe: Russland/Tschetschenien: «Ehrenmord», 22. März 2019
https://www.ecoi.net/en/file/local/2007782/190322-rus-ehrenmord.pdf

Die folgenden Dokumentationen des russischen Services der BBC (mit englischen Untertiteln) sowie von Populjarnaja Politika (Deutsch: Populäre Politik), einem mit dem russischen Oppositionspolitiker Alexei Nawalny in Verbindung stehenden YouTube-Kanal, drehen sich unter anderem um Zwangsehen und die Möglichkeiten, diesen zu entkommen, wie auch um den Umgang der Behörden mit Personen und Organisationen, die betroffene Frauen unterstützen, sowie den Betroffenen selbst:

·      BBC: Похищения, изгнания демонов и насильственные браки: как пережить семейный диктат [Entführungen, Dämonenaustreibungen und Zwangsheiraten: Wie man die Diktatur der Familie überlebt] [YouTube-Video], 17. Juni 2023
https://www.youtube.com/watch?v=j7L18FFPq8E

·      Populjarnaja Politika: «Сбежать с Кавказа». Фильм Ирины Аллеман [Fliehen aus dem Kaukasus. Ein Film von Irina Alleman], [YouTube-Video], 8. November 2023
https://www.youtube.com/watch?v=zi5k3DNt13I

Mediazona veröffentlicht im Juni 2024 eine Zusammenfassung eines Berichts von Ad rem, eines Projekts von Anwält·innen und Menschenrechtsaktivist·innen, die sich insbesondere mit der Diskriminierung von Frauen und Kindern sowie häuslicher und sexualisierter Gewalt im Nordkaukasus befassen, zu Früh- und Zwangsehen. Es gebe keine aktuellen Statistiken zur Entführung von Mädchen, aber die Autor·innen des Berichts würden folgende Zahlen nennen: Zwischen 1999 und 2007 seien im Nordkaukasus über 650 Entführungen zum Zweck der Zwangsheirat registriert worden, und nur 25 Prozent der Fälle seien strafrechtlich verfolgt worden. Laut Swetlana Anochina, Journalistin und Gründerin des Menschenrechtsprojekts Marem, hätten sich 33 Mädchen/Frauen, die kurz vor einer Zwangsheirat gestanden hätten, im Jahr 2023 an die Organisation gewandt, 2024 seien es bereits 21 Mädchen/Frauen gewesen. In den meisten Fällen würden sich die Opfer von Entführungen scheuen, diese öffentlich anzuzeigen, da sie eine öffentliche Verurteilung befürchten würden. Die Strafverfolgungsbehörden ihrerseits würden solche Anzeigen ignorieren, selbst wenn sie bei ihnen eingingen. Manchmal würden sich auch Minderjährige an Marem wenden, aber die Menschenrechtsverteidiger·innen könnten nur dann einen Fall aufnehmen, wenn ein Mädchen schwer geschlagen werde und dies dokumentiert werde, oder in Fällen von sexualisierter Gewalt innerhalb der Familie. Dann versuche die Organisation, Anwält·innen einzuschalten, schreibe an den Ombudsmann für Kinder und fordere, dass das Mädchen in ein Rehabilitationszentrum gebracht werde, solche Fälle hätten jedoch zu nichts geführt, so Anokhina. Mädchen und junge Frauen, die zwangsverheiratet worden seien, würden sich normalerweise nirgendwohin wenden, weil sie glauben würden, kaum auf die Unterstützung Fremder zählen zu können, wenn ihnen ihre eigene Familie schon nicht geholfen habe. Die Behörden, sowohl auf regionaler als auch auf föderaler Ebene, würden wenig tun, um die Opfer von Gewalt zu schützen (Mediazona, 11. Juni 2024).

Der UNO-Ausschuss für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau (UN Committee on the Elimination of Discrimination against Women, CEDAW) zeigt sich in einem Bericht vom November 2021 „tief besorgt“ über die Verbreitung schädlicher Praktiken gegenüber Frauen und Mädchen im Nordkaukasus, darunter Femizide, Tötungen im Namen der sogenannten Ehre, Kinderheirat, Zwangsheirat, Entführung von Frauen und Mädchen zum Zweck der Zwangsverheiratung und weibliche Genitalverstümmelung. Der Ausschuss stelle mit Besorgnis fest, dass die föderalen russischen Rechtsvorschriften über die Ermittlung, Strafverfolgung und Bestrafung solcher Verbrechen im Nordkaukasus nicht wirksam umgesetzt würden (CEDAW, 30. November 2021, S. 7-8).

Laut CoE-PACE habe sich die Situation von Frauen und Mädchen, LGBTI-Personen und anderen schutzbedürftigen Gruppen verschlechtert. Die Menschen im Nordkaukasus würden weiterhin in einer geschlossenen, patriarchalischen Gesellschaft leben. Sowohl die lokalen als auch die föderalen Behörden würden schwere Repressionen unter dem Vorwand dulden, sie seien durch „traditionelle Werte“ gerechtfertigt. Dies führe oft zu brutalen, manchmal mörderischen diskriminierenden Praktiken gegenüber Frauen und Mädchen, die versuchen würden, vor gewalttätigen Ehemännern, Vätern oder Brüdern zu fliehen, und insbesondere gegenüber LGBTI-Personen, deren Existenz das Oberhaupt der Tschetschenischen Republik öffentlich leugne (CoE-PACE, 3. Juni 2022, S. 2).

