Amnesty International Report 2023/24; Zur weltweiten Lage der Menschenrechte; Venezuela 2023

Berichtszeitraum: 1. Januar 2023 bis 31. Dezember 2023

Die wirtschaftlichen und sozialen Rechte waren in Venezuela auch 2023 auf besorgniserregende Weise eingeschränkt. Der Großteil der Bevölkerung litt unter starker Ernährungsunsicherheit, und das öffentliche Gesundheitssystem drohte zu kollabieren. Die Regierung setzte humanitäre Maßnahmen nicht um, die im Jahr 2022 zur Bewältigung dieser Probleme vereinbart worden waren. Die Menschen demonstrierten für wirtschaftliche und soziale Rechte, was von den Sicherheitskräften mit rechtswidriger Gewalt und anderen repressiven Maßnahmen beantwortet wurde. Personen, die Kritik an der Regierung von Präsident Maduro äußerten, waren mit Duldung der Justiz willkürlicher Inhaftierung, Verschwindenlassen und Folter ausgesetzt. Die Regierung räumte ein, dass seit 2015 insgesamt 455 Fälle des Verschwindenlassens gemeldet worden waren, von denen die meisten noch nicht aufgeklärt wurden. Außergerichtliche Hinrichtungen durch die Sicherheitskräfte blieben straflos. Menschen wurden nach wie vor aus politisch motivierten Gründen willkürlich inhaftiert, wobei Ende 2023 jedoch einige Freilassungen erfolgten. Die UN-Ermittlungsmission zu Venezuela deckte Verbrechen gegen die Menschlichkeit auf, forderte die Untersuchung der repressiven Politik der Regierung und stellte fest, dass frühere Empfehlungen nicht umgesetzt worden waren. Der Internationale Strafgerichtshof führte seine Ermittlungen zu möglichen Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Venezuela fort, trotz der Bemühungen der Regierung, das Verfahren auszusetzen. Die Haftbedingungen wurden immer kritischer, u. a. was den Zugang zu Trinkwasser und Nahrungsmitteln anging. In der strategischen Entwicklungszone Arco Minero del Orinoco waren die Rechte der indigenen Bevölkerung nach wie vor durch illegale Bergbauaktivitäten und Gewalt bedroht. Venezolaner*innen flohen weiterhin scharenweise aus dem Land, und diejenigen, die wieder zurückgeschickt wurden, riskierten willkürliche Inhaftierungen. Der Zugang zu sexuellen und reproduktiven Gesundheitsleistungen war massiv eingeschränkt, und Schwangerschaftsabbrüche galten nach wie vor als Straftat. Gewalt gegen Frauen und Mädchen und Diskriminierung von lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans- und intergeschlechtlichen Menschen (LGBTI+) waren nach wie vor gang und gäbe.

Hintergrund

Aufgrund von Inflation und einem alarmierenden Kaufkraftschwund waren Güter und Dienste des täglichen Bedarfs kaum noch erschwinglich, was für den Großteil der Bevölkerung eine schwere humanitäre Krise bedeutete, insbesondere für Menschen außerhalb der Hauptstadt Caracas.

Die Regierung und ein Teil der politischen Opposition nahmen ihre politischen Verhandlungen wieder auf und einigten sich im Oktober 2023 auf bestimmte Bedingungen für die Wahlen 2024.

Die UN-Ermittlungsmission zu Venezuela berichtete über die gezielte Unterdrückung politischer Gegner*innen und beleuchtete die Struktur der Sicherheitsbehörden, die für außergerichtliche Hinrichtungen verantwortlich waren.

Der Streit um Gebietsgrenzen mit dem Nachbarland Guyana führte zu einer verstärkten venezolanischen Militärpräsenz entlang der Grenze, wodurch sich die Gefahr von Menschenrechtsverletzungen erhöhte. Wer Kritik an der Linie der Regierung in diesem Gebietsstreit übte, war dem Risiko strafrechtlicher Verfolgung ausgesetzt.

Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte

Auch 2023 hatten die Menschen in Venezuela keinen ausreichenden Zugang zu angemessener Ernährung, sauberem Wasser und Gesundheitsversorgung. Ende 2022 einigten sich Regierung und Opposition auf ein als Mesa Social bekanntes Abkommen, um bessere humanitäre Unterstützung für die Bevölkerung bereitzustellen. Die Vereinbarung war bis Ende 2023 jedoch noch nicht umgesetzt worden. Die Parteien verpflichteten sich darin zur Einrichtung eines humanitären Fonds aus eingefrorenen Mitteln im Ausland, der von den Vereinten Nationen verwaltet wird und zur Bewältigung der Probleme in wichtigen Bereichen wie Gesundheit, Bildung und Energieversorgung eingesetzt werden soll.

Recht auf Arbeit

Berichten zufolge wurden nach wie vor Gewerkschafter*innen und Arbeiter*innen verfolgt, eingeschüchtert, schikaniert und anderweitig angegriffen. Das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte (OHCHR) meldete für den Zeitraum Januar bis September 2023 zwölf Fälle von Kriminalisierung von Gewerkschaftsführer*innen.

Recht auf Bildung

Laut Angaben der zivilgesellschaftlichen Organisation HumVenezuela besuchten 18 Prozent der Kinder im Jahr 2023 keine Schule, und mindestens 44,8 Prozent gingen nicht regelmäßig zur Schule. Gründe waren die Unterfinanzierung und personelle Unterbesetzung der öffentlichen Schulen sowie die geringen Löhne für Lehrer*innen. Lehrkräfte setzten sich weiter für bessere Arbeitsbedingungen an den öffentlichen Schulen ein.

Recht auf Gesundheit

In 72,4 Prozent der öffentlichen Gesundheitszentren mangelte es im Jahr 2023 an Medikamenten, Geräten und Personal, und 88,9 Prozent der öffentlichen Gesundheitsdienste waren nicht funktionsfähig.

Im Oktober 2023 ergab die halbjährliche landesweite Krankenhausumfrage, dass rund 55 Prozent der öffentlichen Gesundheitseinrichtungen keinen regelmäßigen Zugang zu Wasser hatten und dass Patient*innen zu 90 Prozent ihre eigene chirurgische Ausrüstung mitbringen mussten. Aus der Umfrage ging auch hervor, dass zwischen Januar und September 2023 aufgrund von Stromausfällen in Krankenhäusern 127 Menschen starben.

Auch das OHCHR berichtete über das bröckelnde Gesundheitssystem, das von Unterfinanzierung und Personalmangel geprägt war, und gab an, dass schätzungsweise 560.660 Kinder im Alter von 12 bis 23 Monaten noch nicht gegen Masern, Mumps und Röteln (MMR) geimpft worden waren.

Nach Angaben zivilgesellschaftlicher Organisationen wurden im Gesundheitswesen Beschäftigte, die Mängel und niedrige Gehälter anprangerten, von den Behörden eingeschüchtert. Im August 2023 erkrankten zehn Kinder an Hirnhautentzündung, nachdem sie ein Medikament zur Behandlung von Leukämie eingenommen hatten, das von der staatlichen Stelle für soziale Sicherheit (Instituto Venezolano de los Seguros Sociales) des Kinderkrankenhauses J. M. de los Ríos in Caracas importiert und vertrieben wurde. Im September lehnten es die Gesundheitsbehörden ab, eine Analyse des Medikaments vorzunehmen. Bis November war ein Mädchen an den Folgen gestorben, und es lagen keine offiziellen Informationen über eine mögliche Untersuchung zur Klärung der Verantwortung für ihren Tod vor.In den Medien wurde berichtet, dass Ärzt*innenverbände eine offizielle Untersuchung dieses Falls gefordert hatten.

