Amnesty International Report 2023/24; Zur weltweiten Lage der Menschenrechte; Deutschland 2023

Berichtszeitraum: 1. Januar 2023 bis 31. Dezember 2023

Die Rechenschaftspflicht bei diskriminierenden Übergriffen durch die Polizei wurde durch das Fehlen wirksamer, unabhängiger Beschwerdemechanismen behindert. Mehrere Proteste in Solidarität mit den Rechten von Palästinenser*innen wurden präventiv verboten. Fälle von Präventivgewahrsam gegen Klimaaktivist*innen gaben Anlass zu zahlreichen Bedenken im Hinblick auf Menschenrechtsverletzungen. Politisch motivierte Razzien und Angriffe in Flüchtlingsaufnahmezentren nahmen deutlich zu. Ein Gericht verurteilte die Regierung wegen Verstoßes gegen das Bundesklimaschutzgesetz.

Im Mai 2023 meldete das Bundesinnenministerium, dass die Zahl der Fälle "politisch motivierter Kriminalität" im Vorjahr einen neuen Höchststand erreicht hatte. Jeden Tag wurden etwa sieben antisemitische Hassverbrechen begangen. Zugenommen haben auch Fälle von Hasskriminalität gegen Rom*nja und Sinti*zze (33 %), Straftaten gegen Menschen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung (15 %) sowie Straftaten aufgrund von Rassismus (14 %), "Ausländerfeindlichkeit" (13 %) und "Fremdenfeindlichkeit" (9 %). Die drei letztgenannten Arten von Straftaten kamen dabei in absoluten Zahlen betrachtet weiterhin am häufigsten vor. Laut dem im Juni vorgelegten Bericht des Unabhängigen Expertenkreises Muslimfeindlichkeit war antimuslimischer Rassismus in der deutschen Gesellschaft weit verbreitet. Nach den Hamas-Anschlägen in Israel am 7. Oktober 2023 und der anschließenden israelischen Bombardierung und Bodeninvasion im Gazastreifen berichteten zivilgesellschaftliche Organisationen über einen Anstieg antisemitischer Angriffe gegen jüdische Personen und Einrichtungen sowie über einen Anstieg rassistischer Angriffe gegen Muslim*innen.

Im Oktober 2023 stellte eine Studie der Agentur für Grundrechte zu Rassismus in der EU fest, dass Deutschland eines der beiden Länder war, in denen Menschen afrikanischer Abstammung am häufigsten rassistische Diskriminierung erfuhren. Ein von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziertes Forschungsprojekt ergab, dass sich 33 Prozent der Befragten in Interaktionen mit der Polizei diskriminiert fühlten. Marginalisierte Gruppen wie rassifizierte Menschen, LGBTI+ und obdachlose Menschen hatten ein besonders hohes Risiko, diskriminiert zu werden, zugleich war die Wahrscheinlichkeit, dass sie Beschwerden vorbrachten, geringer.

Der Europarat beschloss eine verstärkte Überwachung (enhanced supervision) der Umsetzung des Urteils Basu gegen Deutschland, das sich auf unzureichende Ermittlungen zu Vorwürfen des Racial Profiling bezog. Das Fehlen wirksamer, unabhängiger Beschwerdemechanismen sowie einer obligatorischen Kennzeichnungspflicht für alle Polizeibeamt*innen auf Bundes- und Landesebene behinderte weiterhin Untersuchungen von Vorwürfen über Menschenrechtsverletzungen durch die Polizei.

Lesbische, schwule, bisexuelle, trans und intergeschlechtliche Menschen

Im März 2023 wurde eine Änderung des Transfusionsgesetzes verabschiedet, mit der der diskriminierende Ausschluss von schwulen und bisexuellen Männern sowie von trans Personen von der Blutspende aufgehoben wurde. Das Parlament erörterte ein neues Selbstbestimmungsgesetz, das es trans, nicht-binären und intergeschlechtlichen Menschen ermöglichen soll, durch eine einfache Erklärung beim Standesamt die rechtliche Anerkennung ihres Geschlechts zu erhalten.