Das US-amerikanische Außenministerium (US Department of State, USDOS) schreibt in seinem im April 2024 veröffentlichten Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2023, dass Polizist·innen laut NGOs oft nicht bereit gewesen seien, Anzeigen wegen häuslicher Gewalt zu registrieren, weil es sich um „Familienangelegenheiten“ handle, was Opfer häuslicher Gewalt oft entmutigt habe, Anzeige zu erstatten. Zudem habe die Polizei Opfer häufig gedrängt, sich mit den Tätern zu versöhnen. Die meisten Fälle von häuslicher Gewalt, die bei den Behörden angezeigt worden seien, seien entweder aus technischen Gründen abgewiesen worden oder in ein Versöhnungsverfahren überführt worden, das von einem Friedensrichter geleitet worden sei, dessen Fokus auf dem Erhalt der Familie und nicht auf der Bestrafung des Täters gelegen habe. NGOs würden schätzen, dass nur drei Prozent dieser Fälle schließlich vor Gericht gelandet seien. Opfer von häuslicher Gewalt im Nordkaukasus hätten Schwierigkeiten gehabt, bei den Behörden Schutz zu suchen. Es sei berichtet worden, dass Frauen, die sich gegen häusliche Gewalt gewehrt hätten, als Straftäterinnen angeklagt worden seien. Menschenrechtsgruppen hätten berichtet, dass es unter anderem in Tschetschenien nach wie vor so genannte Ehrenmorde an Frauen gegeben habe, die jedoch nur selten gemeldet oder als solche anerkannt worden seien. Die lokale Polizei, Ärzt·innen und Anwält·innen hätten oft mit den betroffenen Familien zusammengearbeitet, um die Verbrechen zu vertuschen (USDOS, 23. April 2024, Section 6).

[Passage aus dem Asylbericht des Auswärtigen Amtes entfernt]

Mark Galeotti, der an der School of Slavonic and East European Studies am University College in London unterrichtet und Senior Research Fellow am Royal United Services Institute (RUSI) ist, schreibt in einem vom Verwaltungsgericht Hamburg in Auftrag gegebenen Gutachten vom Juni 2019 zur internen Schutzalternative für Tschetschen·innen in der Russischen Föderation Folgendes (Übersetzung aus dem Englischen):

„Ramzan Kadyrow und der tschetschenische Sicherheitsapparat dürfen von Moskauer Seite aus weitgehend straffrei operieren, solange sie nicht allzu große Peinlichkeit oder Ärger verursachen. Obwohl oft Widerstreben an den Tag gelegt wird, aktiv bei extralegaler Verfolgung aus Grosny zu helfen, fehlt jedoch insgesamt die allgemeine Dynamik, diese zu verhindern. Die höheren Gerichte sind zum Beispiel bekannt dafür, dass sie Urteile tschetschenischer Gerichte nicht anfechten wollen, besonders in Fällen, die Tschetschenen betreffen. Als der bekannte Lokaljournalist des kritischen Kawkaski Usel Zhalaudi Geriyev zu einer dreijährigen Haftstrafe wegen einer äußerst suspekten Drogenanklage verurteilt wurde - nach dem er entführt und gefoltert worden war, um ein Geständnis zu erpressen, lehnte der Oberste Gerichtshof in Moskau die Prüfung seiner Beschwerde ab. In der Tat, immer wenn sich Tschetschenen an die föderalen Behörden um Schutz gewandt haben, haben sie sich immer damit in Gefahr gebracht. 2017 wandte sich zum Beispiel eine Familie an den Generalstaatsanwalt, nachdem die tschetschenische Polizei junge Männer aus ihrer Gemeinde angeblich mit der Begründung, sie seien Wahhabisten, überfallen hatte. Die Generalstaatsanwaltschaft lehnte die Einleitung von Ermittlungen ab, aber die örtliche Polizei kam zurück und schlug die Beschwerdeführer wegen ihrer Frechheit zusammen.“ (Galeotti, Juni 2019, S. 4-5, Übersetzung)

Zugriff tschetschenischer Behörden auf das russlandweite Wohnsitz-Meldesystem

[Passage aus dem Asylbericht des Auswärtigen Amtes entfernt]

Mark Galeotti schreibt in dem oben schon zitierten Gutachten:

„Die Tschetschenische Republik ist offiziell Teil der Russischen Föderation. Obwohl Kadyrow die Polizei, Sicherheitsbehörden und Gerichte mit seinen eigenen Anhängern dicht besetzt hat, damit ihre tatsächliche Macht ihm zur Verfügung steht (die Sicherheitskräfte bestehen weitestgehend aus sogenannten ‚Kadyrowzy‘, die einen persönlichen Treueeid schwören), so sind sie auch mit dem restlichen Machtapparat der Russischen Föderation verbunden. Dadurch kann die tschetschenische Abteilung des Föderalen Sicherheitsdienstes (FSB), der örtliche Ermittlungsausschuss und die Staatsanwaltschaft sowie das Ministerium für Innere Angelegenheiten der Republik (MVD) und andere Behörden auf die Daten ihrer Amtskollegen landesweit zugreifen. Dies erstreckt sich auf die Ausstellung von Haftbefehlen und das Setzen von ‚Überwachungsvermerken‘ und ähnlichen Markierungen in nationale Datenbanken (einschließlich, wie unten noch besprochen wird, derjenigen, die zum Prüfen der Identitätsdokumente bei Ein- und Ausreise verwendet werden), mit der Erwartung, dass sie vollstreckt werden. Tatsächlich vollstrecken die Gerichte und die Polizei in Russland in Tschetschenien ausgestellte, rechtskräftige Haftbefehle, was normalerweise zur Rückführung nach Tschetschenien für das Gerichtsverfahren oder das Verbüßen einer Strafe führt.

Allerdings, wie noch unten besprochen wird, landen nicht alle tschetschenienrelevanten Fälle in den nationalen Datenbanken, und die schlechten Beziehungen zwischen den tschetschenischen und den übrigen russischen Sicherheitsbehörden bedeuten, dass letztere oft skeptisch in Bezug auf die Anforderungen aus Grosny sind. Es gibt einen klaren Unterschied zwischen der Behandlung von Personen, die in Tschetschenien wegen einer Straftat verurteilt wurden und denen, die derer nur beschuldigt werden, nicht zuletzt aufgrund der Ressourcenfrage. Ein Polizeibeamter aus Wladiwostok, der gefragt wurde, ob er nach einem Tschetschenen suchen würde, der sich in seinem Bezirk aufhalten und in Grosny verhört werden sollte, antwortete geradeheraus: ‚Kümmert mich nicht. Wenn er ein echter Terrorist wäre, dann würden die ‚großen Brüder‘ [d. h. der Föderale Sicherheitsdienst oder ein Ermittlungsausschuss] nach ihm fahnden. Wenn der Typ wegen einer anderen Anklage verhaftet oder uns anderswie aufgefallen wäre, hätte ich ihn vielleicht nach Hause schicken lassen, nur damit wir ihn los sind. Aber sonst…‘“ (Galeotti, Juni 2019, S. 6-7)

„Während jeder tschetschenische Bürger das Recht hat, sich überall innerhalb der Russischen Föderation aufzuhalten, kann er oder sie von den staatlichen Behörden ausfindig gemacht werden. Russland hat ein internes Pass-System, die propiska Bevölkerungskontrollen, ein Relikt aus der Sowjetzeit, wobei alle Bürger ein Dokument mitführen müssen, das ihren gemeldeten Wohnsitz und ihren Arbeitsplatz aufführt. Dies ist eine schnelle und einfache Methode, um jemanden rückzuverfolgen, und eine, die jetzt vollständig computerbasiert ist. Personen können postalisch nur eine zeitweilige Anmeldung erhalten, für eine neue ständige Anschrift (die für jedwede Dienstleistungen und ebenfalls für den Erhalt eines Passes, etc. benötigt wird), müssen sie sich persönlich in einer örtlichen Behörde des Ministeriums für Innere Angelegenheiten, in einem der neuen Multifunktionszentren (in der verschiedene Behörden verbunden sind) oder online durch das Gosuslugi-Portal (Portal für Staatliche Dienstleistungen) registrieren. Den Worten eines Moskauer Beamten des Föderalen Migrationsdienstes (FMS) zufolge lösen die meisten Wohnsitzprüfungen keine sofortige Rückmeldung aus oder sind nicht direkt verbunden, werden zunehmend in Netzwerke eingebunden und enthalten zumindest eine Aufzeichnung der Abfragen. Mit anderen Worten, selbst wenn die tschetschenischen Behörden später versuchen, eine Person ausfindig zu machen, haben sie durch ihren örtlichen Föderalen Migrationsdienst oder ihr Ministerium für Innere Angelegenheiten Zugang nicht nur zu der aktuellen Meldeadresse der Person, sondern auch zur Historie der Wohnsitze und Reisen.“ (Galeotti, Juni 2019, S. 7)

In der bereits erwähnten Dokumentation des russischen Services der BBC vom Juni 2023 wird an zwei Stellen erwähnt, dass Personen von Verwandten durch Aufnahmen von Überwachungskameras gefunden werden können (Timecode 6:00, Timecode 20:04):

·      BBC: Похищения, изгнания демонов и насильственные браки: как пережить семейный диктат [Entführungen, Dämonenaustreibungen und Zwangsheiraten: Wie man die Diktatur der Familie überlebt] [YouTube-Video], 17. Juni 2023
https://www.youtube.com/watch?v=j7L18FFPq8E

Quellen: (Zugriff auf alle Quellen am 3. September 2024)

·      AA - Auswärtiges Amt: Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation (Stand: 10. September 2022), 28. September 2022

·      Caucasian Knot: Дагестанские сестры рассказали Собчак подробности побега из дома* [Die dagestanischen Schwestern haben Sobtschak Details ihrer Flucht von zu Hause erzählt], 12. November 2022
https://www.kavkaz-uzel.eu/articles/382982/