Rechte auf Nahrung und Wasser

Laut Angaben der gewerkschaftlichen Organisation Centro de Documentación y Análisis Social de la Federación Venezolana de Maestros (Cendas-FVM) kostete der monatliche Warenkorb mit Grundnahrungsmitteln für eine fünfköpfige Familie im Oktober 2023 ungefähr 494 US-Dollar (etwa 450 Euro). Gleichzeitig betrug der monatliche Mindestlohn gerade einmal 3,67 US-Dollar (etwa 3,37 Euro), wodurch der Großteil der Bevölkerung unter starker Ernährungsunsicherheit litt. Der Mindestlohn war seit März 2022 nicht mehr angepasst worden und hatte in der Zwischenzeit stark an Wert verloren. Bis Ende 2023 hatte sich die Lage aufgrund eines Inflationsschubs und einer weiteren Währungsabwertung weiter verschlechtert. Laut Angaben der Weltbank wies Venezuela im August 2023 die weltweit dritthöchste Inflationsrate bei Lebensmitteln auf.

Laut der zivilgesellschaftlichen Organisation HumVenezuela nahmen 25,7 Prozent der Haushalte weniger als drei Mahlzeiten pro Tag zu sich, und 22,8 Prozent aßen manchmal tagelang nichts. Außerdem hatten 74,5 Prozent aller Haushalte keinen regelmäßigen Zugang zu sauberem Trinkwasser.

Unterdrückung Andersdenkender

Die Regierung setzte die Unterdrückung kritischer Stimmen auch 2023 fort. Tatsächliche und vermeintliche politische Gegner*innen gerieten unablässig ins Fadenkreuz und mussten mit willkürlicher Inhaftierung, Folter und anderen Menschenrechtsverletzungen rechnen. Laut Angaben der Menschenrechtsorganisation Foro Penal waren im Jahr 2023 etwa 9.000 Menschen aufgrund laufender oder vergangener politisch motivierter Gerichtsverfahren in ihrer Freiheit eingeschränkt.

Die Behörden schränkten die Möglichkeiten zur politischen Beteiligung weiterhin ein. Die Oppositionspolitikerin María Corina Machado, die bei Vorwahlen im Oktober 2023 zur Kandidatin der Opposition für die Präsidentschaftswahlen 2024 gewählt wurde, darf aufgrund eines Verbots zur Ausübung öffentlicher Ämter bei der Präsidentschaftswahl offenbar gar nicht erst antreten.

Der Handlungsspielraum der Zivilgesellschaft war ständig bedroht. Im Januar 2023 wurde im Parlament eine Gesetzesvorlage zur Abstimmung eingebracht, die darauf abzielte, die Tätigkeiten und Finanzierungskanäle von NGOs zu kontrollieren und regulieren. Der Gesetzentwurf würde die Aktivitäten von NGOs noch stärker einschränken und der Regierung freie Hand geben, um Organisationen aufzulösen. Ende 2023 war das Gesetz noch nicht verabschiedet worden.

Im August 2023 wurde durch ein Urteil des Obersten Gerichtshofs der gesamte Vorstand der venezolanischen Rotkreuz-Gesellschaft abgesetzt und ein neuer Direktor eingesetzt mit dem Auftrag, die Organisation umzustrukturieren.

Im Oktober 2023 kündigte die Staatsanwaltschaft strafrechtliche Ermittlungen gegen Mitglieder der Nationalen Vorwahlkommission Comisión Nacional de Primarias an (eine nichtstaatliche Initiative zur Bestimmung einer*s Oppositionskandidat*in), was dem Zweck diente, die politische Beteiligung zu unterbinden. Im Dezember wurde Roberto Adbul, Mitglied der Kommission und Präsident der NGO Súmate, willkürlich festgenommen und nach zwei Wochen wieder freigelassen. Ende 2023 war die rechtliche Situation der Kommissionsmitglieder weiterhin unklar.

Rechte auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit

Die Rechte auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit wurden 2023 weiterhin unterdrückt. So wurde beispielsweise das Justizsystem instrumentalisiert, um Andersdenkende zum Schweigen zu bringen und Menschenrechtler*innen zu kriminalisieren.