Geschlechtsspezifische Gewalt

Nach Zahlen, die das Bundeskriminalamt im Juli vorlegte, wurden im Jahr 2022 mehr Fälle von geschlechtsspezifischer Gewalt registriert als in den fünf Jahren zuvor. Jede Stunde wurden mehr als 14 Frauen Opfer von Partnerschaftsgewalt. Fast jeden Tag versuchte ein Partner oder Ex-Partner, eine Frau zu töten.

Seit dem 1. Oktober 2023 gelten "geschlechtsspezifische" und "gegen die sexuelle Orientierung gerichtete" Tatmotive laut Strafgesetzbuch ausdrücklich als strafverschärfend.

Recht auf Versammlungsfreiheit

Im Mai 2023 verhängte die Berliner Versammlungsbehörde unter Verletzung des Rechts auf Versammlungsfreiheit präventiv pauschale Verbote für Demonstrationen in Solidarität mit den Rechten von Palästinenser*innen rund um den Nakba-Gedenktag. Die Begründungen für die Verbote verstießen zudem gegen das Recht auf Nichtdiskriminierung, da sie auf stigmatisierenden und rassistischen Stereotypen über Menschen beruhten, die als arabisch oder muslimisch wahrgenommen werden. Außerdem wurden nach dem 7. Oktober zahlreiche Palästina-solidarische Demonstrationen präventiv verboten. Die Medien berichteten im Zusammenhang mit Palästina-solidarischen Demonstrationen von unnötiger und unverhältnismäßiger Gewaltanwendung durch die Polizei, Hunderten von Festnahmen und verstärktem Racial Profiling von Menschen, die als arabisch oder muslimisch wahrgenommen werden.

Im Vorfeld der internationalen Automobilmesse im September 2023 wurden mindestens 27 Klimaaktivist*innen nach Paragraf 17 des bayerischen Polizeiaufgabengesetzes für bis zu 30 Tage in Präventivgewahrsam genommen. Dieser erlaubt es der Polizei, Personen festzunehmen, ohne dass ein konkreter Verdacht auf eine Straftat besteht oder ein Strafverfahren eingeleitet wird.

Es gab mehrere Medienberichte über unverhältnismäßige Gewaltanwendung durch die Polizei bei Einsätzen während friedlicher Versammlungen. Unter anderem wandte sie Schmerzgriffe gegenüber Klimaaktivist*innen an, um von ihnen durchgeführte Straßenblockaden aufzulösen.

Staatsanwaltschaften in zwei Bundesländern ermittelten gegen Gruppen von Klimaaktivist*innen nach Paragraf 129 des Strafgesetzbuchs und warfen ihnen die Bildung einer kriminellen Vereinigung vor. Diese Ermittlungen umfassten umfangreiche Durchsuchungs- und Überwachungsmaßnahmen, einschließlich der Überwachung eines Pressetelefons und der Beschlagnahme personenbezogener Daten von Unterstützergruppen, was eine abschreckende Wirkung auf friedliche Proteste hatte.

Recht auf Meinungsfreiheit

Nach dem 7. Oktober wurden verschiedene Maßnahmen verhängt, die das Recht auf freie Meinungsäußerung einschränkten, insbesondere gegen Personen, die Solidarität mit Palästinenser*innen zum Ausdruck brachten. Im November verbot das Bundesinnenministerium die Parole "From the river to the sea" als Kennzeichen der Hamas, obwohl sie in der Vergangenheit mit einer Vielzahl unterschiedlicher Bedeutungen und von verschiedenen Akteur*innen verwendet wurde.

Recht auf Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung

Im Februar 2023 äußerten sieben Sonderberichterstatter*innen der Vereinten Nationen große Besorgnis angesichts des Vorwurfs, es fehle an wirksamen Wiedergutmachungsmaßnahmen für die Ovaherero und Nama in der ehemaligen deutschen Kolonie "Südwestafrika" (heute Namibia). Diese umfasst auch die fehlende "uneingeschränkte Anerkennung des während der Kolonisierung zwischen 1904 und 1908 an ihnen begangenen Völkermordes".