·      CEDAW – UN Committee on the Elimination of Discrimination Against Women: Concluding observations on the ninth periodic report of the Russian Federation [CEDAW/C/RUS/CO/9], 30. November 2021
https://www.ecoi.net/en/file/local/2064360/N2135183.pdf

·      CoE-PACE - Council of Europe - Parliamentary Assembly: The continuing need to restore human rights and the rule of law in the North Caucasus region [Doc. 15544], 3. Juni 2022
https://www.ecoi.net/en/file/local/2074793/doc. 15544.pdf

·      Galeotti, Mark: Lizenz zum Töten? Das Risiko für Tschetschenen innerhalb Russlands, Juni 2019
https://www.ecoi.net/en/file/local/2015729/Galeotti+Gutachten+%C3%9Cbersetzung.pdf

·      Guardian (The): ‘I did not want to disappear in silence’: Chechen woman livestreamed attempted abduction by her family, 10. Juni 2024
https://www.theguardian.com/world/article/2024/jun/10/i-did-not-want-to-disappear-in-silence-chechen-woman-livestreamed-attempted-abduction-by-her-family

·      MDR – Mitteldeutscher Rundfunk: Gewalt in Tschetschenien: Der Kreml schaut zu, 7. Mai 2024
https://www.mdr.de/nachrichten/welt/osteuropa/politik/russland-tschetschenien-gesetze-justiz-frauen-100.html

·      Mediazona: “She’s either buried or married.” What we know about early and forced marriages in the North Caucasus, 11. Juni 2024
https://en.zona.media/article/2024/06/11/caucasus

·      Moscow Times (The): Chechen Woman Who Fled Death Threats at Home Forcibly Returned to Family, 30. August 2023
https://www.themoscowtimes.com/2023/08/30/chechen-woman-who-fled-death-threats-at-home-forcibly-returned-to-family-a82294

·      Netherlands Ministry of Foreign Affairs: Country of origin information report Russian Federation, März 2023
https://www.ecoi.net/en/file/local/2094189/EN+COI+Report+Netherlands+on+Russian+Federation+March+2023.pdf

·      OC Media – Open Caucasus Media: Kadyrov’s daughter sole woman appointed to Chechen women’s rights council, 3. Oktober 2023
https://oc-media.org/kadyrovs-daughter-sole-woman-appointed-to-chechen-womens-rights-council/

·      RFE/RL – Radio Free Europe/Radio Liberty: Moscow Police Detain Chechen 'Victim of Domestic Violence' On Her Way Out Of Russia, 12. Juni 2023
https://www.ecoi.net/de/dokument/2093443.html

·      SK SOS: Уголовные дела Шредингера. Как беглецов возвращают в Чечню с помощью вымышленных дел и куда обвинения пропадают потом [Schrödingers Kriminalfälle. Wie flüchtige Personen mit Hilfe von fiktiven Fällen nach Tschetschenien zurückgebracht werden und die Anklagen danach verschwinden], 8. Oktober 2023
https://sksos.org/ugolovnie-dela-chechnya/

·      Telepolis: Flucht aus Dagestan: "Mädchen haben da keine Rechte", 1. November 2022
https://www.telepolis.de/features/Flucht-aus-Dagestan-Maedchen-haben-da-keine-Rechte-7325602.html

·      UN News: Положение женщин на Северном Кавказе ухудшается, и помогать им все труднее [Die Lage der Frauen im Nordkaukasus verschlechtert sich und es wird immer schwieriger, ihnen zu helfen], 30. November 2023
https://news.un.org/ru/story/2023/11/1447277

·      USDOS - US Department of State: 2023 Country Reports on Human Rights Practices: Russia, 23. April 2024
https://www.ecoi.net/de/dokument/2108736.html


 

Anhang: Quellenbeschreibungen und Informationen aus ausgewählten Quellen

Caucasian Knot ist ein Online-Medienportal mit schwerpunktmäßiger Berichterstattung zu Menschenrechtsthemen in der Kaukasusregion, das im Jahr 2001 von der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial gegründet wurde. Die Betreibergesellschaft von Caucasian Knot wurde als ausländischer Agent eingestuft.

·      Caucasian Knot: Дагестанские сестры рассказали Собчак подробности побега из дома* [Die dagestanischen Schwestern haben Sobtschak Details ihrer Flucht von zu Hause erzählt], 12. November 2022
https://www.kavkaz-uzel.eu/articles/382982/

Как писал 'Кавказский узел', 29 октября пограничники в Северной Осетии отказались пропускать в Грузию четырех сестер из Дагестана, сбежавших от домашнего насилия, и удерживали их на пропускном пункте до приезда родственников. Сами девушки утверждали, что дома их избивали, запрещали получать образование и пытались силой выдать замуж, в том числе за родственника. Они просили не возвращать их родным, опасаясь, что те ищут их, 'чтобы убить'.(Caucasian Knot, 12. November 2022)

Der UNO-Ausschuss für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau (UN Committee on the Elimination of Discrimination against Women, CEDAW) ist ein aus unabhängigen Expert·innen zusammengesetztes Organ der Vereinten Nationen, das die Umsetzung der UN-Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau überwacht.