Nach Angaben der venezolanischen NGO Observatorio Venezolano de Conflictividad Social fanden über das Jahr hinweg landesweit 6.956 Kundgebungen statt, also 19 Protestveranstaltungen pro Tag. Auf 80 Prozent dieser Kundgebungen wurden wirtschaftliche und soziale Rechte eingefordert, oft von Gewerkschaftsmitgliedern, die sich für ihre Arbeitsrechte einsetzten. Die Behörden reagierten häufig mit unnötiger und unverhältnismäßiger Gewalt sowie mit willkürlichen Inhaftierungen.

Im Juli 2023 berichtete der UN-Hochkommissar für Menschenrechte, dass die Untersuchung der Todesfälle, zu denen es bei den Protesten in den Jahren 2014, 2017 und 2019 gekommen war, von großen Verzögerungen und fehlender Rechenschaftspflicht geprägt sei.

Die venezolanische NGO Espacio Público verzeichnete von Januar bis November 2023 insgesamt 349 Angriffe auf die Meinungsfreiheit von Journalist*innen und anderen Medienschaffenden in Form von Zensurmaßnahmen, verbalen Attacken und Einschüchterungen. Im September 2023 wurde der Journalist Luis Alejandro Acosta willkürlich inhaftiert und strafrechtlich verfolgt, weil er während einer Reportage über illegales Goldschürfen im südlichen Bundesstaat Amazonas den illegalen Bergbau gefördert bzw. dazu angestiftet haben soll. Zudem wurde ihm vorgeworfen, sich in einem Schutzgebiet aufgehalten und Beihilfe zu kriminellen Handlungen geleistet zu haben. Nach 14 Tagen in Gewahrsam wurde er wieder auf freien Fuß gesetzt.

Willkürliche Inhaftierungen und unfaire Gerichtsverfahren

Die von der Regierung angeordnete willkürliche Inhaftierung von Zivilpersonen könnte ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen. Nach Angaben von zivilgesellschaftlichen Organisationen wurden zwischen 2014 und 2023 rund 15.700 Menschen willkürlich festgenommen.

Im Oktober 2023 wurde mit Unterstützung der USA und anderer Länder eine Vereinbarung zwischen dem Oppositionsbündnis Plataforma Unitaria und Vertreter*innen von Präsident Maduro ausgehandelt, die bis Ende des Jahres zur Freilassung von 26 inhaftierten Personen führte. Unter welchen Bedingungen sie freigelassen wurden, blieb jedoch unklar. Rund 280 Personen befanden sich nach Angaben lokaler Organisationen weiterhin aus politischen Gründen willkürlich in Haft.

Im Rahmen der Unterdrückung kritischer Stimmen verübten staatliche Stellen außerdem Menschenrechtsverletzungen wie Verschwindenlassen und Folter. Betroffene wurden nach ihrer Festnahme routinemäßig Gerichten (oft solchen mit Sonderzuständigkeit für Terrorismus) vorgeführt und dort wegen krimineller Vereinigung oder anderen terrorismusbezogenen Handlungen angeklagt, woraufhin man sie in polizeiliche oder militärische Untersuchungshafteinrichtungen brachte, wo sie monate- oder jahrelang festgehalten wurden. Viele der Betroffenen gaben an, gefoltert und in anderer Weise misshandelt worden zu sein. Diese Vorgehensweise verstieß gegen die Verfahrensrechte und andere Menschenrechte.

Während der Überprüfung Venezuelas durch den UN-Menschenrechtsausschuss machten die venezolanischen Behörden geltend, dass es sich nicht um Verschwindenlassen handele, wenn die Familie einer festgenommenen Person erst Stunden oder Tage später über deren Aufenthaltsort informiert werde. Im Rahmen der Überprüfung räumten die Behörden ein, dass zwischen 2015 und 2022 nur zehn von 455 Fällen mutmaßlichen Verschwindenlassens vor Gericht kamen und dass in diesen Fällen weder Informationen über den Verbleib der Opfer vorlagen noch Strafen verhängt wurden.

Im Juli 2023 wurden die Aktivisten und Gewerkschaftsführer Alcides Bracho, Gabriel Blanco, Emilio Negrín, Alonso Meléndez, Néstor Astudillo und Reynaldo Cortés von einem Gericht mit Sonderzuständigkeit für Terrorismus zu 16 Jahren Haft verurteilt. Sie waren wegen ihrer Teilnahme an friedlichen Demonstrationen willkürlich der Verschwörung und der kriminellen Vereinigung bezichtigt worden. Infolge politischer Verhandlungen wurden die sechs Männer im Dezember wieder freigelassen.