Rechte von Flüchtlingen und Migrant*innen

Im Jahr 2023 lebten 1,1 Millionen Menschen aus der Ukraine in Deutschland, von denen etwa 900.000 eine Aufenthaltserlaubnis nach der Richtlinie zum vorübergehenden Schutz besaßen. Deutschland startete im Oktober 2022 ein humanitäres Aufnahmeprogramm für gefährdete Afghan*innen. Ursprünglich sollten 1.000 Menschen pro Monat aufgenommen werden, doch bis Mitte Dezember 2023 waren lediglich 94 afghanische Staatsangehörige nach Deutschland eingereist.

Übergriffe und politisch motivierte Straftaten, darunter insbesondere Gewaltdelikte, Beleidigungen und Angriffe auf Flüchtlinge und Flüchtlingsunterkünfte, nahmen 2023 im Vergleich zu 2022 deutlich zu. Die Mehrzahl der Angriffe wurde mutmaßlich von rechtsextremen Täter*innen verübt. Die Verfahren zur Familienzusammenführung von Flüchtlingen in Deutschland verliefen weiterhin schleppend, sodass viele Familien auch nach Jahren noch getrennt waren.

Die Familienzusammenführung für subsidiär Schutzberechtigte ist kontingentiert und liegt im Ermessen der Verwaltung.

Recht auf Privatsphäre

Im Februar 2023 setzte das Bundesverfassungsgericht hohe Hürden für die Nutzung automatisierter Datenanalysen durch die Polizei und urteilte, dass diese Analysen in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung eingreifen.

Unternehmensverantwortung

Am 1. Januar 2023 trat das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz in Kraft, das Unternehmen dazu verpflichtet, die Menschenrechte zu achten. Das Gesetz gilt nur für Unternehmen ab 3.000 Angestellten, ab 2024 für Unternehmen ab 1.000 Angestellten. Durch das Gesetz entsteht keine zivilrechtliche Haftung.

Sexuelle und reproduktive Rechte

Im März 2023 wurde eine Kommission eingesetzt, um die Themen "reproduktive Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin" zu erörtern. Trotz des Drängens des UN-Frauenrechtsausschusses (CEDAW) im Mai wurden keine Änderungen vorgeschlagen, um den Schwangerschaftsabbruch vollständig zu entkriminalisieren und ihn mit den internationalen Menschenrechtsstandards und den neuen WHO-Leitlinien in Einklang zu bringen.

Recht auf eine gesunde Umwelt

Im Juni 2023 beschloss das Kabinett eine Novelle des Klimaschutzgesetzes. Diese sieht vor, die verbindlichen Sektorziele zur Emissionsreduktion abzuschaffen und damit einhergehend die Pflicht, Sofortprogramme bei ihrer Nichteinhaltung vorzulegen. Ein Urteil des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg im November bestätigte, dass die Sektorziele für den Bau- und Verkehrssektor 2021 und 2022 verfehlt wurden.

Trotz Deutschlands selbst auferlegter Verpflichtung, ab 2022 die Finanzierung internationaler Projekte für fossile Brennstoffe zu beenden, genehmigten staatliche Förderbanken 2023 die Finanzierung von mindestens drei Projekten.

Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte

Im April 2023 ratifizierte Deutschland das Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte. Seit dem 20. Juli können daher Einzelbeschwerden beim Ausschuss für den Pakt eingereicht werden.

Unverantwortliche Rüstungsexporte

Die Bundesregierung führte "Allgemeine Genehmigungen" für den Export von bestimmten Rüstungs- und Dual-Use-Gütern ein. Diese ersetzen Einzelfallentscheidungen, reduzieren zusätzlich die Transparenz und können zu unverantwortlichen Rüstungsexporten beitragen.

Deutschland stellte Genehmigungen für Exporte aus, die ein hohes Risiko für die Menschenrechte und das humanitäre Völkerrecht darstellen, darunter Ausfuhren nach Saudi-Arabien und in die Vereinigten Arabischen Emirate. Trotz sich häufender Beweise für unrechtmäßige Angriffe durch die israelischen Streitkräfte auf Zivilpersonen und zivile Objekte im besetzen Gazastreifen stellte Deutschland weiterhin Genehmigungen für den Export von Rüstungsgütern nach Israel aus.

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