·      CEDAW – UN Committee on the Elimination of Discrimination Against Women: Concluding observations on the ninth periodic report of the Russian Federation [CEDAW/C/RUS/CO/9], 30. November 2021
https://www.ecoi.net/en/file/local/2064360/N2135183.pdf

„The Committee is deeply concerned about the prevalence of harmful practices against women and girls in the North Caucasus region, including femicide, killings in the name of so-called honour, child marriage, forced marriage, abduction of women and girls for forced marriage and female gentile mutilation. It notes with concern the lack of effective implementation of federal legislation on the investigation, prosecution and punishment of such crimes against women in the region.“ (CEDAW, 30. November 2021, S. 7-8)

Die parlamentarische Versammlung des Europarates (CoE-PACE) ist eine interparlamentarische Organisation, die aus 318 Delegierten aus den Parlamenten der Mitgliedstaaten besteht und sich mit Demokratie, Menschenrechten und politischen, wirtschaftlichen und sozialen Themen befasst.

·      CoE-PACE - Council of Europe - Parliamentary Assembly: The continuing need to restore human rights and the rule of law in the North Caucasus region [Doc. 15544], 3. Juni 2022
https://www.ecoi.net/en/file/local/2074793/doc. 15544.pdf

„The situation of women and girls, LGBTI persons and other vulnerable groups has become even worse. The people in the North Caucasus continue to live in a closed, patriarchal society. Both the local and the federal authorities tolerate severe repression under the pretext that it is justified by ‘traditional values’. This often amounts to brutal, sometimes murderous discriminatory practices against women and girls trying to escape from violent husbands, fathers, brothers, and, especially against LGBTI persons, whose very existence the Head of the Chechen Republic publicly denied.“ (CoE-PACE, 3. Juni 2022, S. 2)

„The situation of women and girls in the North Caucasus has continued to deteriorate. Forced marriages are still a frequent practice in the region, and a North Caucasian woman living abroad risks being abducted and forced to marry back in Dagestan or Chechnya. The Bopkhoyeva case was illustrative of such practices when even the woman’s own family had not provided her with shelter but returned her and forced her to live in the abductor’s custody. Unfortunately, many such cases exist in the North Caucasus, in which the authorities even played an active role. In September 2021, Human Rights Watch stated that women fleeing domestic violence in the North Caucasus were often captured with the help of law enforcement authorities and handed back to their families. The story of a young LGBTI woman from Chechnya, Khalimat Taramova, describing her attempt to escape violence and her forced return, illustrates that situation. […]

Moreover, the authorities not only tolerated and contributed to violence against women, but they also forced the victims to hide their grief. In 2020, the investigative authorities decided to exhume a body of a Chechen woman who died in suspicious circumstances involving domestic violence. A few days later, after Ramzan Kadyrov criticised the exhumation as contrary to religious traditions and stated that beatings were something normal during a marriage, the authorities refused to pursue the criminal investigation, and the victim’s mother was obliged to apologise for ‘having listened to rumours’.“ (CoE-PACE, 3. Juni 2022, S. 13)

Der Guardian ist eine britische Tageszeitung.

·      Guardian (The): ‘I did not want to disappear in silence’: Chechen woman livestreamed attempted abduction by her family, 10. Juni 2024
https://www.theguardian.com/world/article/2024/jun/10/i-did-not-want-to-disappear-in-silence-chechen-woman-livestreamed-attempted-abduction-by-her-family

„Holed up inside a Moscow police station, Liya Zaurbekova realised that livestreaming an attempted abduction by her family might be the only path to staying alive. In a series of public messages recorded on her phone from a toilet cubicle at the station on 16 May, the 19-year-old Chechen woman warned that if the crowd outside succeeded in taking her back to Chechnya, it could be the last time anyone would hear from her. ‘I was scared. I understood that I had crossed the point of no return. I did not want to disappear in silence,” Zaurbekova recalled, in her first interview since she escaped Russia. Days earlier, Zaurbekova fled her parents’ flat in the Russian capital after what she described as years of ‘physical and psychological violence, total control and freedom restriction’ at their hands. What followed was a cat-and-mouse chase involving her father and other Chechen men, including distant relatives, who tracked her down to an apartment where she had been hiding. After she escaped again to a police station, they set up camp outside as she pleaded with local officers to protect her. […]

Over the years, Kadyrov’s security services, with the approval of the Kremlin, have grown more brazen, abducting women and regime critics within the country, raising fears that it can operate freely far beyond the borders of the tightly controlled Caucasus republic. […]