Am 30. August 2023 wurde John Álvarez, ein Student und Aktivist, willkürlich festgenommen. Seine Familie gab an, dass Angehörige der Generaldirektion für militärische Spionageabwehr (Dirección General de Contrainteligencia Militar – DGCIM) ihn gefoltert und gezwungen hätten, einen Gewerkschaftsführer und einen Journalisten zu belasten. Auch er gehörte zu der Gruppe von Personen, die im Dezember freigelassen wurden. Im Oktober 2023 wurde der seit 2020 inhaftierte Journalist und politische Aktivist Roland Carreño nach Gesprächen zwischen der Regierung und der Opposition auf freien Fuß gesetzt. Der Gewerkschafter Guillermo Zárraga wurde ebenfalls im Dezember aus der Haft entlassen.

Mehrere Personen, die aus politischen Gründen willkürlich inhaftiert waren, darunter Robert Franco und Darío Estrada, warteten Ende 2023 noch immer auf die Wiederaufnahme ihrer Verfahren. Diese waren im Juli vertagt worden, und die Sonderzuständigkeit für Terrorismus wurde plötzlich von einem Gericht an ein anderes übergeben, sodass ihre Verfahren neu aufgenommen werden mussten.

Außergerichtliche Hinrichtungen

Das OHCHR berichtete zwar im Jahr 2022, dass die Sondereinsatzkräfte der venezolanischen Polizei (Fuerzas de Acciones Especiales de la Policía Nacional Bolivariana – FAES) von den Behörden aufgelöst worden seien, dennoch wurde diese Spezialeinheit auch 2023 mit Hunderten mutmaßlichen außergerichtlichen Hinrichtungen in Verbindung gebracht. Die Ermittlungsmission zu Venezuela kam zu dem Schluss, dass die FAES effektiv durch die neue Einheit für Strategie und Taktik (Dirección de Acciones Estratégicas y Tácticas – DAET) abgelöst worden sei und mehrere Angehörige der FAES nach wie vor in der Polizei aktiv waren.

Recht auf Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung

Im Juni 2023 leitete ein argentinischer Staatsanwalt ein Ermittlungsverfahren gegen Angehörige der Nationalgarde (Guardia Nacional Bolivariana de Venezuela) ein, denen vorgeworfen wurde, während der Unterdrückung der Proteste im Jahr 2014 zwei Personen außergerichtlich hingerichtet zu haben.

Es herrschte nach wie vor Straflosigkeit für Menschenrechtsverletzungen. Die Ermittlungsmission zu Venezuela wies darauf hin, dass ihre Empfehlungen aus vergangenen Berichten nicht umgesetzt worden seien und dass das Justizsystem instrumentalisiert werde, um Sicherheitsbehörden, die an schweren Menschenrechtsverletzungen beteiligt waren, nicht zur Rechenschaft zu ziehen.

Im Juni 2023 beauftragte die Vorverfahrenskammer des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) die Anklagebehörde des IStGH, die Ermittlungen zu mutmaßlichen Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Venezuela wieder aufzunehmen. Venezuela legte daraufhin eine Beschwerde bei der Berufungskammer ein, über die Ende 2023 noch nicht entschieden worden war.

Ende des Jahres kündigte der UN-Sonderberichterstatter zum Recht auf Nahrung einen Besuch in Venezuela an. Andere Sonderberichterstatter*innen und Überwachungsorgane der Vereinten Nationen hatten hingegen trotz anderslautender Zusagen der venezolanischen Regierung aus dem Jahr 2019 noch immer keine offiziellen Einladungen erhalten. Auch die Ermittlungsmission zu Venezuela hatte Ende 2023 noch keinen Zutritt zum Land erhalten.