‘I understood that if they got their hands on me it would be the end. I decided that I would just kill myself instead. I would not let them do it,’ she said, speaking to the Guardian from an undisclosed location outside Russia. […] Zaurbekova recounted how her parents had warned her that leaving the family could lead to the same fate as those who had unsuccessfully tried to escape before. ‘When talking about those women, they bluntly said that being buried alive is not a sufficient punishment for the shame these girls brought on their families.’ As Zaurbekova posted the video clips, her story became a heated topic of conversation across Russia, picked up by state media and influential telegram channels that transmitted her cries for help. The situation also drew the eye of the Chechen regime, with Adam Delimkhanov, a close associate of Kadyrov, pledging to personally intervene and reunite Zaurbekova with her family. Zaurbekova believes the public resonance bought her time and put pressure on the police officers to prevent the Chechen group from taking her. […] That same night, on 17 May, Zaurbekova’s lawyer helped to sneak her out of the police station and drove Zaurbekova to the airport, where she took a flight to a location she said she could not share for security reasons.“ (The Guardian, 10. Juni 2024)

Mediazona ist ein von den Mitbegründerinnen der Protestgruppe Pussy Riot Maria Aljochina und Nadjeschda Tolokonnikowa gegründetes unabhängiges Medienunternehmen.

·      Mediazona: “She’s either buried or married.” What we know about early and forced marriages in the North Caucasus, 11. Juni 2024
https://en.zona.media/article/2024/06/11/caucasus

„There are no up-to-date statistics on abductions of girls, but the authors of the report cite the following figures: between 1999 and 2007, over 650 reports of abductions for the purpose of forced marriage were registered in the North Caucasus and only 25 per cent of the cases were prosecuted. In most cases, victims of abductions are afraid to report them openly for fear of public condemnation and the law enforcement agencies, for their part, ignore such reports, even if they are received. […] Svetlana Anokhina, a journalist and founder of the Marem Human Rights Project, which helps abused women in the North Caucasus, said that last year they received 33 appeals from girls who were about to be forcibly married off. In the first half of 2024, they have already received 21 such appeals. […] Sometimes minors also turn to Marem, but human rights defenders can only take up a case if a girl is severely beaten and this is recorded, or in cases of sexualised violence within the family. Then they try to involve lawyers, write to the children’s ombudsman, and demand that the girl be taken to a rehabilitation centre. ‘We have had such cases. They, however, did not result in anything,’ states Anokhina. […] In general, girls and young women who have been forcibly married do not go anywhere, believing that if they have not been helped by their own family, they can hardly count on the support of strangers. The authorities, both regional and federal, do little to protect victims of violence.“ (Mediazona, 11. Juni 2024)

The Moscow Times ist eine englischsprachige und russischsprachige Internet-Zeitung, die in den Niederlanden ansässig und als ausländischer Agent eingestuft sowie unerwünschte ausländische Organisation eingestuft ist.

·      Moscow Times (The): Chechen Woman Who Fled Death Threats at Home Forcibly Returned to Family, 30. August 2023
https://www.themoscowtimes.com/2023/08/30/chechen-woman-who-fled-death-threats-at-home-forcibly-returned-to-family-a82294

„A woman who had fled Chechnya following death threats from her family has been forcibly returned to her home, Chechnya’s human rights commissioner said late Tuesday. Seda Suleimanova fled the Muslim-majority region in October 2022 with the help of the human rights group SK SOS after her family warned that she could be killed in an ‘honor killing’ for refusing to be married off to a man. Police accompanied by Chechen nationals in plainclothes detained Suleimanova in St. Petersburg last Wednesday as part of a criminal case into alleged jewellery theft in Chechnya. She was transferred to the republic of Chechnya, where she was interrogated as a witness and then handed over to her family, SK SOS said Friday.” (The Moscow Times, 30. August 2023)

Das Außenministerium der Niederlande (Ministerie van Buitenlandse Zaken, BZ) ist die Regierungsbehörde der Niederlande, die für die auswärtigen Angelegenheiten des Landes zuständig ist.

·      Netherlands Ministry of Foreign Affairs: Country of origin information report Russian Federation, März 2023
https://www.ecoi.net/en/file/local/2094189/EN+COI+Report+Netherlands+on+Russian+Federation+March+2023.pdf

„According to one [confidential, Anm. ACCORD] source, women in Chechnya, Dagestan and Ingushetia are particularly at risk of abuse by family members. If they try to leave the family, the relatives go looking for them, often with help from the local FSB, which includes both the FSB's investigative arm and its border police. When the women attempt to leave Russia, the family members are often informed by the FSB and then wait for their runaway family member at the border.“ (Netherlands Ministry of Foreign Affairs, März 2023, S. 29)

„Victims from the North Caucasus are not safe even after resettlement in other areas in the region.“ (Netherlands Ministry of Foreign Affairs, März 2023, S. 30)

Open Caucasus Media (OC Media) ist ein unabhängiges Nachrichtenportal, das über den Nord- und Südkaukasus berichtet.

·      OC Media – Open Caucasus Media: Kadyrov’s daughter sole woman appointed to Chechen women’s rights council, 3. Oktober 2023
https://oc-media.org/kadyrovs-daughter-sole-woman-appointed-to-chechen-womens-rights-council/

„Cases of women fleeing their homes and seeking help from human rights organisations are frequent, with many then appearing to be abducted and brought back to Chechnya, often with the assistance of local and Chechen law enforcement agencies.

In late August, Seda Suleymanova fled Chechnya, reportedly for fear that she would be killed by her family. Russian media reported that she was abducted from the place where she was staying in Saint Petersburg, and taken to Grozny, where she was detained on charges of theft. […] While Chechen Human Rights Commissioner Mansur Soltayev spoke to Suleymanova, claiming that she stated that she was well, civil rights activists have warned that she was in severe danger in Chechnya.

In July, Elsa Musayeva was similarly kidnapped from Sterlitamak, west Russia, having fled Chechnya assisted by human rights activists. After being taken to Chechnya, Musayeva recorded a video asking human rights activists to stop looking for her.” (OC Media, 3. Oktober 2023)

Radio Free Europe/Radio Liberty (RFE/RL) ist eine Rundfunkorganisation, die von der antikommunistischen amerikanischen Organisation National Committee for a Free Europe im Jahr 1949 gegründet wurde und vom Kongress der Vereinigten Staaten finanziert wird. Sie bietet Nachrichten zu Ländern in Osteuropa, Zentralasien und im Nahen Osten.

·      RFE/RL – Radio Free Europe/Radio Liberty: Moscow Police Detain Chechen 'Victim of Domestic Violence' On Her Way Out Of Russia, 12. Juni 2023
https://www.ecoi.net/de/dokument/2093443.html

„Police have detained a 19-year-old Chechen woman at Moscow's Vnukovo Airport while she was on her way out of Russia to escape domestic violence, rights defenders told RFE/RL on June 12. According to Sofia Rusova of the Center for Defense from Domestic Violence, Selima Ismailova lived with her family in Germany for several years but later was sent to her relatives in Chechnya, where she was regularly abused. The founder of the Marem human rights project, Svetlana Anokhina, told RFE/RL that in 2021, Ismailova's father visited her in the Chechen city of Achkhoi-Martan and severely beat her. Anokhina added that Marem helped Ismailova flee Chechnya for Moscow and provided her with a shelter in the Russian capital, where the woman stayed for some time before she planned to fly from Russia to an unspecified country. Rusova told RFE/RL that police at Vnukovo Airport refused to hand Ismailova to her lawyers, saying that they are waiting for law enforcement officers from Chechnya to collect Ismailova, who is allegedly wanted in Chechnya for a theft.

Human right defenders have said for some time that relatives in the North Caucasus often file complaints accusing fugitive women of crimes, usually thefts, to legalize their detainment and return to their relatives. Domestic violence has been a problem in Russia's North Caucasus region for decades. Victims who manage to flee often say that they may face ‘punishment,’ including honor killings, if they are forced to return. Local authorities usually take the side of the accused abusers.

Last October, four sisters from another North Caucasus region, Daghestan, managed to flee to Georgia with the help of human rights organizations after they faced domestic violence. In August 2022, another woman from Daghestan, Patimat Idrisova, managed to leave Russia and change her identity after she faced domestic violence. In 2021, two victims of domestic violence in Daghestan were forcibly taken from a shelter in Tatarstan and brought back to their homes against their will. Also in 2021, a police officer rushed into a shelter in the capital of Daghestan, Makhachkala, and forcibly took away a Chechen woman, Khalimat Taramova, who had fled Chechnya with the intention of living with her girlfriend.“ (RFE/RL, 12. Juni 2023)

SK SOS ist eine russische Menschenrechtsgruppe, die sich insbesondere um LGBTIQ+-Personen im Nordkaukasus kümmert.

·      SK SOS: Уголовные дела Шредингера. Как беглецов возвращают в Чечню с помощью вымышленных дел и куда обвинения пропадают потом [Schrödingers Kriminalfälle. Wie flüchtige Personen mit Hilfe von fiktiven Fällen nach Tschetschenien zurückgebracht werden und die Anklagen danach verschwinden], 8. Oktober 2023
https://sksos.org/ugolovnie-dela-chechnya/

В Чечне уголовные дела используются, чтобы вернуть беглецов на родину и запереть их внутри республики. Уголовное дело, как правило, появляется из ниоткуда, сшито белыми нитками и существует лишь как предлог для задержания человека в любом регионе России. А потом, когда беглец оказывается дома, дело испаряется в воздухе — сложно сказать, существовало ли оно вообще или было лишь плодом воображения чеченских силовиков.

Чаще всего уголовные дела заводят по статьям вроде кражи или мошенничества. Родственники пишут заявление, что их сбежавший член семьи что-то украл. Полиция при этом явно в курсе, что обвинения выдуманы, потому что даже не пытается разобраться в ситуации и официально оформить уголовное дело. Единственная задача полицейских — найти беглеца и вернуть в семью, а формальности тут вторичны.

Иногда чеченские силовики и вовсе не прикладывают никаких усилий: просто берут давно висевшее у них заявление, не имеющее никакого отношения к сбежавшему, и делают его подозреваемым по этому делу. Доходит до абсурда: бывает, что к моменту совершения преступления, которое вменяется человеку, тот уже давно покинул регион и никак не мог стать ни исполнителем, ни свидетелем.

Одним из первых случаев, когда сбежавших попытались вернуть под предлогом уголовного дела, стало задержание четырех дагестанок на границе России и Грузии. Девушки хотели покинуть страну, чтобы сбежать от насилия в семье, но были задержаны российскими пограничниками.