Unmenschliche Haftbedingungen

Die Bedingungen in Gefängnissen und Haftanstalten verschlechterten sich 2023 weiter, u. a. durch Überbelegung und unzureichende Versorgung mit Nahrungsmitteln und Wasser. Die Inhaftierten waren für lebenswichtige Bedarfsgüter auf ihre Familienangehörigen angewiesen. Nach wie vor wurden Menschen für unverhältnismäßig lange Zeiträume auf Polizeiwachen und in anderen rechtswidrigen Hafteinrichtungen festgehalten.

Berichten zufolge war der Zugang zu Gesundheitsdiensten und medizinischer Behandlung in Haftanstalten nicht ausreichend gewährleistet, was das Leben der Gefangenen gefährdete. Die Geschäftsfrau Emirlendris Benítez befand sich nach wie vor aus politischen Gründen willkürlich in Haft und hatte trotz schwerer Erkrankungen keinen Zugang zu medizinischer Versorgung.

Weibliche Inhaftierte wurden unter unmenschlichen Bedingungen und ohne Zugang zu geschlechtsspezifischen Einrichtungen und Diensten festgehalten.

Während der Überprüfung durch den UN-Menschenrechtsausschuss räumte Venezuela ein, dass Sicherheitskräfte keine Kontrolle über sechs Gefängnisse hätten, da diese von den Inhaftierten kontrolliert würden. Nach einem Sicherheitseinsatz im September 2023 begann die Regierung, die Gefängnisse in Tocorón, Tocuyito Puente Ayala, Trujillo, La Pica, Vista Hermosa und San Felipe wieder unter ihre Kontrolle zu bringen.

Rechte indigener Gemeinschaften

Illegale Bergbauaktivitäten in der Region Arco Minero del Orinoco im südlichen Bundesstaat Bolívar zogen auch 2023 schwere menschenrechtliche Folgen nach sich und beeinträchtigten insbesondere die Rechte indigener Gemeinschaften auf Selbstbestimmung, eine gesunde Umwelt sowie freie, vorherige und informierte Zustimmung.

Mehr als ein Jahr nach dem Mord an dem indigenen Menschenrechtsverteidiger Virgilio Trujillo Arana, der sich für Landrechte einsetzte und im Juni 2022 erschossen wurde, war noch immer niemand für die Tat zur Rechenschaft gezogen worden. Seine Angehörigen gaben an, von Unbekannten bedroht zu werden.

Im September 2023 berichteten Menschenrechtsverteidiger*innen, dass Militärkräfte in den Yapacana-Nationalpark im Süden des Landes einmarschiert und mit exzessiver Gewalt gegen Personen vorgegangen seien, die dort illegal Bergbau oder Landwirtschaft betrieben. Das Verteidigungsministerium räumte ein, dass dabei zwei Menschen starben und drei verletzt wurden. Laut Angaben des Ministeriums seien zudem 12.000 Personen aus der Gegend vertrieben worden, viele von ihnen Indigene. Zivilgesellschaftliche Organisationen gaben jedoch an, dass bei dem Einsatz mindestens zehn Menschen getötet wurden.

Menschenrechtsverteidiger*innen

Der Menschenrechtsverteidiger und Leiter der venezolanischen NGO FUNDAREDES, Javier Tarazona, befand sich nach wie vor als gewaltloser politischer Gefangener willkürlich in Haft, nachdem er 2021 wegen terrorismusbezogener Vorwürfe festgenommen worden war.

Die Organisation Centro para los Defensores y la Justicia verzeichnete von Januar bis November 2023 insgesamt 524 Drohungen gegen Menschenrechtler*innen, u. a. mittels Verleumdungskampagnen und Stigmatisierung durch regierungstreue Medien und in den Sozialen Medien.

Rechte von Flüchtlingen und Migrant*innen

Bis Ende 2023 waren mehr als 7,72 Mio. Menschen aus Venezuela geflohen. Im Oktober 2023 wurden die Abschiebeflüge aus den USA nach Venezuela wieder aufgenommen, und bis zum Jahresende waren 928 Personen abgeschoben worden. Im November wurden mindestens 155 Venezolaner*innen aus Island abgeschoben, nachdem ihre Asylanträge offenbar abgelehnt worden waren. Berichten zufolge wurden sie bei ihrer Ankunft in Venezuela festgenommen.

Im November 2023 empfahl die Interamerikanische Menschenrechtskommission den Ländern in der Region Amerika, Geflüchtete aus Venezuela als Flüchtlinge aufzunehmen.

Rechte von Frauen und Mädchen

Frauen und Mädchen hatten auch 2023 nur eingeschränkten Zugang zu angemessener Ernährung sowie Wasser und Sanitäreinrichtungen. Der Ausschuss zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) stellte fest, dass die schlimme humanitäre Lage, die in Venezuela seit 2015 herrschte, ganz spezielle Nachteile für Frauen und Mädchen mit sich brachte. So waren Frauen vermehrt dem Risiko wirtschaftlicher Abhängigkeit in von Missbrauch geprägten Beziehungen ausgesetzt und liefen stärker Gefahr, Opfer von geschlechtsspezifischer Gewalt zu werden.

Sexuelle und reproduktive Rechte

Der CEDAW-Ausschuss zeigte sich besorgt über die Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen und über Berichte von Zwangssterilisierungen. Moniert wurde zudem der eingeschränkte Zugang zu modernen Verhütungsmitteln und zu sexuellen und reproduktiven Gesundheitsleistungen sowie die Tatsache, dass Letzteres zu einer hohen Müttersterblichkeitsrate führte.

Die anhaltende humanitäre Notlage im Land beeinträchtigte die sexuellen und reproduktiven Gesundheitsleistungen und erschwerte Frauen und Mädchen somit weiterhin die Wahrnehmung ihrer sexuellen und reproduktiven Rechte.

Gewalt gegen Frauen und Mädchen

Der CEDAW-Aussschuss äußerte Besorgnis über das hohe Ausmaß an geschlechtsspezifischer Gewalt, darunter Femizide, Fälle des Verschwindenlassens sowie psychische und sexualisierte Gewalt gegen Frauen und Mädchen. Zudem kritisierte der Ausschuss, dass bei der Untersuchung von Femiziden kein gendersensibler Ansatz verfolgt wurde, dass es landesweit nur fünf Notunterkünfte für Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt gab und dass keine statistischen Daten über geschlechtsspezifische Gewalt erhoben wurden.

Während der Überprüfung durch den UN-Menschenrechtsausschuss im Oktober 2023 gab der Vertreter Venezuelas an, dass in 95 Prozent aller Femizid-Ermittlungen eine Verurteilung erfolgt sei und dass zwischen 2016 und 2023 knapp 1.700 Anzeigen wegen Femizids zu strafrechtlicher Verfolgung geführt hätten.

Die lokale zivilgesellschaftliche Organisation Centro de Justicia y Paz meldete 201 mutmaßliche Femizide für den Zeitraum Januar bis September 2023.

Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intergeschlechtlichen (LGBTI+)

Lesbische, schwule, bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche Menschen waren auch 2023 von Diskriminierung betroffen. Im Juli wurden 33 Männer aufgrund ihrer sexuellen Orientierung willkürlich festgenommen und von Polizisten misshandelt. Ihre Identität wurde in den Medien preisgegeben. Nach drei Tagen wurden 30 von ihnen wieder auf freien Fuß gesetzt, die übrigen drei Männer wurden zehn Tage lang festgehalten und dann unter gerichtlicher Aufsicht freigelassen. Ihnen drohten Verfahren wegen "Unsittlichkeit" und "Lärmbelästigung".

Recht auf eine gesunde Umwelt

Ende 2023 hatte Venezuela das Regionale Abkommen über den Zugang zu Informationen, Teilhabe und Gerechtigkeit in Umweltangelegenheiten in Lateinamerika und der Karibik (Escazú-Abkommen) weder unterzeichnet noch ratifiziert. Das Bestreben der Regierung, die Ölproduktion zu steigern, stand im Widerspruch zu ihren international eingegangenen Verpflichtungen über die Reduzierung der Treibhausgasemissionen.

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