Им называли самые разные причины задержания: от якобы стандартных процедур до обвинения в краже 50 тысяч рублей. По словам пограничников, девушки находились в розыске из-за поданного родственниками заявления. Но ни само заявление, ни ориентировку так и не смогли показать самим беглянкам или их адвокату.

Спустя несколько часов дагестанок отпустили и позволили им уехать — сыграли роль общественный резонанс и неподготовленность пограничников. А уголовное дело, которым угрожали пограничники, по всей видимости, никогда не существовало. С тех пор, однако, сотрудники усвоили ошибки и начали более ответственно фабриковать уголовные дела.(SK SOS, 8. Oktober 2023)

UN News ist der offizielle News-Service der Vereinten Nationen.

·      UN News: Положение женщин на Северном Кавказе ухудшается, и помогать им все труднее [Die Lage der Frauen im Nordkaukasus verschlechtert sich und es wird immer schwieriger, ihnen zu helfen], 30. November 2023
https://news.un.org/ru/story/2023/11/1447277

Подробнее о положении женщин на Северном Кавказе в интервью Службе новостей ООН [Организация Объединённых Наций] рассказала пресс-секретарь кризисной группы СК SOS Александра Митрошкина. […]

'Теперь женщины часто сталкиваются с тем, что им сложно покинуть регион, их удерживают, контролируют, и, если они сбегут, к этому будут подключены правоохранительные органы, которые сделают все возможное, чтобы найти и вернуть девушек. Это осложняет эвакуацию из региона', – добавляет она. […]

Кроме того, в России сейчас важна не только 'первичная эвакуация' – из региона. Очень часто женщины не могут оставаться даже в других субъектах РФ, потому что их находят, похищают и насильно возвращают в родные республики. […]

На вопрос о том, что может ждать женщину, которую насильно вернули домой, Митрошкина ответила, что, к сожалению, один из вероятных сценариев – это так называемое 'убийство чести'.

'Родственники как бы 'смывают позор' за то, что девушка сбежала и жила ‚неподобающе‘ для семьи. Такой вариант весьма вероятен. Самый надежный механизм защитить и обезопасить девушку от такого исхода – предать ситуацию огласке, рассказать публично о том, что произошло. В таком случае, возможно, родственники не убьют девушку', – говорит сотрудница правозащитной организации.

'В случае, если девушку не убивают, то за ней пристально следят, чтобы она не сбежала повторно, наказывают за ее 'неправильное поведение' и побег. На нашей практике я не знаю ни одного случая, когда положение девушки в семье стало значительно лучше после возвращения, потому что родственники осознали, что были неправы и решили поменять свое поведение', – добавляет Митрошкина.

Она объясняет, что убийства чести – это повседневная реальность для женщин на Северном Кавказе. […]

'Женщины в России не находятся в глазах европейского закона в смертельной опасности. Соответственно, с точки зрения европейцев, женщины с Северного Кавказа могут собрать вещи и переехать в Москву, Петербург, куда угодно, и продолжить жить там, и там их не будут заставлять носить хиджаб, им не будет грозить убийство чести. Но, к сожалению, так это не работает. Регулярная практика показывает, что женщины с Северного Кавказа не находятся в безопасности ни в каком регионе России', – рассказывает Митрошкина.

Она поясняет, что женщинам остается только обращаться к правозащитникам и юристам, уезжать за границу и пытаться объяснить ситуацию иммиграционным властям тех стран, в которых они просят убежища.(UN News, 30. November 2023)

Das US Department of State (USDOS) ist das US-Bundesministerium, das für die auswärtigen Angelegenheiten der Vereinigten Staaten zuständig ist.

·      USDOS - US Department of State: 2023 Country Reports on Human Rights Practices: Russia, 23. April 2024
https://www.ecoi.net/de/dokument/2108736.html

„According to NGOs, police were often unwilling to register complaints of domestic violence, stating cases were ‘family matters,’ frequently discouraged survivors from submitting complaints, and often pressed survivors to reconcile with abusers. Most domestic violence cases filed with authorities were either dismissed on technical grounds or transferred to a reconciliation process conducted by a justice of the peace whose focus was on preserving the family rather than punishing the perpetrator. NGOs estimated only 3 percent of such cases eventually reached the courts. Survivors of domestic violence in the North Caucasus experienced difficulty seeking protection from authorities. There were reports women defending themselves from domestic violence were charged with crimes. […]

Other Forms of Gender-based Violence or Harassment: Human rights groups reported so-called honor killings of women persisted in Chechnya, Dagestan, and elsewhere in the North Caucasus, but the cases were rarely reported or acknowledged. Local police, doctors, and lawyers often collaborated with the families involved to cover up the crimes. In parts of the North Caucasus, women and girls faced bride kidnapping, polygamy, forced marriage (including early and child marriage), legal discrimination, virginity testing before marriage, and forced adherence to Islamic dress codes. Women in the North Caucasus often lost custody of their children after the father’s death or a divorce due to traditional law that prohibited women from living in a house without a man.“ (USDOS, 23. April 2024, Section 6)